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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

23.10.09

"Wer die Verfassungsnorm ernst nimmt, verläßt ... ihren 'Boden'"

Die unbekannte FDP von Nordrhein-Westfalen

Die VVN-BdA NRW legt hiermit einige Beiträge vor, die ein Schlaglicht auf die FDP von Nordrhein-Westfalen werfen. Dieser Landesverband hat eine lange rechts-konservative Geschichte und hat sich aus dieser Tradition nie gelöst. Schon im Wahlkampf 1949 forderte er ein Ende der juristischen Auseinandersetzungen mit den NS-Verbrechen. Nie war er „die Bürgerrechtspartei“, wenn auch wichtige Repräsentanten mit bürgerrechtlichem Engagement aus NRW stammen. Einer davon, Gerhard Baum, sagte kürzlich, er halte seine Klagen zugunsten der Bürgerrechte auch angesichts der gegenwärtigen Berliner Koalitionsverhandlungen aufrecht. Derzeit nimmt die nordrhein-westfälische FDP entscheidenden Einfluss auf die Regierungsbildung und –politik in der Bundeshauptstadt. Daher erscheint es hilfreich, näheres über sie zu wissen. Bezeichnend ist besonders ein Dokument: Der offenbar verfassungsfeindliche Entwurf eines neuen Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen, vorgelegt durch die FDP-Landtagsfraktion NRW im Februar 1995, rezensiert im „Schwarz-Braunbuch“ der VVN-BdA von 1995. Im Folgenden wird diese Rezension ebenso dokumentiert wie FDP-kritische Beiträge aus „Ossietzky“, verfasst von Werner Stertzenbach und Ulrich Sander. (Der Verfassungs-„Entwurf“ der FDP liegt uns vor.)

Die unterwanderte FDP

Von Werner Stertzenbach 

OSSIETZKY 27.7.2002 15/2002

Wer spricht noch vom Fall Möllemann? War da was? Wie hätte denn ein Liberaler je in Verdacht geraten können, Antisemitismus für den Wahlkampf zu instrumentalisieren? Kaum zu glauben.

Ich empfehle einen Blick in das FDP-Archiv, wo ein amtlicher britischer Bericht aus der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland über das Weiterbestehen nazistischer Gruppen liegt. Eine große Rolle spielte damals ein Dr. Werner Naumann, der zu den engsten Mitarbeitern des Reichspropagandaministers Goebbels gehört hatte und am 1. Mai 1945 sogar dessen Nachfolger geworden war. Aus Berlin geflüchtet traf er in Düsseldorf einen ehemaligen Beamten seines Ministeriums, Herbert Lucht, und trat als Geschäftsführer in dessen Import- und Exportfirma ein. Als Lucht 1951 starb, wurde Naumann zusammen mit Luchts Witwe Slissy, einer belgischen Gräfin, Eigner der Firma in Büderich. In dieser Funktion knüpfte er vielseitige Kontakte mit wirtschaftlichen Führungskreisen. Zugleich unterhielt er als der eingefleischte Nazi, der er war und blieb, enge Verbindung zu seinen Kumpanen aus den obersten Etagen des Verbrecherstaates. Ihm gelang es – dem britischen Bericht zufolge – unter anderem, seinen vormaligen Untergebenen Wolfgang Diewerge als persönlichen Assistenten des nordrhein-westfälischen FDP-Vorsitzenden Friedrich Middelhauve unterzubringen. Diewerge war SS-Standartenfüher gewesen, Propagandaleiter im Gau Danzig-Westpreußen und Chef der Rundfunkabteilung des Reichspropagandaministeriums.

Zum Naumann-Kreis gehörte Ernst Achenbach, Bevollmächtigter des Konzerns Springoruim+Haniel, der auch als FDP-Abgeordneter im Bundestag starken Einfluss hatte. Er hatte Naumanns Kumpanen geraten, in die FDP einzutreten, sie zu unterwandern und ihre Führung in die Hand zu nehmen.

Nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern z.B. auch in Niedersachsen bot die FDP vielen Nazis ein neues Betätigungsfeld. Näheres darüber findet sich in dem Buch „Die unterwanderte FDP“ von Hans Georg Marten (Göttingen 1978).

Gewiß kann man die heutige FDP nicht für das verantwortlich machen, was damals geschah. Aber man sollte nicht vergessen, dass in eine sich liberal nennende Partei, in der jahrzehntelang solche wirklichen Liberalen wie Hildegard Hamm-Brücher, Burkhard Hirsch und Gerhard Baum mitgearbeitet haben, schon damals ganz und gar illiberale Tendenzen eindringen konnten.

Ulrich Sander 

FDP-Hilfe für die NPD 5.2.2007

„Freiheit vor Gleichheit“ ist eine der Hauptlosungen der seit einem Jahr amtierenden Landesregierung in Düsseldorf. Dieses Motto der Ellenbogenfreiheit gegen die soziale Gerechtigkeit stammt aus dem Wertekanon der konservativen nordrhein-westfälischen FDP, die nun wichtige Ministerien besetzt. Seit Gründung des Landes steht sie deutlich rechts von der CDU. Schon im Bundestagswahlkampf 1949 forderte sie den „Schlußstrich“ unter „Entnazifizierung, Entrechtung, Entmündigung“. Bald darauf geriet der Landesverband beinahe in die Hände des ehemaligen Goebbels-Stellvertreters Werner Naumann und seiner Gauleiter-Kumpane. Nur der Zugriff der britischen Besatzungsmacht verhinderte das.

Gegenüber den heutigen Nazi-Kameradschaften und der NPD hält Innenminister Ingo Wolf (FDP) „Aufklärungsarbeit“ unter der Jugend und das Wirken des Verfassungsschutzes für ausreichend. Ein neues Verbotsverfahren gegen die NPD hält er geradezu für „politisch gefährlich“. Die Bekämpfung der Nazi-Präsenz auf der Straße hält Wolfs Ministerium nicht für vordringlich. Beim „Aufstand der Anständigen“ gehe es allein darum, die „verfassungsmäßige Ordnung“ zu schützen. „Grobe Störungen“ der nicht verbotenen Naziaufmärsche seien mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe zu bestrafen, schrieb das Ministerium drohend an die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten. Die VVN hatte in einer Petition gefordert, gegen die Naziaufmärsche müsse „die Politik“ etwas Wirkungsvolles unternehmen.

Angesichts des nationalen Fahnenmeers während der Fußballweltmeisterschaft hatte die FDP-Führung erneut den Schlußstrich verlangt; Westerwelle: „Der Kurs auf die Geschichte verliert seine Bedeutung aber gegenüber einem Patriotismus, der unaufgeregt und gänzlich aggressionsfrei daherkommt.“ (Zitat aus FR 1.9.06; noch ein schönes Zitat: „Die Zurückhaltung gegenüber Gefühlen von Patriotismus in Deutschland resultierte bislang vornehmlich aus Gründen, die von den Menschen heute nicht mehr akzeptiert oder nicht mehr problematisiert werden“.) Die FDP-Landtagsfraktion kündigte daraufhin ein ganzes Pflichtprogramm in Patriotismus und Nationalismus für den Schulunterricht an: „Es ist höchste Zeit, daß wir Schülern ein positives Verhältnis zur Nation und nationalen Symbolen vermitteln.“ Von der Klasse 5 an sollen alle Schüler „verbindlich über nationale Werte, deutsche Kultur, Bedeutung der schwarz-rot-goldenen Flagge und die Nationalhymne diskutieren.“ Es müsse Schluß damit sein, die „Patriotismus-Debatte in Deutschland“ länger zu tabuisieren, sagte der Fraktionsvorsitzende Gerhard Papke. (laut Interview mit Westfalenpost, Hagen, 16.9.06)

