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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

23.06.2015

Rolf Gössner über die „neue Sicherheitsarchitektur“: Bundeswehr, Geheimdienste und Polizei ziehen an einem Strang gegen die Bürgerrechte

Der folgende Beitrag ist die gekürzte und aktualisierte Version eines Referates, das der Autor Dr. Rolf Gössner während einer Antikriegskonferenz im Oktober 2014 in Berlin gehalten hat. Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte; seit 2007 stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen sowie Mitglied der staatlichen Deputation für Inneres der Bremischen Bürgerschaft; Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestages und von Landtagen. Der Mitherausgeber der Zweiwochenschrift Ossietzky ist Autor zahlreicher Bücher zu Demokratie-, Bürger- und Menschenrechtsthemen. Er genehmigte der VVN-BdA NRW – ebenso wie die Redaktion Ossietzky – den Abdruck des Beitrages.

Rolf Gössner: Neue Sicherheitsarchitektur

In der Bundesrepublik sind als Reaktion auf 9/11 unter rot-grüner Bundesregierung die um-fangreichsten Sicherheitsgesetze in Kraft getreten, die in der bundesdeutschen Rechtsge-schichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind. Mit diesen Notstandsgesetzen für den Alltag wurden unter anderem Polizei- und Geheimdienst-Befugnisse erheblich ausge-weitet, betriebliche Sicherheitsüberprüfungen von ArbeitnehmerInnen auf „lebens- und ver-teidigungswichtige Einrichtungen“ ausgedehnt, „biometrische Daten“ auf Funkchips in Aus-weispapieren erfaßt. Insgesamt hat sich damit ein Trend fortgesetzt, der schon länger zu be-obachten ist: die Erhöhung der Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft. Im Laufe dieser Ent-wicklung zum Sicherheits- und Präventionsstaat etablierte sich auch eine neue „Sicherheitsar-chitektur“, also eine Strukturveränderung im Staatsgefüge – die notwendig sei, so heißt es von Seiten der herrschenden Sicherheitspolitik, um die neuen Bedrohungen bewältigen zu können. Es geht dabei im Kern um zwei Strukturveränderungen mit entgrenzender Wirkung, die man auch als Tabubrüche bezeichnen kann, weil sie nicht zuletzt vor dem Hintergrund deutscher Geschichte von Bedeutung sind:

Vernetzung und Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten

Zum einen erleben wir eine zunehmende Vernetzung und Verzahnung von Polizei und Ge-heimdiensten – entgegen dem verfassungskräftigen Gebot der Trennung dieser beiden Si-cherheitsorgane. Aktuellere Stichworte für diese Entwicklung sind: gemeinsame Antiterrorda-teien, gemeinsame Lagezentren zur Terrorabwehr, Nationales Cyber-Abwehrzentrum zur Abwehr elektronischer Angriffe auf kritische IT-Infrastrukturen – hier kooperieren das Bun-deskriminalamt, der Bundesnachrichtendienst, der Verfassungsschutz, das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sowie die Bundespolizei, das Zollkriminalamt und nicht zuletzt auch die Bundeswehr; geheimpolizeilicher Umbau des Bundeskriminalamtes mit geheimen Präventivbefugnissen zur Gefahrenabwehr, darunter großer Lausch- und Spähan-griff, präventive Rasterfahndung, Einsatz von Verdeckten Ermittlern und V-Leuten, heimliche Telekommunikationsüberwachung sowie Online-Durchsuchung von Computern mit Trojaner-Software et cetera.

Bundeswehreinsatz im Inland

Zum anderen konstatieren wir seit Jahren nicht nur eine Militarisierung der Außenpolitik, son-dern auch der „Inneren Sicherheit“, in deren Mittelpunkt der Bundeswehreinsatz im Inland steht, der längst schon begonnen hat und der nach publik gewordenen Plänen noch ausgewei-tet und verfassungsrechtlich abgesichert werden soll. Damit wird ebenfalls ein Tabu gebro-chen, denn hierzulande sind Polizei und Militär schon aus historischen Gründen sowie nach der Verfassung strikt zu trennen. Längst gibt es Ansätze, die bereits verfassungswidrig zu einer Interventionsarmee umgebaute Bundeswehr auch in Friedenszeiten flexibler im Innern des Landes einsetzen zu können – und zwar nicht nur im Verteidigungs- oder Katastrophenfall, nicht nur im erklärten Notstandsfall nach den umstrittenen Notstandsgesetzen, sondern regu-lär als innenpolitisches Machtinstrument und nationale Sicherheitsreserve im Inland. Die ver-fassungsmäßige Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit, zwischen Militär und Poli-zei wird dabei mehr und mehr aufgebrochen.

