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Nazis raus aus dem Internet

 

08.04.05

Vom aufrichtigen Erinnern und Gedenken

Vortrag anlässlich der Sitzung des Internationalen Rombergpark-Komitees

Dortmund, Rathaus am 24. März 2005

Von Prof. Kurt Pätzold, Berlin

Die geistigen Auseinandersetzungen auf dem Wege zum 60. Jahrestag der Befreiung hat ein Historiker, Norbert Frei, bis vor kurzem lehrend in Bochum, nun in Jena tätig, eine "Erinnerungsschlacht" genannt. Der Begriff wirft fragen auf: Wer erinnert sich hierzulande. Und Woran? Und Warum? Zu erinnern vermag sich an die Ereignisse des Frühjahrs 1945 im eigentlichen Sinne des Wortes nur eine Minderheit der deutschen Bevölkerung der Bundesrepublik, insgesamt etwa 10 Prozent ihrer Einwohner. Die übergroße Mehrheit hingegen kann sich, wenn sie dazu bereit ist, Wissen über und Verständnis für diese Zeit, die ihre Eltern, Großeltern und nun schon Urgroßeltern erlebten, aneignen. Das wird sie nur tun, wenn sie meint oder davon überzeugt werden kann, dass dies von einigem Nutzen für sie selbst sein könnte. Und dann Schlacht! Wer trägt sie gegen wen aus? Und mit welchen Zielen? Die Geschichtsversessenen gegen die Geschichtsvergessenen? Von beiden ist mit Bezug auf Deutschland die Rede. Geht es um eine Annäherung an die geschichtliche Wirklichkeit und Wahrheit? Gegen deren Vernebelung oder Verklärung? Wer spielt dabei welchen Part? Wer bedient sich dieser, wer jener Mittel und Methoden? Mehr Fragen, als sich in einem halbstündigen Vortrag beantworten lassen. 

Unbezweifelbar ist, dass durch Presse, Fernsehen und Filmproduktionen, durch eine erhebliche Menge von Büchern die Aufmerksamkeit von Millionen, im Ganzen aber wohl einer starken Minderheit von Deutschen, auf die Geschehnisse der ersten vier Monate des Jahres 1945 gelenkt werden. Kein Abend, an dem nicht auf irgendeinem Sender ein Spiel- oder Dokumentarfilm oder eine Mischung aus beiden gezeigt wird, dessen Gegenstand Ereignisse dieses Jahres sind. Kein Tag, da Zeitungen und Zeitschriften nicht von diesem oder jenem geschichtlichen Ablauf oder Vorkommnis berichten. Doch nur selten kann das Präsentierte den Anspruch der Aufklärung erheben. Vieles gehört in den Bereich bloßer Unterhaltung, lenkt ab vom Alltag, hilft Zeit totschlagen, erzeugt Gruseln oder Kopfschütteln. Die heutige Ausgabe der Westfälischen Rundschau liefert dafür einen weiteren Beweis. Sie druckt einen der vielen Artikel, die momentan nach dem Erscheinen eines entsprechenden Buches der Frage gelten: Besaß Hitler die Bombe, das meint Atomwaffen? (Woran sich dann Überlegungen knüpfen lassen wie: Hätte nicht doch ...) Und in einer Vorankündigung eines 10-teiligen Fernsehfilms ist zu lesen: "Eine Serie die unter die Haut geht", was doch heißt,  die Hersteller zielen auf die Gefühlswelt der Zuschauer und nicht auf deren Köpfe und Gehirne. Und in der Tat, wird weiter geschrieben: "Krieg wird gezeigt, wie er ist - brutal, grausam, menschenverachtend. Hier gibt es keine Sieger, hier gibt es nur Verlierer." Und schon einleitend und kritiklos wird mitgeteilt: "Große geschichtliche Zusammenhänge sucht man hier vergebens." Wahrlich: So ist die Dutzend- und die Massenware beschaffen. Zusammenhänge werden nicht erfragt, Ursachen und Wirkungen zumeist im Dunkeln gelassen, jedenfalls nicht ausgelotet. Geschichte erscheint als eine Mischung individuellen Erlebens, aus dem jeder seine geschichtliche Wahrheit bezieht. 

