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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

09.12.2012

Über das Leben - oder: Überleben

Ein Theaterstück von Beate Albrecht - gefördert auch von der VVN-BdA

Das Stück "Über das Leben" ist gedacht für alle ab 11 Jahren. Es ist ein Stück für zwei Schauspielerinnen, einen Tänzer, einen Saxophonisten und möglichst weiteren Philharmonikern. Es ist ein Theaterstück über den Alltagswiderstand in der NS-Zeit und den Wunsch, "zu latschen statt zu marschieren". Mit Live-Musik, Schauspiel und Tanz taucht es ein in eine bewegende Zeit und erzählt von Schicksalen, Freundschaft und Feindschaft.

Am Samstag, dem 8. Dezember 2012 fand wieder eine Vorstellung mit der Wittener Theatergruppe "theaterspiel" statt, die das Stück geschaffen hat. Der Schauplatz war die Kölner Mahn- und Gedenkstätte EL-DE-Haus, die neben der Rosa Luxemburg Stiftung (RLS), der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, dem Freundschaftsverein Tczew-Witten e.V., und der VVN-BdA zu den Förderern des Projekts gehört.

Ulrich Sander, Autor von "Jugendwiderstand im Krieg" und Sprecher der VVN-BdA, führte im Rahmen einer Diskussion nach der Vorstellung im EL-DE-Haus aus:

Vortrag von Ulrich Sander Köln 8.12.12 im EL-DE-Haus, anschließend an das Theaterstück "Über(das)Leben" von Beate Albrecht

Sehr selten wird hierzulande so etwas wie der Jugendwiderstand thematisiert. Allerdings dann nur in reduzierter Form. Es gab die Weiße Rose, es gab die Edelweißpiraten. Die einen werden geachtet, man kann nicht an ihnen vorbeisehen, weil sie schon vor 1945 international bekannt wurden. Die anderen wurden lange Zeit als Kleinkriminelle dargestellt und erst sehr spät begann man, sie wegen ihres Kampfes gegen die Nazis anzuerkennen. Insgesamt ergeht es dem Jugendwiderstand wie dem Arbeiterwiderstand, er kommt kaum vor. Es könnten ja "die Falschen" geehrt werden - die Kommunisten zum Beispiel. Sie stellten 70 Prozent des Widerstandes.

Doch der Jugendwiderstand war da und zwar vielfältig. Prof. Karl Heinz Jahnke (1934-2009), der größte Kenner und Erforscher des Jugendwiderstandes, legte Kurzbiographien von insgesamt 268 Jugendlichen vor, - 26 von ihnen waren junge Frauen -, die von 1933 bis 1945 von den Nazis als Widerstandskämpferinnen und -kämpfer getötet wurden. (Siehe K.H.Jahnke "Jugend unter der NS-Diktatur 1933-1945" 2003 Rostock)

Jahnke wies darauf hin, dass in der Zeit von der ersten Flugblattverteilung der Weißen Rose im Juni 1942 bis zur letzten Gerichtsverhandlung gegen Weißen-Rose-Mitglieder im Oktober 1943 49 ebenfalls sehr junge Widerstandskämpfer verurteilt und hingerichtet wurden. Sie seien weithin unbekannt geblieben.

Unbekannt blieben auch viele der jungen Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die überlebten, aber kaum darüber berichteten. Ihnen wird mit dem Theaterstück von Anni, ihren Eltern und ihrer Oma "Über(das)Leben" eine großartige Würdigung zuteil.

Der aktuelle Umgang mit diesen Widerstandsgruppen ist eine Ausnahme. Eine Ausnahme überhaupt, aber auch eine im Zusammenhang mit den Beiträgen kultureller und künstlerischer Art zur Auseinandersetzung mit Rassismus und Neofaschismus heute. Hier dominiert das "Bunt satt braun" und der Ruf nach Toleranz. Nichts dagegen und alles dafür, aber der geschichtliche Hintergrund kommt leicht zu kurz. Da steuert Beate Albrecht dagegen. Danke für diese Veranstaltung!

Der Jugendwiderstand zeichnete sich oftmals dadurch aus, den Kampf ohne Bezug zur demokratischen Kultur der Zeit vor 1933, ihrer frühen Kindheit, aufgenommen zu haben, und zwar ungeachtet des Siegesrausches, in dem sich Hitler und die meisten Volksgenossen noch befanden.

