24.01.2017
„Beifang“
im Spitzelnetz
Vor
Gericht zeigt sich, dass Silvia Gingold nicht nur online
überwacht wird
Silvia Gingold werde nicht
gezielt als Person überwacht, behaupten die Prozessvertreter
des Verfassungsschutzes. Die Informationen, die der Geheimdienst
über sie gesammelt hat, seien „Beifang“,
der bei der Überwachung „extremistischer“
Organisationen wie VVN-BdA, DKP und SDAJ anfalle, in deren Umfeld sich
Silvia Gingold bewegt. Sie sei gewissermaßen
zufällig in das Netz der Überwachung geraten. Mit
ihrer Klage war Gingold bei der Verhandlung am 12. Januar vor dem
Wiesbadener Verwaltungsgericht nicht erfolgreich – aber der
Prozess liefert Hinweise darauf, in welchem Maße der
Verfassungsschutz Linke bespitzelt.
Es ist nicht das erste Mal, dass Silvia Gingold im
Nachhinein erfährt, wie engmaschig das Spitzelnetz ist, in dem
sie „Beifang“ sein soll. Der Rentner, der ihrem
Elternhaus gegenüber lebte, verdiente sich etwas dazu, indem
er aufschrieb, welche Nummernschilder die Autos von Besuchern ihrer
Eltern hatten. Denn Gingolds Vater war nicht nur als
Résistance-Kämpfer von der Gestapo gefoltert
worden, ihre Eltern Ettie und Peter wurden als Mitglieder der illegalen
KPD auch von den Adenauer-Behörden verfolgt.
Wie andere Aktive aus einer Initiative von
Berufsverbotsopfern hatte Silvia beim Verfassungsschutz angefragt,
welche Daten über sie gespeichert sind. Die Antwort: Seit 2009
werde sie im „Bereich Linksextremismus“
geführt. Dass der Geheimdienst in den 70ern die Informationen
gesammelt hatte, auf deren Grundlage sie als Lehrerin entlassen wurde,
wusste sie. Gegen die erneute Überwachung klagte sie.
Das Gericht in Wiesbaden hat in der vergangenen
Woche in der Sache nicht entschieden, nur einen Teil der Klage als
unzulässig abgewiesen. Das Verfahren wird nun vor dem
Verwaltungsgericht in Kassel weitergehen. „Ich mache mir
keine Illusionen, dass ich juristisch etwas erreichen kann“,
sagt Silvia. „Aber ich kann mit diesem Prozess erreichen,
dass die Öffentlichkeit etwas darüber
erfährt, wie Menschen, die sich im Rahmen ihrer Grundrechte
engagieren, überwacht, bespitzelt und in die Ecke des
Extremismus gestellt werden.“
Viel es ist nicht, was der Verfassungsschutz im
Verfahren preisgeben muss. 131 Seiten ist die Akte über Silvia
Gingold dick, 23 davon gab der Verfassungsschutz freiwillig zur
Einsicht an die Klägerin Silvia und ihre Anwältin
Bernhild Schömel. In einem geheimen Zwischenverfahren
prüfte das Gericht, ob der Geheimdienst die Akten wirklich
zurückhalten darf. Sechs weitere Seiten gab es frei. 102
Seiten durfte der Verfassungsschutz entweder schwärzen oder
aus der Akte herausnehmen.
Die wenigen Seiten, die sie einsehen konnte,
machen aus Sicht der Anwältin Schömel deutlich: Die
Behauptung, dass Silvia Gingold nicht als Person überwacht
werde – dass sie nur „Beifang“ sei
– ist falsch. Der Verfassungsschutz hat, das zeigen die
Akten, umfassende Informationen über Silvias politische
Aktivitäten gesammelt: Dass sie bei einem SDAJ-Pfingstcamp aus
der Autobiografie ihres Vaters gelesen hat, welche Rede sie beim
Ostermarsch gehalten hat, welches Referat sie bei einer Veranstaltung
der Marx-Engels-Stiftung über Berufsverbote gehalten hat.