Das Fazit wurde in der Neuen Züricher Zeitung vom 16. Februar 2005 treffend zusammen gefasst: "Nur darf man sich keine Illusionen über die Geschichtskenntnisse machen. Die deutsche Öffentlichkeit hat keinen scharfen Begriff vom NS-System, ihre klaren moralischen Verdikte beruhen nicht aus ebenso klaren Einblicken in Genese und Funktion der nationalsozialistischen Herrschaft. Der derzeitige Trend zum individuellen Opfergedenken ist nicht frei von einer gewissen Privatisierung und man könnte sich fragen, ob und wie wohl diese Privatisierung irgendwann auf das offizielle Geschichtsbild zurückschlägt."  Nun wächst das Erinnern der Zeitgenossen des Kriegsendes, der heute Siebzig- und Achtzigjährigen, aus einem natürlichen Bedürfnis hervor. Sie blicken auf ihr Leben zurück und manche möchten mit sich ins Reine kommen, ihre Gedanken ordnen, Herr ihrer Gefühle werden. Was sie betrifft, liegen Motive zu tage. 

Wie steht es aber mit den Nachgeborenen, die sich ernsthaft mit den Zeiten befassen, die sie zu ihrem Glück nicht erlebt haben? Da mögen die Antriebe vielfältiger sein. Einer könnte darin bestehen, dass sie von dem Wissen oder auch nur der Ahnung geleitet oder beschlichen werden, dass diese Zeiten nicht so fern sein können, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Kriege, so fern sie auch von den deutschen Grenzen und von Europa geführt werden mögen oder drohen, dazu die Erklärung der einzigen Supermacht des Erdballs, dieses oder jenes Regime disziplinieren zu wollen, verbunden mit militärischen Drohungen, richten das Fragen an Vergangenes, rücken es den Heutigen wieder näher.

Vor 10 Jahren, als des 50. Jahrestags des Kriegsendes gedacht wurde, meinten manche, das werde das letzte Mal sein, dass sich so viel Aufmerksamkeit den Maitagen 1945 zuwenden würde. Weit gefehlt. In diesem Jahr 1995 wurde die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1945" gezeigt, die dann in mehr als einem halben Hundert Städten der Bundesrepublik und auch in Österreich zu sehen war und in die Hunderttausende strömten, was zusätzlich durch die heftigen, auch auf Straßen und Plätzen ausgetragenen Meinungen über ihren Inhalt bewirkt wurde. Was Historiker mit ihren Publikationen nicht bewirkt hatten, gelang. Es veränderte sich das Bild von den deutschen Verbrechen in den besetzten Ländern und es konnte nicht länger bezweifelt werden, dass es nicht die SS allein gewesen war, die sie verübt hatte. Polizeibataillone, Wehrmachts- und andere militärische Einheiten waren an ihnen beteiligt. Das war, wie gesagt keine Entdeckung und in Büchern konnte das zuvor längst beweiskräftig nachgelesen werden. Doch war es dort, weil unbequem, lästig und das Selbstverständnis vieler erledigend, nicht zur Kenntnis genommen worden. Die Rede kam auf die deutschen Täter, ein Wort, das auch Missverständnisse erzeugte und Chancen zur Gleichmacherei ließ. Hinggen hatten die Alliierten gegen Kriegsende aus guten Gründen solche Nivellierungen vermieden. Es gab eine ganze Skala von Bezeichnungen für den zu unterscheidenden Grad an Beteiligung, an m Belastung mit Verantwortung und Schuld, sie reichte von den Hauptkriegsverbrecher bis zu den Minderbelasteten und den Mitläufern und eben auch Widerstandskämpfer. Nun aber entstand so etwas wie ein Täterbrei und von dem ging es konsequent zum Opferbrei. Denn die Geschichtsdebatte in Deutschland veränderte sich 2002 grundlegend. Sie wechselte die Perspektive. Den Anstoß dafür gab die Besinnung auf die Stalingrader Schlacht, deren Beginn sich im Sommer dieses Jahres zum 60. Male jährte. Nahezu gleichzeitig erschien "Der Brand", das zum Bestseller hochgespielte Buch über den Bombenkrieg über Deutschland. Andere Veröffentlichungen befassten sich mit dem Geschehen unter dem Stichworten Flucht und Vertreibung. Keines dieser Themen war neu. Der behauptete Tabubruch war eine Legende, mehr noch, eine glatte Lüge, denn die von ihm sprachen, sei es aus Reklame- oder aus politischen Gründen, wussten es besser.