An solche heimischen Militäreinsätze der Bundeswehr konnte sich die Bevölkerung schon mal gewöhnen – bereits die Fußball-WM 2006, besonders der G-8-Gipfel 2007 in Heili-gendamm und der NATO-Gipfel 2009 oder 2015 der G-7-Gipfel im oberbayerischen Schloß Elmau dien(t)en dafür als Exerzierfeld, um diesem Paradigmenwechsel jede Anstößigkeit zu nehmen.

Bereits nach der Notstandsverfassung von 1968 ist der Einsatz des Militärs im Landesin-nern nicht mehr schlechthin unzulässig (Art. 87a Abs. 4 GG).

Das Bundesverfassungsgericht hat 2012 den Bundeswehreinsatz im Innern zur Gefahren-abwehr im Ausnahmefall auch unterhalb der Notstandsschwelle für grundgesetzkonform er-klärt: Militäreinsätze im Inland sollen danach in „Ausnahmesituationen katastrophischen Aus-maßes“, etwa im Fall von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen erlaubt sein, selbst mit militärischen Kampfmitteln (BVerfGE 2 PBvU 1/1 vom 3.07.2012).

Die Solidaritätsklausel in Art. 222 des Lissabon-Vertrags erlaubt den Militäreinsatz bei Kata-strophen, aber auch zur Terrorabwehr innerhalb der EU-Staaten. Legt man die weite EU-„Terrorismus“-Definition zugrunde, dann fallen neben urban violence selbst Streiks und Blo-ckaden darunter, sobald diese kritische Infrastrukturen wie Versorgungs- und Telekommuni-kationseinrichtungen, Banken und Konzerne gefährden könnten. Als Katastrophe definieren die EU-Ausführungsbestimmungen „jede Situation, die schädliche Auswirkungen auf Men-schen, die Umwelt oder Vermögenswerte hat oder haben kann“.

Ab 2015 soll auf EU-Ebene in einem neuen, permanenten Lagezentrum eine regelmäßige „integrierte Gefahren- und Risikoabschätzung, die allen Gefahren Rechnung trägt“ gemäß Art. 222 Abs. 4 Lissabon-Vertrag vorgenommen werden.

Folgt man dem amtlichen Weißbuch des Bundesverteidigungsministeriums, dann soll der „Verteidigungsfall“ nach Art. 87a GG per Definition vorverlagert werden, um ihn als soge-nannten Quasi-Verteidigungsfall auch bei drohenden Terroranschlägen ausrufen zu können, die damit kriegerischen Angriffen von feindlichen Armeen gleichgesetzt würden.

Militärischer Heimatschutz und Kriegsrecht also nicht nur zur Verteidigung deutscher oder europäischer Interessen am Hindukusch, sondern auch in Hindelang, im Sauerland oder Ber-lin. Soldaten sind jedoch keine Hilfspolizisten, sie sind nicht für zivil-polizeiliche Aufgaben aus-gebildet, sondern zum Kriegführen und mit Kriegswaffen ausgerüstet; sie sind nicht dafür da, personelle Defizite bei der Polizei auszugleichen.

Heimatschutz-Struktur eines „vernetzten Sicherheitsansatzes“

Noch ein paar Worte zum Konzept der „Zivil-Militärischen Zusammenarbeit“ (ZMZ) und zum Neuen „Heimatschutz“, der in den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011 der Bundesregie-rung als „gesamtstaatliche Aufgabe“ definiert wird. Dort heißt es: „Der Beitrag der Bundes-wehr zum Heimatschutz umfaßt alle Fähigkeiten der Bundeswehr zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger auf deutschem Hoheitsgebiet.“ Zu den Aufgaben gehört auch der „Schutz von lebenswichtiger Infrastruktur im Inland“ – also von Versorgungsbetrie-ben, Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das Gemeinwesen und staatlichen Institutio-nen jeglicher Art, „bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungs-engpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden“. Mit dieser Schutzkonzeption könnten im Zweifel auch Streiks oder Blocka-den gegen wirtschaftlich oder sicherheitspolitisch sensible kommerzielle oder staatliche Ein-richtungen militärisch bekämpft werden.

