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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

22.09.2017

Persönliche Erklärung von Silvia Gingold: Was ist an meinem Tun verfassungsfeindlich?

„Wie schon bei der Verhandlung am 12.1. 17 am Verwaltungsgericht in Wiesbaden möchte ich heute erneut meine Betroffenheit und Empörung angesichts der Beobachtung meiner Person durch den Verfassungsschutz zum Ausdruck bringen“, erklärte Silvia Gingold vor dem Verwaltungsgericht Kassel am 19.September 2017. Ihre persönliche Erklärung lautete ferner:

Von Seiten des Verfassungsschutzes wurde im Wiesbadener Verfahren behauptet, ich sei nicht als Person unter Beobachtung sondern nur „Beifang“ der Beobachtung von Organisationen“ wie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und DKP, die der VS als „linksextremistisch“, ja verfassungsfeindlich einstuft.

Ich frage die anwesenden Vertreter des Landesamtes für Verfassungsschutz:

Wie anders soll ich es verstehen, wenn nicht als Beobachtung meiner Person, wenn der Verfassungsschutz meine Redebeiträge auf dem Ostermarsch, bei Demonstrationen gegen Berufsverbote oder auf einer DGB-Veranstaltung dokumentiert und sogar eigens einen DVD-Datenträger aus dem Mitschnitt meines Beitrags herstellt? Wie anders soll ich es verstehen, wenn nicht als Beobachtung meiner Person, wenn Lesungen aus der Biographie meines Vaters gesammelt und dokumentiert werden und dabei auch erwähnt wird, dass daran mein Sohn oder meine Schwester beteiligt waren?

Ist es etwa keine Beobachtung meiner Person, wenn als Begründung für geschwärzte Akten angeführt wird, dass die Informationen aus persönlichen Gesprächen, gewonnen wurden?

Oder wenn es heißt: „Der Kreis der teilnehmenden Personen ist zeitlich und örtlich eng umgrenzt. Allein das Bekanntwerden des Berichts zu dieser Veranstaltung ließe leichte Rückschlüsse auf das nachrichtendienstliche Mittel zu“.

Im Mittelpunkt der Begründung für die Beobachtung meiner Person stehen meine Aktivitäten für die VVN, die der Verfassungsschutz als „linksextremistisch beeinflusste Organisation“ einstuft.

Diese antifaschistische Organisation, wurde vor 70 Jahren von den Überlebenden der Konzentrationslager, den Verfolgten, den Widerstandskämpfern verschiedenster politischer Richtungen gegründet. Sie fühlten sich den Opfern verpflichtet, alles zu tun, damit sich Krieg und die unfassbaren Verbrechen der Nazis nie wiederholen. Ausgerechnet diese Organisation wird vom Inlandsgeheimdienst als „linksextremistisch“ diffamiert und kriminalisiert.

Silvia GingoldAn der Gründung der VVN in Hessen war auch mein Vater beteiligt, dessen jüdische Geschwister die Nazis in den Gaskammern von Auschwitz grausam ermordeten, der in der Résistance in Frankreich Widerstand gegen Hitler leistete, der in Gestapo-Haft kam und dort schwer gefoltert wurde. Nur durch Flucht konnte er dem Tod entgehen.

Man wirft mir vor, den Bekanntheitsgrad meiner Eltern „medien- und werbewirksam“ einzusetzen.

Ja, ich setze die Erfahrungen meiner Eltern dafür ein, die Erinnerungen an die Naziverbrechen wach zu halten. Genau so wie die VVN die Erfahrungen vieler Zeitzeugen einsetzt, um sie vor allem jungen Menschen zu vermitteln, damit sie sich gegen Rassismus und Nationalismus zur Wehr zu setzen.

Besonders empört mich, dass das Landesamt für Verfassungsschutz den „Schwur von Buchenwald“, dem sich die VVN verpflichtet fühlt, als Beleg für angeblich „verfassungsfeindliche Bestrebungen“ heranzieht.

