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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

08.08.2013

Wann gibt es endlich Gerechtigkeit?

Nachbericht vom Bundespräsidentenbesuch in Sant´Anna di Stazzema

Die Zeitschrift des gleichnamigen Vereins "Gegen Vergessen - Für Demokratie" hat in ihrer Juliausgabe einen Nachbericht vom Bundespräsidentenbesuch in Sant´Anna di Stazzema (24. März 2013) veröffentlicht. Wir geben diesen Bericht mit freundlicher Genehmigung des Vereins wieder, denn er ist sehr informativ. Sehr verstörend sind allerdings Sätze wie: "Die Opfer hätten ein Recht auf Erinnerung und Gerechtigkeit, auch wenn die Instrumente des Rechtsstaates eine Bestrafung der Täter nicht zuließen." Was ist das für ein Rechtsstaat und was ist das für eine Gerechtigkeit, wenn die Bestrafung der Täter und die Entschädigung für die Opfer verweigert werden? Dass diese beiden Elemente der Bewältigung von Vergangenheit möglich sind, ist doch durchaus bewiesen - warum nicht im Falle derer von Sant´Anna di Stazzema? Hier der Wortlaut des Berichtes:

Gegen Vergessen - Für Demokratie Nr. 77 / Juli 2013

RAG Rhein-Ruhr West

Maren Westermann

Der Bundespräsident in Sant'Anna di Stazzema

Bundespräsident Gauck und der italienische Staatspräsident Napolitano vor dem Mahnmal, das an das Massaker vom 12. August 1944 erinnert.Am 24. März 2013 reiste Bundespräsident Joachim Gauck als erstes deutsches Staatsoberhaupt gemeinsam mit dem italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano nach Sant'Anna di Stazzema. Dieser kurzfristig anberaumte Termin war auf ausdrücklichen Wunsch des Bundespräsidenten zustande gekommen, der gern mit seinem italienischen Amtskollegen nach Sant'Anna reisen wollte. Dieser hatte ihm bei seinem Staatsbesuch in Berlin Ende Februar einen persönlichen Brief des Präsidenten des Opferverbandes, Enrico Pieri, überbracht, der als Zehnjähriger seine ganze Familie in Sant'Anna di Stazzema verloren hatte.

Bei dem SS-Massaker in Sant'Anna di Stazzema in der Toskana hatten am 12. August 1944 über 560 Menschen den Tod gefunden, Frauen, Kinder und Alte, darunter 120 Kinder unter 16 Jahren. Das jüngste Opfer war 20 Tage alt.

Sant'Anna war jahrzehntelang vergessen, das Massaker wurde erst 2004 durch einen Prozess vor dem Militärgericht von La Spezia juristisch aufgearbeitet, bei dem zehn noch lebende Täter in Abwesenheit zur Höchststrafe verurteilt wurden. Zu einem Prozess in Deutschland ist es zur großen Enttäuschung der Überlebenden bisher nicht gekommen. Am 1. Oktober 2012 beschloss die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die Ermittlungen einzustellen und kein Verfahren zu eröffnen.

Dagegen hat inzwischen der Opferverband Beschwerde eingelegt. Der renommierte Kölner Historiker und Gutachter Carlo Gentile bemängelt die unvollständige Beurteilung der Fakten, die wichtige Zeugenaussagen und Dokumente nicht berücksichtigt hat. Eine Entscheidung darüber steht noch aus.

Mit zur Delegation des Bundespräsidenten gehörten u.a. auch der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Dr. Harald Braun, der italienische Botschafter Elio Menzione sowie als Gäste der stellvertretende Leiter der deutsch-italienischen Parlamentariergruppe, MdB Manfred Kolbe, und das Ehepaar Maren und Horst Westermann, das 2002 die Initiative „Eine Orgel für Sant'Anna" gegründet hatte, die unter der Schirmherrschaft der deutschen und italienischen Staatspräsidenten stand.

Zusammen mit dem Ehepaar Westermann entzündet der Bundespräsident eine Gedenkkerze in der Kirche. Im Hintergrund ist die Friedensorgel zu sehen.Mit insgesamt 67 Benefizkonzerten hatten sie Spenden für den Neubau einer Orgel für die Kirche von Sant'Anna gesammelt. Sie wurde 2007 unter dem Namen „Friedensorgel" als Symbol für Frieden und Versöhnung eingeweiht.