Bundesweit gibt es 470 Landes- und Verbindungskommandos sowie ein „Kommando Streit-kräftebasis“, das die zivil-militärische Zusammenarbeit von Bundeswehr, Polizei und Kata-strophenschutzeinrichtungen koordiniert. Hinzu kommen das „Kommando Territoriale Aufga-ben der Bundeswehr“, das Kommando Feldjäger sowie 30 „Regionale Sicherungs- und Unter-stützungskräfte“ (RSUKr), die aus insgesamt etwa 3.000 Bundeswehr-Reservisten bestehen und die für den „regionalen Heimatschutz“ und als „Sicherheitsvorsorge“ vorgehalten werden. Die RSUKr bilden das Rückgrat der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Sie können im Ernst-fall mobilisiert, bewaffnet und eingesetzt werden – unter anderem zur Sicherung militärischer Anlagen, im Rahmen der Amtshilfe zur militärischen Unterstützung der Polizei zum Schutz zi-viler Objekte und „kritischer Infrastruktur“ oder beim „Inneren Notstand“, also bei der Be-kämpfung innerer Unruhen oder „organisierter und militärischer bewaffneter Aufständischer“ (als Nachfolgeorganisation der 2007 aufgelösten Heimatschutzbataillone). Mit dieser Heimat-schutz-Infrastruktur eines „vernetzten Sicherheitsansatzes“, die das ganze Land überzieht, rückt die Bundeswehr erheblich näher an die zivilen Behörden, auch an die Polizei, heran, wird allmählich zu einer „militärischen Parallelorganisation zum zivilen Krisenmanagement“. Mit der Folge einer schleichenden Militarisierung des landesweiten Katastrophenschutzes, die sich dann auch auf weitere zivile Strukturen wie Rettungsdienste, Krankenhäuser oder For-schungseinrichtungen auswirken wird. Das bedeutet: Katastrophenschutz und Aufstandsbe-kämpfung im Innern rücken immer näher.

Präventiver Sicherheitsstaat im alltäglichen Ausnahmezustand?

Unverkennbar ist die Tendenz und Absicht dieser Art von Sicherheitspolitik und des Antiter-rorkampfes: das Instrumentarium des Ausnahmezustands zu normalisieren und zu schärfen. Doch wem nützt das? Sollen Staat und Gesellschaft mit diesem forcierten Umbau und der Anhäufung von Kontroll- und Repressionsinstrumenten auf Vorrat womöglich nicht nur vor Gewaltkriminalität und Terror geschützt werden? Wappnen sich Staat und EU in Wirklichkeit – gerade in Zeiten verschärfter ökonomisch-sozialer Krisen – vorsorglich auch militärisch gegen mögliche soziale Unruhen und Aufstände hierzulande und in Europa, einem Europa, das sozial gespalten ist und dem noch eine weit tiefere soziale Spaltung droht?

Insofern ist der EU-Gerechtigkeitsindex 2014 der Bertelsmann-Stiftung noch zurückhaltend formuliert („Europa droht soziale Spaltung“); die Forscher warnen vor immer größeren Un-terschieden zwischen Nord und Süd, Zündstoff für den sozialen Zusammenhalt innerhalb der EU. Der Befund dürfte unstrittig sein und wird untermauert durch die Mitteilung des statisti-schen Bundesamtes (2014), daß im Jahr 2013 jeder fünfte Einwohner der Bundesrepublik von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen war, das sind über 20 Prozent der Bevölke-rung und über 16 Millionen Menschen.

Bereits seit dem Jahr 2005 gibt es eine Art geheimer Brennpunkte-Atlanten der Bundesre-gierung (intern: „Atlas der Wut“) mit explosiven Gebieten und Stadtteilen in der Bundesrepub-lik, in denen sich so viel Wut und Haß aufgestaut hat, daß in absehbarer Zeit Krawalle, soziale Unruhen, Revolten und Gewalteruptionen erwartet werden. Diese brisanten, mehrfach jähr-lich aktualisierten Listen, werden gespeist aus „Erkenntnissen“ von Polizei, Staatsschutz, „Verfassungsschutz“ und anderen staatlichen Institutionen, die beim Bundesinnenministerium gebündelt und ausgewertet werden, um auf diese Weise potentielle „Unruhe- und Brandher-de“ ausfindig zu machen.

