Logo VVN/BdA NRW

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

 

 

 

 

 

 

Nazis raus aus dem Internet

 

05.12.04

Halbherziges von der Staatsanwaltschaft Bochum und Eindeutiges von Verfassungsrichter Dr. Michael Bertrams

Bertrams: „Das Grundgesetz ist ein Gegenentwurf zur Barbarei der Nazis. Nazismus ist keine missliebige Meinung, sondern ihm wird vom Grundgesetz eine entschiedene Absage erteilt“

Gegen den besonders widerlichen antisemitischen Hetzer Claus Cremer von der NPD-Führung NRW, der sich auf der antisemitischen Hetzkundgebung vom 26. Juni in Bochum im Stile des in Nürnberg gehenkten Julius Streicher gegen die Juden äußerte, hat die Staatsanwaltschaft Bochum die Ermittlungen abgeschlossen und Anklage erhoben. Andere Ermittlungsverfahren, so die Staatsanwaltschaft, seien eingestellt worden, „insbesondere weil im Ergebnis ein Aufstacheln zum Haß ebenso wenig wie ein Angriff auf die Menschenwürde anderer gegeben war.“ Mit dieser doppeldeutigen Auskunft gibt sich die VVN-BdA ebenso wenig zufrieden - sie hat deshalb an die Landesregierung geschrieben (siehe dort) - , wie der höchste Richter von NRW, der Vorsitzende des Landesverfassungsgerichtes und des obersten Verwaltungsgerichts OVG Münster, Dr. Michael Bertrams, mit der Haltung des Bundesverfassungsgerichtes zum Antisemitismus und Neofaschismus.

In der „Neuen Juristischen Wochenschrift“ Nr. 44/2004 schreibt er in einer Polemik gegen den Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem:

Leserbriefe

Demonstrationsfreiheit auch für Rechtsextremisten? - Politisch motivierte Demonstrationsverbote? Die Ausführungen von Hoffmann-Riem (NJW 2004, 2777) können nicht unwidersprochen bleiben. Hoffmann-Riem hebt in seinem Beitrag ausführlich und kenntnisreich hervor, was niemand ernsthaft in Abrede stellt: Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ist ein unverzichtbarer Teil des demokratischen Rechtsstaats, und zwar auch als Mittel, Veränderungen in Staat und Gesellschaft einzufordern (NJW 2004, 2777 [2778]). In der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern verlässt Hoffmann-Riem jedoch den Boden der Seriosität, wenn er den Rechtsanwendern in Behörden und Gerichten", die Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit für Neonazis befürworten, unterstellt, sie fühlten sich zu ihrer Haltung offenbar durch Politiker, Medien und andere Teilnehmer an der öffentlichen Diskussion ermuntert; vermutlich" seien sie fest davon überzeugt, sich für eine gute Sache einzusetzen" (NJW 2004, 2777 [2780]). Mit derart unsachlichen Spekulationen erweckt Hoffmann-Riem bei den Lesern seines Beitrags den Eindruck, als handele es sich bei den genannten Rechtsanwendern" zwar um gutmeinende Menschen, letztlich jedoch um politisch eingefärbte, von gesellschaftlichen Kräften fehlgeleitete Ignoranten, die nicht wüssten, was in der Verfassung steht. Und Hoffmann-Riem legt noch nach. In einem geistigen salto mortale bringt er gerade die Gerichte, die sich im Interesse der freiheitlichen Ordnung gegen den öffentlichen Auftritt von Neonazis sperren, in die Nähe der Richter, die am Ende der Weimarer Republik und im Dritten Reich dem damaligen politischen Trend folgend der nationalsozialistischen Ideologie auch in der Rechtsprechung zum Durchbruch verholfen haben (insb. NJW 2004, 2780). Derartige Argumentationsmuster disqualifizieren sich selbst.

