03.07.2015
Ein enthüllendes Arbeitsjournal: Manfred Weißbeckers Besprechung von „Der Iwan kam bis Lüdenscheid“
Ein Buch von höchster Aktualität
und zugleich besonderer Art nennt der marxistische Historiker Prof.
Manfred Weißbecker (Jena) das Buch von Ulrich Sander „Der
Iwan kam bis Lüdenscheid“. Der Autor verstehe seine
Recherchen zur NS-Zwangsarbeit als „kleinen Ausschnitt aus einer
leider noch nicht geschriebenen Anklageschrift gegen die
Täter“, die Sklavenhalter aus der deutschen Wirtschaft. Die
Buchrezension Weißbeckers erscheint in den Marxistischen
Blättern und in der UZ (Unsere Zeit) vom 3. Juli 2015. Hier der
Wortlaut:
Unsere Zeit 3. Juli 2015
Ein enthüllendes Arbeitsjournal
„Der Iwan kam bis Lüdenscheid“ • Buchbesprechung von Manfred Weißbecker
Die
Lektüre lohnt, dies sei der Besprechung ausdrücklich
vorangestellt, handelt es sich doch um ein Buch von höchster
Aktualität und zugleich von besonderer Art, das Ulrich Sander den
bisher von ihm verfassten oder herausgegebenen Publikationen folgen
ließ.1 Wer des Verfassers unermüdliche und
konsequente antifaschistische Tätigkeit kennt, wird weder vom
Thema noch von den eindeutigen Fragestellungen und Aussagen
überrascht sein. Diese gelten jener unrühmlichen Wiedergut-
machungs- und Erinnerungspolitik, die in Bundesdeutschland
regierungsoffiziell betrieben worden ist und betrieben wird. 55 Jahre
mussten vergehen, bevor die Zwangsarbeit - nach Schätzungen
geleistet von etwa 20 Millionen Menschen - als nationalsozialistisches
Unrecht offiziell in einem Gesetz anerkannt wurde.
Soeben, im Jahr 2015, war zu erleben, wie mühselig
gekämpft werden musste, um die juristische Klausel
„Kriegsgefangenschaft begründet keine
Leistungsberechtigung“ unwirksam werden zu lassen und die wenigen
noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen entschädigen zu
können. Ebenso mühselig war es auch am Ende des 20. und zu
Beginn des 21. Jahrhunderts gewesen, eine Entschädigung für
die ausländischen Zwangsarbeiter zu erreichen. Bei deren
Versklavung und menschenunwürdiger Ausbeutung hatte es sich um
eines der schwersten Verbrechen deutscher Faschisten gegen die
Menschheit gehandelt, doch Politik und Wirtschaft wollten sich ihrer
Verantwortung entziehen. Erst erheblicher Druck schuf rund 50 Jahre
nach dem Zweiten Weltkrieg Veränderungswillen. Der ungewisse
Ausgang zahlreicher Sammelklagen auf Entschädigung, die von
ehemaligen Zwangsarbeitern in den USA eingereicht worden waren, sowie
die in Deutschland aufflammende politische Diskussion führten im
Jahre 2000 zur Gründung der „Stiftung Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“. Für diese sollten mehrere
Milliarden DM aufgebracht werden, zu gleichen Teilen von Industrie und
Bund; allerdings wären die Unternehmer - wie Thomas Kuczynski
berechnete - zum Zahlen des Achtzehnfachen verpflichtet gewesen. Unter
der Voraussetzung, dass alle Klagen vollständig
zurückgenommen werden, durften schließlich ehemalige
Zwangsarbeiter in fünf osteuropäischen Staaten sowie in
Israel und in den USA Anträge auf Entschädigung stellen.
Nicht nur die den Deutschen zugesprochene besondere Gründlichkeit
verlangte dafür erheblichen bürokratischen Aufwand und
vielerlei Recherchen: Antragsteller hatten Nachweise vorzulegen, die zu
beschaffen unheimlich viel Aufwand erforderte, Listen mussten
erarbeitet und Betriebe ausfindig gemacht werden, die Zwangsarbeiter
beschäftigt hatten, usw. usf.