Das ist das alte Rezept der etablierten Rechten: Übernahme rechter Parolen zur Bekämpfung der Rechten – wie beispielsweise schon bei der Übernahme der Asylpolitik der „Republikaner“ Anfang der 90er Jahre. „Wir ermöglichen rechtsextremen Aktivisten und Mitläufern, sich von ihrer Perspektivlosigkeit (!) zu verabschieden und von falschen (!) Freunden zu trennen,“ bot Ingo Wolf den Nazis an, – auf dass sie endlich eine Perspektive und richtige Freunde finden? Bei der FDP?

Zu Minister Wolfs Umgang mit NPD und „Kameradschaften“ befand die VVN-BdA, weder die Polizei noch das Verfassungsschutzamt des Landes böten Gewähr für wirkungsvolles Vorgehen gegen Rechts. „Zumeist hat sich die Polizei vor allem damit befaßt, den Antifaschisten ihr Demonstrationsrecht und das der Verfassung gemäße demokratische Widerstandsrecht streitig zu machen. Der Verfassungsschutz, der jahrzehntelang hohe NPD-Funktionäre als V-Leute bezahlte und nicht bereit war, das einem NPD-Verbot entgegenstehende V-Leute-System abzuschaffen, kann das Problem gleichfalls nicht lösen, sondern ist Teil des Problems.“

Ulrich Sander über die NRW-FDP, ab S. 187

Aus SCHWARZ-BRAUN-BUCH, hg. A. Rieger und U. Sander 1995, Pahl Rugenstein, Bonn

Im antimilitaristischen Sinne wie auch im Sinne der Lehren aus der Politik der Konzerne wurden die Verfassungen der Bundesländer in den Jahren 1945 bis 1950 formuliert. Gegen diese antifaschistischen Verfassungsgrundsätze hat – weitgehend unbeachtet – die FDP im größten Bundesland Deutschlands, in Nordrhein-Westfalen, den Generalangriff gestartet. Auch wenn die FDP mit ihrer Politik à la Haider-FPÖ zunächst gescheitert ist, soll auf dieses Projekt der FDP hier näher eingegangen werden, weil es uns noch beschäftigen wird.

In NRW nennt sich die FDP neuerdings ganz ungeniert „Wirtschaftspartei”. Wenn man die Aktivitäten der FDP in Berlin mit ihrem rechtsextremistischen Stahl-Flügel und in NRW mit ihrem Spitzenmann Achim Rohde anschaut, der es ablehnte, sich von dem Aufruf der Neofaschisten und Rechtskonservativen „Gegen das (angebliche) Vergessen” zu distanzieren (Westfälische Rundschau, 26. 4. 1995) und der in der neurechten, d.h. rechtsextremen „Jungen Freiheit” für die FDP warb, dann kann es nur den Schluß geben: Große Teile der FDP bemühen sich, zu einer FPÖ für Deutschland zu werden. Sie wollen mit dem Geld der Konzerne die moderne Rechtspartei schaffen, die die „traditionellen” Neofaschisten überflüssig macht. Hinter ihrem Anti-Antifaschismus als Grundkonsens für eine neue Landesverfassung für das 17-Millionen-Einwohnerland NRW stecken alle Wunschträume des großen Geldes für eine Verfassung, die dem wieder „normal” gewordenen Deutschland entspricht.

Denn der Entwurf der FDP für eine Landesverfassung hat eigentlich nur ein Ziel: Alle, aber wirklich alle Bestimmungen zu eliminieren, die nach 1945 als Reaktion auf die faschistische Barbarei dort verankert worden waren.