Neonazis - eine missliebige politische Minderheit? Hoffmann-Riem - und mit ihm das BVerfG (NJW 2001, 2075, und die hierzu herausgegebene Pressemitteilung des BVerfG Nr. 40/2001 v, 12.4.2001) - reduziert das Neonazi-Problem auf die Frage nach dem Umgang mit politisch missliebigen, unsympathischen Minderheiten. Er lässt jedoch unerörtert, dass es sich bei den Anschauungen von Neonazis nicht lediglich um politisch missliebige Meinungen handelt, denen man mit Sympathie oder Antipathie (Hoffmann-Riem, NJW 2004, 2777 [2779]) begegnet, sondern um Anschauungen, denen das Grundgesetz eine entschiedene Absage erteilt hat. Auf die daran anknüpfenden Ausführungen in der verfassungsrechtlichen Literatur (vgl. insb. Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 12 ff.) und in der Rechtsprechung des OVG Münster (vgl. die Übe, sicht bei Bertrams, in: Festschr. f. Claus Amdt, 2002, S. 19 ff.) geht Hoffmann-Riem nicht näher ein.

Die Rechtsprechung des OVG Münster. Mit Blick auf das öffentliche Auftreten von Neonazis ist nach der Rechtsprechung des OVG Münster bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Normen des Grundgesetzes zu berücksichtigen, dass das Grundgesetz in weiten Teilen - insbesondere in seiner Präambel, in der Konzeption des Grundrechtsteils und in der Ausformung des Gedankens der wehrhaften Demokratie - als eine Antwort auf die Beseitigung der Weimarer Demokratie durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu verstehen ist. Das Grundgesetz ist mit anderen Worten der Gegenentwurf zur Barbarei der Nazis. Von zentraler Bedeutung ist dabei neben der grundgesetzlich konstituierten Friedenspflicht (Art. 1 II, 24 II, 26 I GG) der die gesamte Rechtsordnung prägende Aspekt der Menschenwürde (Art. 1 I GG). Angesichts dieser Verfassungswerte gewinnt die Tatsache besonderes Gewicht, dass vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte durch das öffentliche Auftreten von Neonazis und das Verbreiten entsprechenden Gedankenguts grundlegende soziale und ethische Anschauungen einer Vielzahl von Menschen - zumal der in Deutschland lebenden ausländischen und jüdischen Mitbürger - in erheblicher Weise verletzt werden.

Soweit beim Problem der Demonstrationsfreiheit für Neonazis das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG) betroffen ist, schützt dieses zwar auch und gerade die politisch missliebige Meinung". Bei dem Gedankengut von Neonazis geht es aber nicht um irgendeine politisch missliebige Meinung, sondern um Anschauungen, denen das Grundgesetz mit seinem historischen Gedächtnis eine klare Absage erteilt hat. Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit als Kernpunkte neonazistischer Ideologie sind nicht irgendwelche unliebsamen, politisch unerwünschte Anschauungen, sondern solche, die mit grundgesetzlichen Wertvorstellungen schlechterdings unvereinbar sind. Der Ausschluss gerade dieses Gedankenguts aus dem demokratischen Willensbildungsprozess ist ein aus der historisch bedingten Werteordnung des Grundgesetzes ableitbarer Verlassungsbelang, der es rechtfertigt, die Freiheit der Meinungsäußerung, bezogen und beschränkt auf dieses Gedankengut - wer auch immer es artikuliert - inhaltlich zu begrenzen. Das historische Gedächtnis der Verfassung wird mit anderen Worten übergangen, wenn man das öffentliche Eintreten für nationalsozialistisches Gedankengut als politisch unerwünscht und missliebig bagatellisiert und wie jede andere Meinungsäußerung als Ausübung eines für die Demokratie konstituierenden Freiheitsrechts einstuft.

Vor diesem Hintergrund lässt sich nach der Rechtsprechung des OVG Münster eine rechtsextremistische Ideologie wie der Nationalsozialismus nicht - auch nicht mit den Mitteln des Demonstrationsrechts - legitimieren; bei der Auslegung des Grundrechts der Demonstrationsfreiheit (Art. 5 I, 8 I GG) ist deshalb dieser verfassungsimmanenten Beschränkung auch unterhalb der Schwelle strafrechtlicher und verfassungsgerichtlicher Verbots- und Verwirkungsentscheidungen Rechnung zu tragen, so dass Versammlungen, die durch ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus geprägt sind, wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung gemäß § 15 I des Versammlungsgesetzes (VersG) verboten werden können (vgl. zu allem Vorstehenden die Fundstellen bei Bertrams).