Niemand hatte den Deutschen in den Jahren vorher das Recht bestritten, sich ihrer Opfer zu erinnern. Zu nehmen war es ihnen ohnehin nicht. Und sie - wir - hatten dazu der Gründe viele, millionenfach. Denke ich darüber nach, wer mir selbst und zuerst einfällt, wenn von den deutschen Opfern von Faschismus und Krieg in den Sinn kommt, dann sind es Kinder im Vorschulalter, die 1945 in einem Kinderheim auf dem Thüringer Wald lebten. Sie waren irgendwo aufgriffen worden, hatten ihre Eltern im Chaos der Endphase des Krieges verloren. Manche wussten ihre Namen nicht und hatten, damit sie angesprochen und gerufen werden konnten, Namen erst erhalten. Sie gehörten zu jenen Deutschen, von denen sich uneingeschränkt sagen ließ, sie waren an dem, was ihnen an Schrecklichem widerfahren war, ohne jede Schuld. Für die Mehrheit der Deutschen aber galt das nicht. Sie erfuhren in jenem letzten Kriegsjahr drastisch und mehr als in allen voraufgegangenen, dass die Geschichte ihre Zahltage kennt.

Es geht folglich nicht darum, die Existenz der Millionen deutscher Opfer zu ignorieren, sie klein zu reden, zu marginalisieren oder sie zu Kriegsopfern zweiter Klasse zu erklären. Doch hat es mit ihnen eine besondere Bewandtnis, die aufklärt werden muss aus einem doppelten Grunde. Zum einen aus Respekt vor eben diesen Opfern, zum anderen mit Rücksicht auf uns selbst, denn das Anrichten eins Opferbreis ist einzig geeignet, Gehirne zu verkleistern, während es doch darum zu tun sein muss, Gedanken zu schärfen. Soll also dieses Gedenken an die deutschen Toten des Zweiten Weltkrieges nicht einen bitter unangenehmen Beigeschmack haben oder auch in bloßem Betroffensein (um die Lieblingsvokabel derer zu zitieren, die einzig auf ihr und unser Seelenheil zielen), dann muss von Zusammenhängen die Rede sein. 