Das alles bietet den geschichtlichen Hintergrund des
hier vorzustellenden Buches. Sein Verfasser wirkte, beginnend am 2. Mai
2000 und endend im November 2001, als Nutzer einer
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Erforschung der Zwangsarbeit in
der südwestfälischen Stadt Lüdenscheid - dies trotz
mancher Widerstände2 erfolgreich. In Form eines
Tagebuches beschreibt er die eigene Tätigkeit, seinen Einzug ins
Rathaus, seine Ansprech- und Verhandlungspartner, seine Schritt
für Schritt vorgelegten Ergebnisse. Am Ende lagen 7 462
Kurzbiografien von Zwangsarbeitern in Lüdenscheid und Umgebung
vor, die in Datenbanken zusammengefasst zudem diverse statistische
Analysen erlauben. Nicht ohne berechtigten Stolz darf Sander am Ende
schreiben, dass nur wenige deutsche Städte über eine aus den
vorhandenen Quellen erarbeitete Materialsammlung verfügen (S. 210)3
Vermutlich konnten auf der Grundlage der Lüdenscheider Recherchen
etwa 1500 Überlebende eine Entschädigung erhalten.
Mehrere Darstellungsstränge des Bandes sind
ineinander verwoben, ebenso aufschlussreich wie kunstvoll. Pars pro
toto - ein Teil anstelle einer Gesamtheit von Vorgängen: Diesem
Motto folgt Sander geradlinig und konsequent. Eine der roten Linien
seiner Darstellung gilt den Eintragungen in ein Tagebuch. Hier wird
akribisch erfasst, was wann und wie zu tun erforderlich gewesen und was
jeweils erreicht worden ist. Da erscheinen mitunter Details, die sonst
kaum Eingang in historische Darstellungen finden, die jedoch
alltägliche Mühen und kleingeistige Querelen drastisch
erhellen. Eingebettet in die Tagesberichte tauchen Briefe, Ausschnitte
aus Zeitungsartikeln und anderen Dokumenten auf. Das verleiht der
Darstellung über weite Strecken dokumentarischen Charakter.
Beschrieben werden ebenso Zustände und Verbrechen in einigen
Arbeits- und anderen Lagern, gestützt vor allem auf die
Publikationen von Gabriele Lotfi und anderer Autoren.4
Eingestreut sind auch bemerkenswerte Ausführungen zu den
Schicksalswegen einzelner Zwangsarbeiter, zu denen jedoch der
titelgebende, aber eher symbolisch angeführte „Iwan“
nicht gehört.5 Längere Untersuchungen sehen sich
dem spurlosen Verschwinden von 118 montenegrinischen Zwangsarbeitern
gewidmet, das offensichtlich zu jenen mörderischen, von
NSDAP-Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Albert Hoffmann in den
letzten Kriegswochen angeordneten Verbrechen gehört. Die Agonie
der Naziherrschaft sah sich drakonisch ergänzt durch einen
opferreichen Durch- halte-Terrorismus. Mit diesem sollte weniger der
propagierte „Endsieg“ gewährleistet werden, eher ging
es um das Verwischen von Spuren sowie um Versuche, das Überleben
von ausbeutungsgierigen Großindustriellen und führenden
Nazis in den erwarteten Kämpfen befreiter Zwangsarbeiter zu
sichern. Immer wieder finden sich in die Tagebuchnotizen eingestreute
allgemeine Betrachtungen. Sie entstammen zumeist den in jener Zeit
gehaltenen Vorträgen oder publizierten Artikeln des Verfassers.
Darin setzt sich Sander ständig mit den unterschiedlichsten, zum
Teil auch unsinnigen „Argumenten“ auseinander, denen
zufolge es überflüssig oder gar falsch wäre,
Entschädigungen zu zahlen. Erhellt wird vor allem Inhalt und
Charakter der Forderung, dass endlich ein „Schlussstrich“
gezogen werden müsse.