Und Bundeswehrsoldaten trainieren tatsächlich schon mal Aufstandsbekämpfung, also die Niederschlagung sozialer Unruhen und Aufstände, sowie militärische Interventionen realitäts-nah in urbanen Räumen – so etwa in Israel den Häuser- und Tunnelkampf oder demnächst den „Kampf im urbanen Gelände“ im Gefechtsübungszentrum des Heeres (GÜZ) in der Col-bitz-Letzlinger Heide in Sachsen-Anhalt, wo eine sechs Quadratkilometer große und über 100 Millionen Euro teure militärische Übungsstadt namens „Schnöggersburg“ aufgebaut wird. Hier in der Heide entsteht ein „urbaner Ballungsraum“ mit 520 Gebäuden, einer Altstadt und Hoch-haussiedlung, einem Regierungs- und einem Elendsviertel, mit Industriegebiet und Bahnstati-on, Flughafen, Autobahnausfahrten und Straßen, U-Bahn-Tunnel und Kanalisation, mit Kirche und Moschee, Stadion und Stadtpark mit Fluß und Brücken – also eine typische und komplexe Infrastruktur moderner europäischer Metropolen, dort, wo sich soziale Konfliktlagen zusam-menballen und entladen können. Nach der Fertigstellung der Kampfstadt „Schnöggersburg“ unter Regie des Rüstungskonzerns Rheinmetall (Defence) werden Bundeswehr-, EU- sowie NATO-Kampfverbände gemeinsam den („asymmetrischen“) Krieg in der Stadt proben – für weitere Auslandseinsätze, aber auch für Bürgerkriegs- und Militäreinsätze in europäischen Städten.

Apropos: Ausnahmezustand

Ursprünglicher Sinn eines durch ein autoritäres Regime verhängten Ausnahmezustands war es, für kurze Zeit das Recht förmlich zu suspendieren, um nach erfolgter Krisenbewältigung wieder zur alten Ordnung zurückzukehren. Der moderne – also präventive – Ausnahmezu-stand verliert demgegenüber nach und nach seinen repressiven Ausnahmecharakter und wird zum präventiv-rechtlichen Normalzustand der langfristigen Krisenverhütung und -bewältigung; er erweist sich für den modernen Staat (oder auch für Staatengemeinschaften) immer mehr als „herrschendes Paradigma des Regierens“, wie der italienische Philosoph Gi-orgio Agamben konstatiert.

Dieser Beitrag ist die stark gekürzte und aktualisierte Version eines Referates, das der Autor während der Antikriegskonferenz im Oktober 2014 in Berlin gehalten hat. Der vollständige Text findet sich in dem von Rudolph Bauer herausgegebenen Buch „Kriege im 21. Jahrhundert“ (Sonnenbergverlag, 380 Seiten, 19,80 €, s. dazu auch Ossietzky 10/2015).

Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte; seit 2007 stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen sowie Mitglied der staatlichen Deputation für Inneres der Bremischen Bürgerschaft; Sachverständiger in Gesetzge-bungsverfahren des Bundestages und von Landtagen. Der Mitherausgeber der Zweiwochenschrift Os-sietzky ist Autor zahlreicher Bücher zu Demokratie-, Bürger- und Menschenrechtsthemen.

Aus: Ossietzky Nr 12, Jahrgang 2015 http://www.sopos.org/ossietzky/

Siehe auch:

30.08.2012
Mit Panzern gegen Demonstranten – Der Kampf der Bundeswehr im Landesinnern
Das Bundesverfassungsgericht hat den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren für verfassungsgemäß erklärt. Es überschritt seine Kompetenzen, denn die Verfassungsänderung – und dies ist eine – ist dem Bundestag mit zwei Drittel Mehrheit vorbehalten. Im Folgenden habe ich nachgezeichnet, wie die Bundeswehr seit Jahren illegal Aufgaben okkupiert, die mit der Verfassung nicht im Einklang stehen. Diese meine Darstellung ist unvollständig, z.B. konnte der große Bereich der faktischen Wehrkunde an Bildungseinrichtungen hier nicht behandelt werden.
http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/0986_bw_im_innern.htm