  1. Aufrichtig ist das Gedenken nur, wenn beim Blick auf die Opfer von Faschismus und Krieg nicht daran vorbeigesehen wird, dass deren lange Reihe mit jenen zumeist aus Arbeiterkreisen stammenden Antifaschisten beginnt, die  sich in den Jahren der Weimarer Republik den aufkommenden Faschisten entgegenstellten, nicht immer mit angemessenen Mitteln, aber immer in der Absicht, nicht nur für sich selbst ein Unheil abzuwenden. Es ist falsch und unredlich, diese Konfrontationen und deren Opfer als bloße Händel von politisch extremen Gruppen abzutun. Diese erste Reihe der Opfer setzt sich nach dem 30. Januar 1933 fort. In sie gehören Kommunisten,. Sozialisten, Sozialdemokraten und andere Gegner des sich etablierenden Regimes. Diese Reihe wurde in den Vorkriegsjahren lang und länger, in Jahren, in denen die Mehrheit der Deutschen eben dieses Regime unterstützte oder sich mit ihm arrangierte und abgefunden hatte.
  2. Aufrichtig ist das Gedenken an die deutschen Opfer nur, wenn auch davon gesprochen wird, dass diese Mehrheit sich nach 1933 und eben bis in da Ende des Krieges hinein, die einen freiwillig und begeistert, die anderen widerwillig und widerstrebend, zu Instrumenten einer Diktatur gemacht hatte, die einem krieg entgegen steuerte und ihn dann gegen nahezu ganz Europa und die USA führte. Für Millionen begann diese Rolle bereits in den Jahren der Weltwirtschaftskrise. 38 Prozent der Deutschen wählten im Hochsommer 1932 die NSDAP und setzten auf diesen Hitler. Mehr als 50 Prozent waren es in  den norddeutschen, evangelisch dominierten Landen, aber auch in katholisch geprägten Gebieten war die Gefolgschaft teils erschreckend hoch. In Pforzheim, der Stadt, die im Februar 1945 zehn Tage nach Dresden in einen Trümmerhaufen verwandelt wurde, gaben damals 45 Prozent der Wähler den Nazis ihre Stimme, absolut etwa so viele, wie dann im Bombenhagel umkamen. Der deutsche Faschismus und sein Führer wäre für diejenigen, die ihn an die Staatsmacht brachten, das waren nicht die Wählerstimmen, völlig uninteressant gewesen, ohne diesen Millionenanhang Und noch im Jahre 1933, viel rascher als es Mussolini in Italien gelungen war, hatte sich eine klare Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter die "nationale Regierung" gestellt, was vor allem durch Zutreiberdienste von bürgerlichen Parteien, vielerlei Organisationen und Vereinigungen und auch der großen Kirchen bewirkt worden war. Und dieser Faschismus hätte den Weg in den Krieg, so wenig seine Anhänger ihn wollten, nicht gehen können, wäre er nicht seiner Macht im Innern so sicher gewesen, wie er es angesichts der Volksstimmung sein konnte. Die Deutschen waren in ihrer Mehrheit, bevor auch sie Opfer des Faschismus wurden, dessen Instrumente gewesen. Und jenes hat dieses nicht aufgehoben oder gar aufgewogen, wenn die Deutschen nach 1945 auch massenhaft meinten, sie wären durch die Ereignisse selbst bestraft genug und hätten so gebüßt, dass über das Davor nicht mehr geredet werden müsse.
    Zur Erinnerung an die Opfer gehört unablösbar der Gedanke, dass die Mehrheit der Deutschen in den Jahren von 1939 bis 1945, als sie nahezu ganz Europa mit Krieg überzogen und auf dem Wege waren, diesen Kontinent unter das Hakenkreuz zu zwingen, die schändlichste Rolle spielten, die sie je in ihrer Geschichte eingenommen und ausgefüllt hatten. Dieses Land war auf den tiefsten Punkt seines intentionalen Ansehens heruntergewirtschaftet worden, nicht von Hitler allein, nicht nur von den Führern der zivilen und militärischen Eliten, sondern unter Mitwirkung von Hunderttausenden und Millionen Deutscher aller Klassen und Schichten. Schon 1933 dichtete Bert Brecht: Oh Deutschland, bleiche Mutter, wie sitzt du besudelt unter den Völkern. Und als sowjetische Truppen 1944 die Reichsgrenze erreichten, richteten sie Schilder auf, auf denen in kyrillischer Schrift zu lesen stand: Hier beginnt das verfluchte Deutschland.  
    Der Sinn des Wortes Befreiung der Deutschen ist mit dem Verweis auf das Ende der Schrecken des Bombenkrieges, auf die Befreiung der Insassen von KZ und Zuchthäusern, des Endes der an die Soldaten gerichteten Befehle, sich in erneute Schlachten und den Tod zu stürzen, nicht ausgefüllt. Befreiung - das bedeutete aktuell wie geschichtlich, dass für die Deutschen eben diese Rolle, anderen Völkern "eine Furcht" (Brecht) zu sein, zu Ende ging, ohne, das gilt für die übergroße Mehrheit, ihr eigenes Zutun.  
  3. Aufrichtig ist das Gedenken an die deutsche Opfer von Faschismus und Krieg folglich nur, wenn es nicht zur nationalen Nabelschau verkommt. Als die Mehrheit der Deutschen vom Kriege noch kaum etwas merkte und meinte, er würde ganz anders verlaufen als der Erste Weltkrieg, befanden sich Polen, bald darauf Franzosen auf der Flucht vor der von den Wehrmachtstruppen erzeugten Kriegswalze, gingen Bomben der Stukas auf Menschen unseres östlichen Nachbarn nieder, begannen in dessen Städten Massaker. Dann entlud sich der Bombenhagel auf London und andere britische Städte. Es folgte der unprovozierte Einfall in die Sowjetunion mit den unvorstellbaren Folgen an Toten, Ermordeten, Verhungerten, an Zerstörungen. Wer nur an das Kriegsleid der eigenen denkt, wer auf Reisen nur auf deutsche Soldatenfriedhöfe geht und die der Alliierten meidet, wem die Male und Tafeln des Gedenkens für die Partisanen und Widerstandskämpfer in Städten und Ortschaften Italiens, Frankreichs und in anderen Ländern stumm bleiben, der soll von "Bewältigung" deutscher Vergangenheit und seinem Beitrag zur Verständigung der Völker schweigen. Doch die Nabelschau ist hierzulande noch immer modisch, wie die Reiseofferten des Bundes der Kriegsgräberfürsorge auch für das Jahr 2005 ausweisen. Schon im Vorjahr war das Angebot für Fahrten in die Normandie so gestaltet, dass kein Teilnehmer seinen Fuß auf eine Gräberstätte der einstigen Kriegsgegner setzen musste.  
  4. Aufrichtig ist das Gedenken an die deutsche Opfer von Faschismus und Krieg nur, wenn jede primitive Gleichsetzung unterbleibt, die mit der Feststellung Tot ist tot jedes Nachdenken darüber, wie die einen und wie die anderen zu Tode kamen, erledigt. Der deutsche Fallschirmjäger, der auf Kreta niederging, hatte eine andere Funktion als der britische Soldat, der die Insel vergeblich zu verteidigte suchte. Der griechische Bauer kam aus anderen Gründen um als der deutsche und italienische Eindringling. Weithin sichtbar, denn an exponierter Stelle, hat Bundeskanzler Kohl in Berlin Unter den Linden jene Geschichtsbetrachtung, die Differenzen nicht gelten lässt oder als unwesentlich erachtet, in einer Tafel festschreiben lassen. Ob Mörder oder Ermordeter, Eroberer oder Unterworfener, Sklavenhalter oder Versklavter, Rassist oder Humanist, Jude oder Antisemit - irgendwie sind sie am Ende angeblich alle Opfer gewesen. Auch Hitler, wie eben in einem Spielfilm gezeigt wurde: der Führer gebrechlich und gebrochen, zitternd und gekrümmt sich in seiner Bunkerhöhle dahin schleppend. Ein Elender, ohne Zufluchtsort. Ein wenig zu bemitleiden, wie sein Darsteller ihn erklärtermaßen auch vorführen wollte. Demgegenüber ist darauf zu bestehen, dass die Menschen jener Kriegszeit zu Millionen zweierlei Rollen einnahmen. Die einen verübten, das ist eine Formulierung des Schweizer Theologen Karl Barth, der 1935 von seinem Lehrstuhl und aus Deutschland vertrieben worden war, ein "Attentat gegen die Menschheit" und die anderen wehrten dieses Attentat ab. 