Ihren Auftritt bei einer Veranstaltung des DGB Marburg, bei der sie
neben Bodo Ramelow auf dem Podium saß, hat der
Verfassungsschutz als Video auf DVD.
Die meisten dieser Informationen kommen aus
öffentlich zugänglichen Quellen. Nur: Woher kommen
die Informationen auf den geschwärzten Seiten der Akte? Der
Verfassungsschutz musste zu jeder einzelnen Seite begründen,
warum er diese Daten geheim halten will. In diesen
Begründungen heißt es zum Beispiel: „Der
Bericht besteht aus E-Mails, die innerhalb eines kleinen
Personenkreises versandt wurden. Diese betreffen zudem zahlreiche
Dritte.“ Der Verfassungsschutz hat E-Mails mitgelesen. Oder:
„Es handelt sich um hochsensibles Aufkommen, da die
Informationen aus persönlichen Gesprächen gewonnen
wurden.“ Der Verfassungsschutz hat anscheinend V-Leute in
linken Organisationen nachfragen lassen. Bernhild Schömel
sagt: „Es gibt in den Akten Hinweise darauf, dass Silvia
Gingolds Mailverkehr teilweise überwacht wird und dass
V-Männer des Verfassungsschutzes sie überwacht
haben.“
Olaf Matthes
Schwur
von Buchenwald verfassungsfeindlich?
Im Verfahren
„Silvia Gingold gegen Land Hessen“ haben die
Prozessvertreter des
hessischen Verfassungsschutzes in einem Schriftsatz erklärt,
dass es
verfassungsfeindlich sei, sich auf den Schwur der Häftlinge
von
Buchenwald zu berufen. Der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele sagte
dazu:
„Dieser Geheimdienst bespitzelt Linke, unterstützt
Nazis – und
beschimpft das Erbe des antifaschistischen Widerstandes als
antidemokratisch. Wer Antifaschismus und Demokratie will, muss sie
gegen diesen Geheimdienst und gegen die Landes- und Bundesregierungen
erkämpfen.“
In dem Schriftsatz begründet der
Verfassungsschutz,
warum er Gingold auch in Zukunft überwachen will: Weil Silvia
Gingold
und die VVN-BdA, für die sie aktiv ist, sich auf den Schwur
von
Buchenwald berufen, der sich – so der Verfassungsschutz
– auf die
„kommunistische Faschismustheorie“ stütze,
würden sie die Prinzipien
der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ in
Frage stellen. Denn
diese Faschismustheorie, so der Verfassungsschutz, beschreibe die
parlamentarische Demokratie „als potenziell faschistisch,
zumindest
aber als zu bekämpfende Vorstufe zum Faschismus“ und
wende sich damit
gegen das Recht, eine parlamentarische Opposition zu bilden.
Patrik
Köbele stellte dazu fest: „1945 schworen die
Häftlinge des KZ
Buchenwald, die sich selbst befreit hatten: 'Die Vernichtung des
Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.' Sie zogen die Lehre aus
der deutschen Geschichte: Solange die Banken und Konzerne die Macht
haben, gibt es auch die Gefahr, dass sie zum faschistischen Terror
übergehen. Der sogenannte Verfassungsschutz dreht das Ganze
nun um. Er
wirft Sylvia Gingold und der VVN/BdA vor: Sie 'bezeichnet den
Kapitalismus als eigentlichen Urheber des Faschismus (…).
Konkludent
lehnt der Verband (VVN/BdA) also die 'kapitalistische', mithin
freiheitliche demokratische Grundordnung ab.' Nun, gewusst haben wir
es, aber nun bestätigt der so genannte Verfassungsschutz was
seine
Aufgabe ist – die Verteidigung des Kapitalismus.“
|
Der Schriftsatz des Verfassungsschutzes kann im
Original unter unsere-zeit.de heruntergeladen werden: http://www.unsere-zeit.de/attachment/89/Prozessunterlagen%20Nov.16.pdf?g_download=1
Mit freundlicher Genehmigung von http://www.unsere-zeit.de/
|