Die FDP nennt es die Landesverfassung des „schlanken Staates”:

  • Gestrichen wird das Sozialisierungsgebot, das bisher (in Artikel 27) lautet: „Großbetriebe der Grundstoffindustrie und Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum überführt werden. Zusammenschlüsse, die ihre wirtschaftliche Macht mißbrauchen, sind zu verbieten.” Die FDP will solchen Mißbrauch wieder erlauben und sagt dazu: „Die Zeiten des Sozialismus sind endgültig vorbei.” (Rohde)
  • Als „Ausfluß überholten Denkens der Montanindustrie” (Rohde) soll der Mitbestimmungs-Artikel 26 beseitigt werden, der lautete: Es „wird das Recht der Arbeitnehmer auf gleichberechtigte Mitbestimmung bei der Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung anerkannt und gewährleistet.”
  • „Jedermann hat ein Recht auf Arbeit,” heißt es in Artikel 24, den die FDP streichen will. Daß „im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens ... das Wohl des Menschen” steht, soll nicht mehr sein. Der „Schutz der Arbeitskraft hat Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes” heißt es jetzt, doch die FDP will den Schutz der Arbeitskraft beseitigen, weil sie die Partei der Besserverdienenden ist. Leistungslohn, der dem Lebensbedarf des Arbeitenden entspricht, gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Frauen und Jugendliche? Weg damit, sagt die FDP. Sogar das Recht auf ausreichenden bezahlten Urlaub soll gestrichen werden.
  • Ein ständiger Verfassungsauftrag sollen nach Meinung der FDP Privatisierung der Wirtschaft und Deregulierung sein.
  • Sie fordert die Einführung einer Notstandsgesetzgebung mit der Möglichkeit der Suspendierung des Landesparlamentes und der Abschaffung der Wahlen.
  • Abbau der kommunalen Selbstverwaltung steht ebenfalls auf ihrem Programm, denn die Kommunen sollen nur das tun dürfen, was ihrer Leistungsfähigkeit entspricht.
  • Die FDP ist gegen die demokratische Einheitsschule, weshalb die Hauptschule den Verfassungsrang verliert und Mehrgliedrigkeit der Schulen vorgeschrieben wird. Die Schulgeldfreiheit wird beseitigt.
  • Die Förderung der Klein- und Mittelbetriebe und der genossenschaftlichen Selbsthilfe nach Artikel 28 soll gestrichen werden (Die FDP als Partei des Mittelstandes?!). Desgleichen sollen Wohn- und Wirtschaftsheimstätten, klein- und mittelbäuerlicher Besitz und das Kleinsiedlungs- und Kleingartenwesen (Art. 29) nicht mehr gefördert werden.
  • Besonders bemerkenswert ist auch die geplante Streichung des Artikels 32, der bisher lautet: „Vereinigungen und Personen, die es unternehmen, die staatsbürgerlichen Freiheiten zu unterdrücken oder gegen Volk, Land oder Verfassung Gewalt anzuwenden, dürfen sich an Wahlen und Abstimmungen nicht beteiligen.” Mit der Forderung, das zu streichen, knüpft die FDP an die Traditionen der sogenannten Liberalen wie Prof. Heuss wieder an, die dem Ermächtigungsgesetz für Hitler zustimmten und die Demokratie und Menschenrechte beseitigen halfen.
  • Artikel 25, der Sonn- und Feiertage schützt, wird ebenfalls gestrichen. Dies, weil sich die Arbeitswelt dermaßen geändert habe, daß diese „hohe Hürde” (Rohde) abgebaut werden müsse.

Die „Wirtschaftspartei” und ihre Partner lassen sämtliche Verkleidungen fallen und zeigen sich – 50 Jahre nach Ende des Faschismus – wieder von möglichst allem demokratischen und humanitären Klimbim befreit. Und diese verfassungsbrecherische FDP wird gegenwärtig mit dem Geld wirtschaftlich Mächtiger wieder gesundgespritzt.