Diese Rechtsprechung des OVG Münster hat das BVerfG - mit Hoffmann-Riem als zuständigem Berichterstatter - als "offensichtlich fehlerhaft" verworfen. Auf Widersprüche und Ungereimtheiten, die ihm das OVG Münster vorgehalten hat, ist es dabei nicht eingegangen.

Demonstrationsverbot am Holocaust-Gedenktag. Eine besonders gravierende Ungereimtheit liegt darin, dass das BVerfG seinen eigenen Grundsätzen zuwider das öffentliche Auftreten von Neonazis am Holocaust-Gedenktag unterbindet (JZ 2001, 651). Dabei begnügt sich die 1. Kammer des BVerfG mit dem lapidaren Hinweis, es leuchte unmittelbar ein und sei auch verfassungsrechtlich tragfähig, wenn die Versammlungsbehörde der Durchführung eines Aufzugs durch Personen aus dem Umfeld der rechtsextremen Kameradschaften an diesem Gedenktag eine Provokationswirkung zumesse und dies als Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung des sittlichen Empfindens der Bürgerinnen und Bürger bewerte. Das heißt: die 1. Kammer nimmt die rechtsextremistischen Kameradschaften als Neonazis wahr, stellt im Widerspruch zu ihrer sonstigen Rechtsprechung auf deren demonstrativ propagierte neonazistische Ideologie ab und bewertet diese Ideologie als eine versammlungsrechtlich abzuwehrende Gefahr für die öffentliche Ordnung. Damit gibt die 1. Kammer die von Behörden und Gerichten geforderte Meinungsneutralität" des Versammlungsrechts kurzerhand auf.

Angesichts dieses Befunds drängen sich Fragen auf: Warum soll der zielgerichtete Zugriff auf die neonazistische Ideologie nur am Holocaust-Gedenktag zulässig sein? Warum besteht nur an diesem Tag die unmittelbar einleuchtende Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung des sittlichen Empfindens der Bürgerinnen und Bürger? Inwiefern lässt sich nicht auch außerhalb dieses Gedenktages eine verfassungsrechtlich beachtliche Kollision mit der öffentlichen Ordnung bejahen? Ist es - anders gefragt - vertretbar, am Holocaust-Gedenktag die öffentliche Präsenz von Neonazis als eine für die Empfindungen der Bürgerinnen und Bürger unzumutbare Provokation zu bewerten, an den verbleibenden Tagen des Jahres dem Auftreten eben jener Neonazis und den damit verbundenen Verletzungen der sozialen und ethischen Anschauungen hingegen die rechtliche Relevanz abzusprechen? - Dies ist meines Erachtens weder nachvollziehbar noch vertretbar. Es handelt sich um eine willkürliche Satzung ohne verfassungsrechtliche Fundierung. Das auf einen singulären - im öffentlichen Bewusstsein kaum verankerten - Gedenktag bezogene Merkmal der spezifischen Provokationswirkung" lässt jedenfalls unberücksichtigt, dass das öffentliche Auftreten von Neonazis zumindest für die in Deutschland lebenden ausländischen und jüdischen Mitbürger an jedem Tag des Jahres eine spezifische" Provokationswirkung entfaltet, wird doch gerade diesen Mitbürgern - auch ohne Worte - vor Augen geführt, in Deutschland nicht willkommen zu sein.

Der von Hoffmann-Riem vertretenen Rechtsprechung mangelt es meines Erachtens an einer zeitgerechten Konkretisierung des Begriffs der wehrhaften Demokratie". Bei der Erörterung dieses Begriffs bleiben jedenfalls wichtige Aspekte der Verfassungswirklichkeit im wiedervereinten Deutschland unberücksichtigt. Zu dieser Wirklichkeit gehört ein kaum für möglich gehaltenes Erstarken rechtsextremistischer Kräfte in den alten und neuen Bundesländern, wie die hohen Stimmengewinne von NPD und DVU bei den Landtagswahlen am 19.9.2004 in Sachsen und Brandenburg erst jüngst gezeigt haben. Mag dieser Zuwachs auch überwiegend Ausdruck eines dumpfen Protests gegen die Reformpolitik der Bundesregierung gewesen sein, so bleibt es doch eine Tatsache, dass sich der - aus der Mitte der Gesellschaft kommende Protest in erheblichem Umfang am äußersten rechten Rand versammelt hat.