In seinem Nachwort mit dem Titel „Zehn Jahre
danach: Keine Anklage gegen die Quandts und Co.“ berichtet der
Verfasser von den leider erfolglosen Bemühungen, eine Mahntafel an
einem Gebäude anzubringen, das früher der Familie Quandt
gehörte. Damit sollte auf die verhängnisvolle Rolle von
Wirtschaftskreisen im Dritten Reich bzw. im Zweiten Weltkrieg
hingewiesen werden. Ferner wird ausführlich ein Vortrag referiert,
den Thomas Kuczynski am 8. Mai 2011 im Rückblick auf die
Entschädigungsdebatte gehalten hat. Das Resümee:
„Ablass zu Ausverkaufspreisen“ ...
Ulrich Sander, Journalist und Bundessprecher der
VVN-BdA, versteht seine Recherchen als „kleinen Ausschnitt aus
einer leider noch nicht geschriebenen großen Anklageschrift gegen
die Täter“ und fühlt sich dem bekannten Schwur der
befreiten KZ-Häftlinge von Buchenwald verpflichtet, die den Kampf
erst entstellen wollten, „wenn auch der letzte Schuldige vor den
Richtern der Völker steht“ (S. 17). Folgerichtig lautet der
letzte Satz des lesenswerten Buches: „Das Ringen um Gerechtigkeit
geht weiter.“ (S. 237) Die Schlussfolgerung, die er aus dem
beschämenden Verhalten deutscher Großunternehmer in den
Auseinandersetzungen um die Entschädigung der Zwangsarbeiter zieht
und seiner Publikation gleichsam voranstellt, lautet: Ohne
Wirtschaftsdemokratie wird es auf die Dauer keine Demokratie mehr
geben, wie es auch „ohne die Einschränkung von
Rüstungskonzernen und Rüstungsexporten“ keinen Frieden
geben könne (S. 13).
Vorabdruck aus Marxistische Blätter 5_2015
(erscheint im September) Ulrich Sander: Der Iwan kam bis
Lüdenscheid. Protokoll einer Recherche zur Zwangsarbeit. PapyRossa
Verlag Köln 2015, 237 S. ISBN 978-3-89438582-8
1 Die Macht im Hintergrund. Militär und Politik in
Deutschland von Seeckt bis Struck, (Köln 2004); Mörderisches
Finale. NS-Verbrechen bei Kriegsende (2008); Von Arisierung bis
Zwangsarbeit. Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933 bis 1945
(2012).
2 Um den Auftrag an Sander rankte sich ein Verfassungsschutzskandal,
dem der Leiter des Lüdenscheider Stadtarchivs, Dieter Saal,
Beeinträchtigungen in seiner Berufsbiografie zu verdanken hatte.
3 Im Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag der Befreiung entstanden in
anderen Städten und Regionen mehrere Arbeiten, die in
unterschiedlichster Weise auch das Thema Zwangsarbeit berühren. Zu
verweisen wäre u.a. auf Marc Bartuschka (Hg.):
Nationalsozialistische Lager und ihre Nachgeschichte in der Stadtregion
Jena. Antisemitische Kommunalpolitik - Zwangsarbeit-Todesmärsche,
Jena 2015; Dieter Rosowski (Hrsg.): Lausitzer Almanach. Sonderausgabe
II zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Hitler-Faschismus: Das
Kriegsende in Ostsachsen (Berichte, Erinnerungen, Gedanken), Kamenz
2015.
4 Gabriele Lotfi: KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten
Reich, München 2000; Ulrich Herbert: Fremdarbeiter - Politik und
Praxis des „Ausländereinsatzes in der Kriegswirtschaft des
Dritten Reiches, Bonn 1999; Winkler, Ulrike (Hrsg.): Stiften gehen.
NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln 2000; Thomas
Kuczynski: Brosamen vom Herrentisch, Berlin 2004.
5 In Anlehnung an (Jas Buch von Richard David Precht „Lenin kam
nur bis Lüdenscheid“ verzichtet der Vf. auf das
Wörtchen „nur“ und erklärt: „Die Iwans aus
dem Lande Lenins kamen nicht nur bis Lüdenscheid, sie kamen bis in
jedes deutsche Dorf [...] Keiner kam je als Eroberer - so wie die
Fritzen als Eroberer und Unterdrücker und als Mörder in ihr
Land kamen.“ (S. 233)
Das Buch kann hier bestellt werden: http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/1424_iwan.htm
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