Konnte die Nachkriegsgesellschaft an den Schriften der Anne Frank und Weißer Rose nicht vorbeikommen, deren sich "das Ausland" schon lange angenommen hatten, so wurden die Jugendgruppen wie z. B. jene um Helmuth Hübener (Hamburg), Walter Klingenbeck (München) und Josef Landgraf (Wien) - allesamt "Rundfunkverbrecher" - nicht den nachwachsenden Generationen zum Vorbild gegeben. Zu leicht hätte die Frage aufkommen können: Wenn diese jungen Leute wussten und handelten, warum dann nicht die Menschen gleichen und höheren Alters, die nach 1945 die Nachkriegsgesellschaften politisch und kulturell anführten?

Grund genug, endlich junge Menschen von heute mit dem Widerstand Gleichaltriger von damals bekannt zu machen. Ich möchte das Beispiel der jugendlichen "Rundfunkverbrecher" nennen, deren Technikverständnis vermutlich am meisten dem von heute nahekommt. Dies obwohl sie nur Radios hatten, - Fernsehen, Computer, Handys gab es noch nicht. Nicht einmal ein Netztelefon war in ihren Kreisen vorhanden, sie mussten Telefonzellen benutzen und haben dort dann auch ihre Flugblätter hinterlegt.

Jürgen Zarusky vom Institut für Zeitgeschichte in München hat eine kleine Schar von unabhängig wirkenden "Rundfunk"-Widerständlern ausgemacht, und ich selbst habe zur Jugendwiderstandsgruppe um Helmuth Hübener aus dieser Spezies gearbeitet. Diese "Rundfunkverbrecher" wurden von den Nazis als Feinde des Reiches behandelt, weil diese die Rundfunkpropaganda des Auslands, die als Kriegswaffe anzusehen war, im Reich verbreiteten. Dies galt als Landesverrat, weil es angeblich die Wehrkraft des deutschen Volkes zersetzte.

Zarusky berichtete: 1941 entstanden in Hamburg, München und Wien unabhängig und ohne Kenntnis voneinander kleine oppositionelle Jugendgruppen, die Auslandssender hörten und das Gehörte verbreiteten, in Flugblättern und Wandparolen für den Sturz des NS-Regimes wirkten. Es handelte sich jeweils um Vierergruppen männlicher Jugendlicher im Alter zwischen 16 und 18 Jahren mit einem sich deutlich abhebenden, aktivistischen und frühreifen Anführer. In Hamburg war dies Helmuth Hübener, in München Walter Klingenbeck, in Wien Josef Landgraf. Die Mitglieder aller drei Gruppen, unter ihnen keine Mädchen und jungen Frauen, kamen vorwiegend aus christlich geprägten Familien der Unter- und unteren Mittelschicht. Bei allen spielte das Abhören sogenannter "Feindsender", insbesondere der Programme der BBC, eine entscheidende Rolle. Über eine ausformulierte politische Programmatik verfügte keine der drei Gruppen, jedoch setzten sie alle mehr oder weniger entschieden auf einen Sieg der westlichen Kriegsgegner, Hübener auch auf den der Sowjetunion. Und er hat nach Sophie und Hans Scholl und Anne Frank das umfangreichste schriftliche Material, z.T. mit literarischem Anspruch, hinterlassen.

Anfang Februar 1942 wurde Hübener von seinem Vorgesetzten denunziert, der beobachtet hatte, wie er erfolglos einen Mitlehrling dafür gewinnen wollte, ein Flugblatt zur Verbreitung an Zwangsarbeiter ins Französische zu übersetzen. Am 11. August 1942 wurde Hübener in Berlin vom Volksgerichtshof wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und anderer Delikte zum Tode verurteilt. Seine drei Mitangeklagten Schnibbe, Wobbe und Düwer erhielten Gefängnisstrafen zwischen vier und zehn Jahren. Am 27. Oktober 1942 wurde Hübener in Berlin-Plötzensee enthauptet. Hübeners letzten Worte vor Gericht waren: Ich muß nun sterben, obwohl ich nichts unrechtes getan habe; aber Ihr kommt auch noch dran, so zu den Richtern gewandt. Sie kamen nicht dran. Niemand wurde für den Mord an Helmuth Hübener bestraft, allein der Denunziant Heinrich Maohns kam vor Gericht, wurde aber durch den Bundesgerichtshof letztlich freigesprochen mit einer nur profaschistisch zu nennenden Begründung.

