04.09.2011
»Wir lassen uns nicht beiseite
schieben« Kinder
und Enkel von Widerstandskämpfern fordern ihr Recht. Ein
Gespräch mit Alice Czyborra Der
Aufruf »Hinterbliebene von NS-Opfern fordern ihr
Recht« wurde von den Töchtern antifaschistische
Widerstandskämpfer Alice Czyborra (Gingold), Traute Sander
(Burmester), Inge Trambowsky (Kutz) und Klara Tuchscherer (Schabrod)
initiiert. Er kann unter
www.nrw.vvn-bda.de/texte/0821_hinterbliebene_ns_fordern.htm gelesen und
unterstützt werden Jan
Greve Alice
Czyborra ist die Tochter
der Widerstandskämpfer Peter und Ettie Gingold Sie haben sich
gemeinsam mit drei weiteren Töchtern antifaschistischer
Widerstandskämpfer mit dem Appell »Hinterbliebene
von NS-Opfern fordern ihr Recht« an die
Öffentlichkeit gewandt. Um wen geht es? Es
geht um die Probleme der zweiten und dritten Opfergeneration, die
Kinder und Enkel von zumeist politisch Verfolgten und
Widerstandskämpfern. Viele von ihnen litten unter den
Maßnahmen, die gegen ihre Eltern ergriffen wurden. Sie kamen
als Kinder in Nazi-Familien zur »Umerziehung«,
wurden in den Schulen diskriminiert oder in Heime gesperrt. Ich selbst
konnte nur überleben, weil mich mutige Menschen in Frankreich
als jüdisches Kind versteckten, während meine Eltern
verfolgt wurden. Nach dem Krieg wurde meiner Familie als ehemaligen
Emigranten viele Jahre die deutsche Staatsbürgerschaft
verwehrt. Mit dem Kalten Krieg waren unsere Familien ja erneut von
Verfolgung betroffen. Inwiefern? Man
muß sich mal die Situation in jener Zeit vorstellen, in der
viele von uns Kinder und Jugendliche waren. In der Bundesrepublik
konnten Eliten der Nazizeit aus Wirtschaft, Militär und dem
Staats- und Terrorapparat des Naziregimes, darunter Justiz,
Gesundheitswesen, Polizei und Geheimdienste, wieder tätig
werden, Einfluß nehmen und dabei weiterhin gegen
Antifaschisten vorgehen. Ärzte aus der Nazi-Zeit wurden wieder
als Gutachter eingesetzt, um die Entschädigungsrechte der oft
politisch, rassisch und religiös Verfolgten in Zweifel zu
ziehen. Ehemalige Gestapobeamte fanden in der Polizei der BRD wieder
Verwendung, und man setzte sie auch ein, um die demokratischen Rechte
der Verfolgten erneut anzutasten. Organisationsverbote führten
zur Bestrafung der Widerstandskämpferinnen und
-kämpfer, während Naziorganisationen wie die NPD sich
ungehindert entfalten konnten. Berufsverbote wurden gegen die Kinder
von Antifaschisten ausgesprochen, und unser Versammlungsrecht wurde
eingeschränkt. Sie fordern
Wiedergutmachung und Rehabilitierung. Wie kann diese aussehen?
Das ist sehr unterschiedlich. Wer aus
einem Hause
kam, in dem die Erwachsenen sowohl unter Hitler wie unter Adenauer
politisch verfolgt wurden, der hatte oft direkt materielle Nachteile,
denn den Eltern wurden die Entschädigungen zum Teil wieder
aberkannt. Es geht aber nicht nur um materielle Nachteile; der
Widerstand der Eltern wurde nicht anerkannt, das heißt die
Kinder waren weiterhin Außenseiter. An
wen richten sich Ihre Forderungen? Zunächst
an die Öffentlichkeit und die Medien. In vielen
europäischen Ländern gibt es Organisationen der
»Kinder des Holocaust«. In Deutschland gibt es das
nicht. Die »Kinder des Widerstandes« sind kein
Thema. Das liegt auch daran, daß wir lange geschwiegen haben.
Das wollen wir ändern. Hat Ihr Appell
schon Gehör gefunden? Der
Bundeskongress
der VVN-BdA im April in Berlin hat sich einstimmig unseren Forderungen
angeschlossen. Es sollen Treffen von Opfern der Kinder- und
Enkelgeneration stattfinden. Dort werden wir uns weiter austauschen.
Alarmiert hat uns jetzt ganz aktuell die Tatsache, daß in
Bayern vom Innenminister ein Portal gegen Linksextremismus ins Netz
gestellt wurde, mit dem Opfer des Faschismus und damit ihre
Hinterbliebenen an den Pranger gestellt werden sollen. Die VVN in
Bayern soll die Gemeinnützigkeit verlieren. Dagegen
müssen wir uns wehren. Wichtig
sind auch
die Freundeskreise von Gedenkstätten, denn dort besteht leider
die Tendenz, die Hinterbliebenen aus der Gedenkarbeit auszugrenzen. Wir
lassen uns aber nicht beiseite schieben. Aus:
Antifa, Beilage der jW vom 07.09.2011 http://www.jungewelt.de/beilage/art/2665?sstr=gingold |