Nach einer Begrüßung durch Staatspräsident Napolitano am Flughafen Pisa fuhr der Konvoi in das 600m hoch gelegene Dorf Sant'Anna, wo die beiden Präsidenten zunächst am Mahnmal in einer Zeremonie gemeinsam einen Kranz niederlegten und eine zweisprachige Gedenktafel enthüllten. Danach fand in Anwesenheit von Überlebenden und Angehörigen der Opfer eine Gedenkfeier in dem kleinen Museum von Sant'Anna statt.

Nach einer kurzen Ansprache des Bürgermeisters von Stazzema hielt Enrico Pieri eine bewegende Rede, in der er nicht wie in seinem eigentlich vorbereiteten Text von Vergangenheit und Erinnerung sprach, sondern statt dessen einen flammenden Appell für die Zukunft und den Frieden in Europa hielt. Die Rede des Bundespräsidenten nahm Bezug auf die Benennung von Schuld und Vergebung, jenseits von juristischer Aufarbeitung.

Versöhnung sei ein kostbares Gut, das nur gewährt aber nie verlangt werden könne. Die Opfer hätten ein Recht auf Erinnerung und Gerechtigkeit, auch wenn die Instrumente des Rechtsstaates eine Bestrafung der Täter nicht zuließen. Schuld existiere nicht nur als strafrechtliche sondern auch als moralische und politische Schuld, die durch Benennen von Tatsachen, Verbrechen und Namen im öffentlichen Raum aufgearbeitet werden könne. Schließlich würdigte der Bundespräsident abweichend von seinem gedruckten Text ausdrücklich Enrico Pieris in die Zukunft gerichteten Appell.

Nach der Ansprache des sichtlich bewegten Giorgio Napolitano besuchten die beiden Staatspräsidenten am Ende der Gedenkfeier die Kirche, in der ein Teil der Einwohner, die nicht im Museum Platz gefunden hatten, auf einer Videoleinwand die Gedenkfeier hatte verfolgen können. Es wurde auf der „Friedensorgel" ein Stück von J.S. Bach gespielt, und Bundespräsident Gauck zündete spontan gemeinsam mit dem Ehepaar Westermann eine Gedenkkerze an. Auf dem Rückflug nach Berlin nahm sich Bundespräsident Joachim Gauck noch die Zeit zu einem persönlichen Gespräch mit Maren und Horst Westermann. Für sie schloss sich so auf schöne Weise ein Kreis, der 2002 mit der Übernahme der Schirmherrschaft für die Orgelinitiative durch den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau begonnen hatte.

Joachim Gauck bei der Gedenkfeier im Museum von Sant'Anna di Stazzema.Seit 2008 veranstaltet der deutsch-italienische Verein „Freunde der Friedensorgel" Sant'Anna di Stazzema jeden Sommer in Sant'Anna eine hochkarätige Orgelkonzertreihe und Vorträge zur deutsch-italienischen Geschichte, um auf diese Weise durch die Universalsprache der Musik die Erinnerung und Aussöhnung lebendig zu erhalten.

Die Konzertsaison 2013 ist ausdrücklich dem europäischen Gedanken gewidmet, es werden Musiker aus sieben europäischen Ländern teilnehmen. Folgende Konzerte wird es geben:

7. Juli Jorge Garcia Martin (Salamanca),

14. Juli Rudolf Kelber (Hamburg), mit Joachim Kelber (Wien), Viola,

21. Juli Roland Maria Stangier (Essen),

28. Juli Magdalena Malec (Warschau), 4. August Marju Riisikamp (Tallinn),

11. August Elisabeth Zawadke (Luzern),

18. August Christian Schmitt (Saarbrücken), mit Tatjana Ruhland  (Stuttgart), Flöte, Max Westermann (München), Trompete,

25. August Giovannimaria Perrucci (Fano),

1. September Giorgio Parolini (Mailand)

Die beiden Überlebenden Enrico Pieri und Enio Mancini, die 2010 für ihre Versöhnungsarbeit mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet worden waren, sind seit 2008 im Vorstand des Vereins aktiv. Die Redetexte der beiden Präsidenten finden sich auf der Website der deutsch-italienischen Gesellschaft „Freunde der Friedensorgel Sant'Anna di Stazzema".

http://friedensorgelsantanna.italienfreunde.de/

Ein Replik darauf in Gremlizas Kolumne in konkret zum Gauck-Besuch in Italien.