Die unter anderem in Art. 21 II GG (Verbot verfassungswidriger Parteien) getroffenen Vorkehrungen der Gefahrenabwehr sind zwar Ausdruck einer wehrhaften und strafbaren Demokratie. Diese Vorkehrungen sind jedoch augenscheinlich nicht geeignet, das öffentliche Auftreten und Erstarken von Neonazis und die damit verbundenen Verletzungen grundlegender sozialer und ethischer Anschauungen einer Vielzahl von Menschen zu verhindern. Insoweit einschlägig ist vielmehr die spezielle Regelung des Art. 8 II GG, in welcher der Verfassungsgeber den einfachen Gesetzgeber ausdrücklich ermächtigt hat, die Versammlungsfreiheit zu beschränken. Dies ist in § 15 VersG geschehen. Die dort für den Fall einer unmittelbaren Gefährdung der öffentliche Ordnung getroffene Verbotsregelung ist ebenfalls Ausdruck einer wehrhaften Demokratie. Diesen Aspekt gilt es in einer Weise zu aktualisieren, die der Verfassungswirklichkeit Rechnung trägt. Als dem maßgeblichen Hüter der Verfassung obliegt dem BVerfG insoweit eine besondere Verantwortung.

Dieser Verantwortung ist das BVerfG meines Erachtens weder im - gescheiterten - NPD-Verbotsverfahren noch in seiner bisherigen versammlungsrechtlichen Rechtsprechung gerecht geworden. Im Gegenteil: Auf der Basis der Rechtsprechung des BVerfG und der von Hoffmann-Riem vertretenen Positionen ist es heute Neonazis möglich, ihren Antisemitismus öffentlich zu propagieren und gegen den Wiederaufbau einer in der Reichskristallnacht" niedergebrannten Synagoge auf die Straße zu gehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.6.2004 - 1 BvQ 19/04, unter Aufhebung von OVG Münster, Beschl. v. 21.6.2004 - 5 B 1208/04). Eine solche Ausübung von Freiheitsrechten haben sich die Mütter und Väter unserer Verfassung - den Holocaust vor Augen - wahrlich nicht vorgestellt.

Demonstrationsfreiheit - die "Luftröhre der Demokratie". Für den demokratischen Willensbildungsprozess sind die vom Grundgesetz geächteten Anschauungen von Neonazis, ohne Bedeutung. Speziell diesen Anschauungen hat das Grundgesetz mit seinem historischen Gedächtnis eine klare Absage erteilt. Mit anderen Worten: Die Freiheit des Andersdenkenden ist ein hohes Gut. Diese Freiheit muss in der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes aber dort ihre Grenze finden, wo der Versuch unternommen wird, das menschenverachtende Gedankengut des Dritten Reiches wieder zu beleben. Handelt es sich bei der Demonstrationsfreiheit um die "Luftröhre der Demokratie", dann gehen - um in dem von Hoffmann-Riem (NJW 2004, 2778 unter Hinw. auf Wolf-Dieter Narr, Grundrechte-Report 1997, S. 101) gebrauchten Bild zu bleiben Neonazis der Demokratie an die Gurgel. Eine wehrhafte Demokratie muss dem entgegentreten und dafür sorgen, dass ihr - und den in ihr lebenden Menschen - nicht irgendwann von geschichtsblinden Barbaren die Luft zum Atmen genommen wird.

Präsident des NRWVerfGH und OVG Münster Dr. Michael Bertrams, Münster

Siehe auch:

Noch immer nicht geahndet: Straftaten vom antisemitischen NPD-Hetzmarsch durch Bochum am 26. Juni

Brief an den NRW-Ministerpräsidenten und die NRW-Regierungskoalition

Aufruf zum 20. Juli: Nie wieder Auschwitz

Holocaustüberlebende verurteilen den Richterspruch aus Karlsruhe zugunsten des Antisemitismus