Den besondere Anlass dieses Treffens bilden die Kriegs- und anderen  Verbrechen, die unter dem Begriff Verbrechen der Endphase gefasst worden sind. Es ist verständlich, dass der Blick auf sie besondere Gedanken und Empfindungen wachruft. Zugleich mag in dieser Hinsicht ein Element des Ungerechten liegen. Die polnischen Toten des 1. September 1939, etwa jene, die in der Stadt Wielun das Opfer deutscher Bombenangriffe wurden, verdienen unsere Erinnerung nicht weniger als jene, die nur Stunden vor dem Ende der Kriegshandlungen umkamen. Und dennoch. Diese späten, diese letzten Toten der Kriegstage (nicht des Krieges, denn das Sterben dauerte noch lange) lassen fragen: Warum auch die noch? Konnte das Töten und Sterben nicht früher enden, konnten nicht wenigstens sie noch lebend davon kommen? Wer so fragt, mag sich der Tatsache erinnern, dass die kaiserlichen deutschen Militärs 1918, als sie am Ende ihres militärischen Lateins waren und es absehbar wurde, dass es nur noch kurze Zeit dauern werde, bis die Fronten brachen, der politischen Führung des Reiches erklärten, nun müsse sie einen Ausweg, einen Weg zu Kapitulation und Frieden suchen und rasch beschreiten. Keine Gruppe deutscher Feldmarschälle und Generale hat 1945, als sie den Krieg militärisch längst verloren wussten, diesen Schritt getan. Der Oberbefehlshaber West, Erwin Rommel, bildete eine Ausnahme. Diese deutschen Militärführer konnten einen Krieg beginnen , aber ihn nicht beenden. Sie haben noch unwissende, milchbärtige Hitlerjungen in den Krieg gehetzt. Hier und nicht bei Personen wie Winston Churchill, dem verteufelten "Bomber Harris" oder den sowjetischen Heerführern und Soldaten ist die Adresse für Schuldzuweisungen. Auf das Konto der Keitel, Jodl, Schörner, Dönitz, Busse und anderer gehen letztlich auch die in Trümmer gelegten Städte Dresden, Pforzheim. Hildesheim, Würzburg und viele weitere, die in den letzten Kriegsmonaten zerstört wurden. Wären die Truppen der Alliierten von Ostpreußen und dem Saarland in ein Deutschland einmarschiert, das kapituliert hatte, dann wäre auch das kein Vergnügen gewesen, aber das Kriegsende hätte für viele Deutsche dann anders ausgesehen und Zehntausende hätten es noch erlebt. -