Klingenberg aus München griff im Sommer 1941 den Appell der BBC auf, das V-Zeichen als Symbol des Sieges der Alliierten zu verbreiten, und brachte, unterstützt durch Daniel von Recklinghausen, dieses Zeichen groß mit Lackfarbe an etwa 40 Gebäuden in München an. Er plante die Verbreitung von Flugblättern mit dem Motto "Hitler kann den Krieg nicht gewinnen, sondern nur verlängern" und arbeitete zusammen mit seinen Freunden, die nicht nur denselben katholischen Hintergrund hatten wie er, sondern auch seine Radiobastelleidenschaft teilten, am Bau eines eigenen Senders zur Ausstrahlung antinazistischer Propaganda.

Am 26. Januar 1942 wurde Klingenbeck, nachdem er sich leichtsinnigerweise mit der V-Aktion gebrüstet hatte, denunziert und verhaftet, kurz darauf auch seine Freunde Hans Haberl und Daniel von Recklinghausen. Der Volksgerichtshof verurteilte die drei am 24. September 1942 zum Tode, einen vierten, am Rande beteiligten Jugendlichen zu acht Jahren Zuchthaus. Während Haberl und von Recklinghausen zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt wurden, wurde Klingenbeck am 5. August 1943 in München-Stadelheim hingerichtet.

Die Wiener Jugendlichen Josef Landgraf und Anton Brunner wurden am 23. August 1942 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, allerdings dann zu langer Haft "begnadigt".

Von den drei jugendlichen Feindsenderhörergruppen ist nur die von Helmuth Hübener in einem bestimmten Umfang bekannt geworden - aber doch auch nicht wirklich. Günter Grass und Paul Schallück haben Helmuth Hübener ein literarisches Denkmal gesetzt. Grass schrieb über ihn in seinem 68er Roman "Örtlich betäubt", und er zitierte einen Gedenkartikel aus der Gewerkschaftszeitung "Deutsche Post", den ich damals geschrieben hatte. Als Grass' Buch erschien, löste es größte Aufregung aus, weil ein 17jähriger Schüler darin das Verbrennen eines deutschen Langhaardackels als Protest gegen die Hinnahme des verbrecherischen Vietnam-Krieges der USA durch die westdeutsche Öffentlichkeit anpries. Der Schüler präsentierte eines Tages seinem Studienrat, der insgeheim hoffte, sein Lieblingsschüler würde ihn wegen seiner Vergangenheit als Jugendbandenführer (meinte sich Grass damit selbst?) zum Vorbild auserwählen, meinen Zeitschriftenartikel mit den Worten: "Das hat es gegeben. Da ist Ihre Jugendbande nix gegen. Über ein Jahr haben die Flugblätter gedruckt und verteilt. Schon als Sechzehnjähriger fing er damit an. Nix von Frühanarchismus."

Im weiteren Verlauf der Szene kommen der Lehrer und der Schüler auf den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) zu sprechen, auf seine hohe Nazifunktion als Auslandsrundfunkchef des Auswärtigen Amtes. Der Schüler sagt: "Den will ich nicht. Der stinkt doch. Wenn ich den sehe, im Fernsehen und so, könnte ich kotzen. Der, genau der hat den Hübener umgebracht, auch wenn der anders hieß, der ihn umgebracht hat."

Grass hat immer wieder - nicht nur in "Örtlich betäubt" - den Jugendkonflikt aus dem Krieg thematisiert und das in einer antifaschistischen, Vorbild gebenden Weise. Die einseitige Betonung der Geschichtsschreibung zum Widerstand vor allem des "Offiziershintergrunds", des Adels und der Weimarer Politiker war ihm, Grass, zuwider, wie er im US-Fernsehen sagte. Er sah darin den Versuch, den Widerstand als eine exklusive Handlungsweise großer Helden darzustellen, um von der eigenen Untätigkeit der Zeitgenossen abzulenken. Dass da einer war, der wie Hübener nicht einmal Flakhelfer sein wollte - während Grass bekanntlich noch Kriegsfreiwilliger wurde -, der in seinen Flugblättern erklärte, dass die Bombardierung Hamburgs die Frucht des Hitlerschen Krieges war, der unzähligen Deutschen das Leben kosten wird, das hatte wohl Grass im Kopf, als er in dem Film "Truth and Conviction - Huebener Story" sagte: "Diese Geschichte nagt an uns, die wir zu jung waren, um das ganz und gar kapieren zu können, aber doch alt genug waren, um die Symptome des Unrechts zu erkennen. Warum haben wir nicht nachgefragt, warum sind wir nicht bohrender gewesen."

Ich betone die Haltung von Günter Grass deshalb hier so sehr, weil er der einzige Prominente aus seiner Generation war, der den Widerstand Gleichaltriger würdigte. Das hätten andere doch auch tun können.