Ich zitiere, was am 19.April 1945 21.000 befreite Häftlinge auf dem Appellplatz des KZ Buchenwald schworen: 

„Wir schwören deshalb vor aller Welt auf diesem Appellplatz, an dieser Stätte des faschistischen Grauens:
Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht!
Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig“

Dieses Vermächtnis als gegen die FDGO gerichtet zu diffamieren, wie es der Verfassungsschutz tut, empfinde ich als Verhöhnung der Opfer, als Herabsetzung derjenigen, die im Widerstand gegen Hitler ihr Leben riskierten und als Diskriminierung aller, die heute in der Tradition der Antifaschisten gegen Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus eintreten.

Die über mich gesammelten Daten durch den Verfassungsschutz beinhalten ausnahmslos meine antifaschistischen und friedenspolitischen Aktivitäten. Alle diese Aktivitäten sind grundgesetzlich durch die freie Meinungsäußerung geschützt. Es gibt keinen einzigen konkreten Nachweis darüber, dass mein politisches Handeln nicht im Einklang mit der Verfassung stünde.

Wenn der Verfassungsschutz aus der Kapitalismuskritik von Antifaschisten den Schluss zieht, dies sei gegen die FDGO gerichtet, so möchte ich darauf hinweisen, dass beispielsweise der GG-Artikel 14 entstanden ist aus dem Bestreben, zu verhindern, dass kapitalistische Unternehmen jemals wieder so viel Macht erlangen dürften wie 1933.

Im Art. 14 Abs.2 heißt es: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Das Bundesverfassungsgericht entschied in einem Grundsatzurteil im Jahre 1954: „Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetzt mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche“. Das Urteil gilt bis heute.

Statt mit allen Mitteln gegen die Bedrohung durch den Rechtsterrorismus vorzugehen, ist dieser Inlandsgeheimdienst selbst zutiefst verstrickt in die Unterstützung des terroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“, wie kompetente Beobachter immer wieder feststellten. Dagegen betreibt er einen immensen Aufwand, demokratisch und antifaschistisch engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen Rassismus und Nationalismus zur Wehr setzen, zu bespitzeln.

Ich möchte zum Schluss noch einmal ausdrücklich betonen, dass ich die Beobachtung meiner politischen Aktivitäten durch den Verfassungsschutz als Eingriff in meine Persönlichkeitsrechte empfinde, die mein Ansehen beschädigt.

Ich erwarte vom Gericht, meine Bürgerrechte, mein Recht auf freie Meinungsäußerung zu schützen und zu veranlassen, dass die Beobachtung eingestellt und die Dokumentation dieser Bespitzelung in den Akten des Verfassungsschutzverbundes beendet wird.

Silvia Gingold
Kassel, den 19.9.2017

Plädoyer von Silvia Gingolds Anwalt
Dr. Otto Jäckel am 19.09.2017 vor dem Verwaltungsgericht Kassel
http://berufsverbote.de/tl_files/SG/Jaeckel19-09-17KS.pdf 

Presseschau:

Verfassungsschutz-Klage: Applaus für Friedensaktivistin
Mit großem öffentlichen Interesse hat in Kassel der Prozess um eine Klage der Friedensaktivistin Silvia Gingold gegen den hessischen Verfassungsschutz begonnen.
http://www.op-marburg.de/Nachrichten/Hessen/Politik/Verfassungsschutz-Klage-Applaus-fuer-Friedensaktivistin

Ein weiterer Artikel der Oberhessischen Presse Marburg als PDF-Download.

Verfassungsschutz-Klage: Applaus für Friedensaktivistin
Mit großem öffentlichen Interesse hat in Kassel der Prozess um eine Klage der Friedensaktivistin Silvia Gingold gegen den hessischen Verfassungsschutz begonnen. Gingold forderte am Dienstag vor dem Verwaltungsgericht, dass der Nachrichtendienst Daten über sie löscht und die Beobachtung ihrer Person einstellt.
http://www.fnp.de/rhein-main/Verfassungsschutz-Klage-Applaus-fuer-Friedensaktivistin;art1491,2772441

Siehe auch:

20.09.2017
Klage gegen Verfassungsschutz
VVN-BdA-Sprecher solidarisch mit Silvia Gingold
Die „Hessenschau“ berichtete am Abend des 19. 09. 17: Mit großem öffentlichen Interesse hat in Kassel der Prozess um eine Klage der Friedensaktivistin Gingold gegen den hessischen Verfassungsschutz begonnen. Gingold forderte am Dienstag vor dem Verwaltungsgericht, dass der Nachrichtendienst Daten über sie löscht und die Beobachtung ihrer Person einstellt. Sie empfinde die Beobachtung als "Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte", sagte die 71-jährige Tochter des jüdischen NS-Widerstandskämpfers Peter Gingold. Vor dem Prozess hatte unter anderem die Partei "Die Linke" zur Solidarität mit Gingold aufgerufen.
Auf einer Konferenz der über 100 Besucher des Prozesses, veranstaltet in der Kasseler Kunsthochschule von der GEW, führte Ulrich Sander, Bundessprecher der VVN-BdA, aus:
http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/1807_gingold.htm

11.05.2015
Der Umgang der BRD mit Widerstandskämpfern und heutigen Antifaschisten
Referat von Silvia Gingold, Kassel
Die Konferenz der VVN-BdA und der Marx-Engels-Stiftung "8. Mai 1945: Befreiung – Was sonst!? zum bundesdeutschen Umgang mit den Tätern und Opfern des Naziregimes" fand am 18. April 2015 in Düsseldorf statt. Die Referate von Prof. Ludwig Elm, Jena, "„Freiheit der Wissenschaft“ im Dienste der Unfreiheit. Hitlers Professoren in der frühen Bundesrepublik", Ulrich Sander, Dortmund, "Wiederbewaffnung und Demokratenverfolgung in der Adenauerära" und  Prof. Manfred Weißbecker, Jena, "Russlandbilder im deutschen Faschismus" wurden im Heft 3/2015 der "Marxistischen Blätter" veröffentlicht (http://www.marxistische-blaetter.de/). Das vierte Referat von Silvia Gingold wird im Folgenden dokumentiert:
http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/1427_referat.htm

10.04.2017
Solidarität mit der VVN-BdA gegen die Geheimdienstaktionen erbeten
Bund und elf Länder schlossen sich zum „Verfassungsschutzverbund“ gegen Antifaschisten zusammen
Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten hat noch einmal zum Prozess Silvia Gingold gegen das Land Hessen Stellung genommen (in den Medien wurde darüber berichtet). Der Bundeskongress der VVN-BdA in Frankfurt am Main wies mit Nachdruck die verleumderischen Darstellungen und Verfälschungen des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz über die VVN-BdA zurück. Diese fußen auf einem gemeinsamen Dokument des Bundes- und der meisten Landes-Verfassungsschutz-Ämter. Sie behaupten tatsachenwidrig, die VVN-BdA sei eine „linksextremistisch beeinflusste Organisation“, deren Bestrebungen „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ gerichtet seien. Die VVN-BdA sei „dem orthodox-kommunistischen Antifaschismus verpflichtet“ und trete demzufolge  „für eine sozialistisch/kommunistische Diktatur“ als „einzig konsequente Alternative zu 'faschistischen' Gefahren“ ein. Die VVN-BdA verfolge „als Ziel die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft“.*) Besonders empörend ist die Behauptung, der Schwur von Buchenwald sei eine verfassungsfeindliche kommunistische Hervorbringung.
http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/1749_vvn_gegen_geheimdienste.htm

24.01.2017
„Beifang“ im Spitzelnetz
Vor Gericht zeigt sich, dass Silvia Gingold nicht nur online überwacht wird
Silvia Gingold werde nicht gezielt als Person überwacht, behaupten die Prozessvertreter des Verfassungsschutzes. Die Informationen, die der Geheimdienst über sie gesammelt hat, seien „Beifang“, der bei der Überwachung „extremistischer“ Organisationen wie VVN-BdA, DKP und SDAJ anfalle, in deren Umfeld sich Silvia Gingold bewegt. Sie sei gewissermaßen zufällig in das Netz der Überwachung geraten. Mit ihrer Klage war Gingold bei der Verhandlung am 12. Januar vor dem Wiesbadener Verwaltungsgericht nicht erfolgreich – aber der Prozess liefert Hinweise darauf, in welchem Maße der Verfassungsschutz Linke bespitzelt.
http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/1708_gingold.htm