* * *

Gestatten Sie mir am Ende eine persönliche Bemerkung. Sie knüpft an eine Äußerung des vormaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker an, der 1985 aus Anlass des 40. Jahrestages des Kriegsendes eine denkwürdige Rede hielt und kürzlich (Berliner Zeitung, 26./27. Februar 2005) gefragt worden ist, wie er rückblickend über seinen damaligen Auftritt denke. Schließlich wollte der Interviewer wissen, ob von Weizsäcker im 8. Maitag einen Grund zu Feiern erblicke. Das nicht, lautete die Antwort, aber er empfinde an diesem Tage "historische Freude". Nun weiß ich, nachdem ich den Vorzug genoss, mich seit vielen Jahrzehnte mit der Geschichte studierend und forschend beschäftigen zu können, was ein historisches Ereignis oder eine historische Persönlichkeit ist. Mit der Kennzeichnung historische Freude hat es Schwierigkeiten. Folglich: Ich werde am bevorstehenden 8. Mai 2005 ein paar Freunde und Kollegen einladen und sie bitten ein Glas Wodka und ein Glas Whisky zu leeren, so das Andenken aller aus Ost wie aus West ehrend, die diesen historischen Tag herbeiführten. Ihnen schulde ich auch eine besondere Danksagung. Denn, hätten sie ihre Anstrengungen nicht in jenem Tempo unternommen, in dem sie es taten, wäre ich schwerlich am Kriege so vorbeigeschrammt, wie mir das eben noch möglich war und die Einladung, hier zu reden, hätte sich an eine andere oder einen anderen richten müssen. 

Siehe auch:

Mehr als das Mitleid ist heute notwendiger – so wie damals – das Mittun, das Mitkämpfen

Informationen zur Tätigkeit des Internationalen Rombergpark-Komitees auf dem Internationalen Treffen aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus

"Ja, seid wachsam!"

Ansprache von Gisa Marschefski, Generalsekretärin des IRPK, auf der Gedenkkundgebung am Karfreitag 25.03.2005 am Mahnmal in der Bittermark, vorgetragen von Celine van der Hoek de Vries, Amsterdam, Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz und Vizepräsidentin des IRPK

Erklärung von Dortmund

Vom Treffen der Hinterbliebenen von Kriegsendmorden der Nazis des Internationalen Rombergparkkomitees

Wenn jemand die Opfer und die Täter gleichzeitig ehren will

Streit in Dortmund über die Frage: Ist Joachim Gauck ein geeigneter Gedenkstättenredner? - Folgt dem Skandal von Torgau und Halle nun der von Dortmund?

"...da steht SPD-Grüne-Lokalprominenz auf und schlägt zu"

Reaktionen auf die Veröffentlichung der Frankfurter Rundschau zur Auseinandersetzung um Gauck

Ein Geschichtsrevisionist als Redner in der Bittermark?

VVN-BdA NRW lehnt Gauck als Redner auf der diesjährigen Gedenkveranstaltung in Dortmund ab

Treffen zu Karfreitag 2005 in Dortmund

Das Internationale Rombergparkkomitee und VVN-BdA NRW rufen auf zur Zusammenarbeit der Hinterbliebenen des Nazi-Terrors von 1945 und ihrer Freunde und Mitstreiter