Gut dass es nun mit diesem Theaterstück geschieht. Die "anderen" aus Hübeners Generation sind in die Fußstapfen der alten Nazis, die in der Nachkriegsgesellschaft viel zu  bestimmen hatten, geraten. Dem letzten CDU-Kanzler folgte als CDU-Regierungschef der Helmut Kohl, der die Missachtung des jugendlichen Widerstandes mit seinem Gerede von der "Gnade der späten Geburt" geradezu auf die Spitze trieb.

Mit großer Bestürzung fand ich in den Wiedergutmachungsakten meine Schwiegervaters diesen Vorgang. Es handelt sich um ein Gutachten aus dem Jahr 1966, es stammt aus der Feder eines der höchsten Nazi-Mediziner und Nachkriegspsychiaters, Hans Bürger-Prinz, der nach dem Krieg in Hamburg der allein zuständige Gutachter in Wiedergutmachungsfällen war. Er bescheinigte meinem Schwiegervater, daß ihm keine Entschädigung zukomme, denn »der Kläger nahm die Risiken einer Verfolgung im Sinne einer mehr oder weniger bewußt gewählten Selbstbewährung im Einsatz für die Idee auf sich, unterscheidet sich darin also gegenüber der unausweichlich Situationen eines rassisch Verfolgten«. Der Kommunist Artur Burmester war also selbst schuld, er hätte den Widerstand unterlassen sollen, dann hätten ihm die Nazis nichts angetan. Dabei wird in dem Gutachten durchaus deutlich, wie der Junge gelitten hat, der bereits 1933 mit 17 Jahren in die Fänge der Gestapo geriet und insgesamt dreieinhalb Jahre Haft und »Bewährungseinheit 999« sowie Zwangsarbeit durchlitt. In der Haft wurde er mißhandelt, getreten, um »Geständnisse« von ihm zu erzwingen. Die Täter wurden nicht bestraft, sie hatten nach 1945 ein Recht auf Weiterbeschäftigung. Die Organisation des Artur Burmester war die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Sie war in Hamburg in den sechziger Jahren verboten, so auch in einigen anderen Bundesländern.

Traute Sander geb. Burmester und andere Töchter von vor wie nach 1945 verfolgten Antifaschisten gründeten vor einem Jahr die Gruppe "Kinder des Widerstandes", damit unsere Eltern nicht vergessen oder weiter in ein falsches Licht gerückt werden.

Als ich zum ersten Mal mich mit jungen Widerständlern befasste, las ich die "Reportage unterm Strang geschrieben" von Julius Fucik, dem Prager Journalisten und Widerstandskämpfer, den die Nazis - wie Hübener - in Plötzensee ermordeten. In seiner insgeheim in Gestapohaft geschriebenen Reportage heißt es an einer Stelle: "Die ihr diese Zeit überlebt, vergeßt nicht. Vergeßt die Guten nicht und nicht die Schlechten. Sammelt geduldig die Zeugnisse über die Gefallenen. Ich möchte, daß man weiß, daß es keine namenlosen Helden gegeben hat. Sucht euch wenigstens einen von ihnen aus und seid stolz auf ihn."

Ich suchte mir Helmuth Hübener als einen solchen Menschen aus. Und ich möchte dafür danken, dass er auch bei seinen Arbeitskolleginnen und -kollegen in der Hamburger Sozialbehörde nicht vergessen wurde, die Jahr für Jahr seiner gedenkt.  Es ist großartig, dass Ihr Theatermacher Euch mit der Anni eine Figur geschaffen habt, die dem Vorschlag Fuciks entspricht: Sucht euch einen oder eine aus und seid stolz auf sie. Stolz auch in dem Sinne, dass Ihr die von den Nazi ermordeten Eltern der Anni mit einbezieht, ohne die sie es doch nicht geschafft hätte, alles durchzustehen, und die ihr vermittelten: "Einer von uns muß doch überleben, um später alles zu berichten".

Und schließlich möchte ich noch betonen: Ja, die Mahnung eines Helmuth Hübener ist heute noch aktuell: "Wenn alles sich rührt, haben die Nazis auskalkuliert," heißt es einem Gedicht von ihm: Daher meine ich, es gilt sich gegen neuen Ungeist, neue Nazis, neuen Rassismus, neue Kriege zu rühren. Es gilt, sich rechtzeitig zu wehren, damit das Sich-Wehren nie mehr lebensgefährlich wird. Denn dann kann es zu spät sein.

Die Veranstaltung als PDF.

Siehe auch:

"ÜBERdasLEBEN oder meine Geburtstage mit dem Führer"
Uraufführung der Jugendtheaterproduktion