Der Vorstoß aus der NRW-FDP zielt auf die gesamte Republik. Er zielt auf das Grundgesetz und die anderen Landesverfassungen. Idealbild sind viele Bestimmungen aus den Landesverfassungen der neuen Bundesländer in der ehemaligen DDR, in denen ausdrücklich antifaschistische Aussagen keinen Eingang mehr fanden.

Bitte auch dies beachten: 

Für die Verwirklichung von Grundgesetz und Landesverfassung 
Militär raus aus den Rathäusern

Welche Verfassung? 

Von Arno Klönne 

OSSIETZKY Nr. 21/2009 17.10.09

Mit Entsetzensrufen reagierten die meinungsmachenden Medien im Bundesland Nordrhein-Westfalen auf den Entwurf des Landtagswahlprogramms der Linkspartei: »Linksrevolutionäres« und »DKPistisches« sei da zu Tage getreten. Und die im Land regierende schwarz-gelbe Koalition äußerte sich so, als wäre bald ein Verbot dieser Partei des Bösen fällig. »Wer ein solches Programm beschließt, steht nicht auf dem Boden des Grundgesetzes«, empörte sich der CDU-Landesvorsitzende, Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, und der Vorsitzende der FDP-Fraktion im Landtag, Gerhard Papke, urteilte: »Mit ihrem Programm hat die NRW-Linkspartei ein bedrückendes Dokument kommunistischer und freiheitsfeindlicher Ideologie vorgelegt. Hauptsächlich lasteten sie der Linkspartei an, sie plane eine »Verstaatlichung« der Energiekonzerne.

Aber an dieser rhetorischen Justiz war offenbar Leseschwäche beteiligt. Tatsächlich heißt es nämlich in dem linksparteilichen Papier, die Energieversorgung (wie auch andere infrastrukturelle Leistungen) gehörten »in öffentliches und demokratisch kontrolliertes Eigentum« – eine Forderung, die derzeit schon viele Kommunen zu realisieren versuchen. Verfassungsfeindlich? Das Grundgesetz kann nicht gemeint sein, es räumt in Artikel 15 ausdrücklich Möglichkeiten ein, zum Zwecke der »Vergesellschaftung« Grund und Boden. Naturschätze und Produktionsmittel in »Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft« zu überführen.

Die (1950 beschlossene) Verfassung des Landes NRW kann auch nicht gemeint sein, sie enthält in Artikel 27 sogar eine Sollvorschrift, »Grundstoffe« (die Kohle war damals einer davon) seien in öffentliches Eigentum zu überführen.

Rüttgers, Papke und ihre publizistischen Kompagnons haben also nicht die Verfassungsnorm, sondern die Verfassungswirklichkeit im Sinn, die politisch-ökonomische Faktizität also: Die Herrschaft der Konzerne soll nicht angetastet, deren weiter privatisierender Zugriff nicht gehindert werden. Wer die Verfassungsnorm ernst nimmt, verläßt demnach ihren »Boden«; er begibt sich in die rauhe Luft politischer Diffamierung.

Ein Mord an Möllemann?

Otto Köhler

OSSIETZKY Nr. 18/2007

Eine sehr bedeutende deutsche Wochenzeitung formulierte in ihrer Besprechung des nicht weniger bedeutenden Buches »Maulkorb-Republik Deutschland?«: »Jedem Bundesbürger ist mittlerweile bewußt, daß es Dinge gibt, die man besser nicht anspricht. Es gibt so viele Verbote, Fallen und Gefahren, daß es oftmals tatsächlich mit Mut verbunden ist, seine eigene Meinung zu vertreten. Doch ist denn wirklich nur ein guter Bürger, wer den Mund hält und sich zu ›unbequemen Fragen‹ gar nicht erst äußert?«

Die zitierte Wochenzeitung – es ist die Deutsche Nationalzeitung des DVU-Vorsitzenden Gerhard Frey – darf glücklich sein, daß nun auch in Ossietzky am 17. August – eine echte Novität – derartige Fragen gestellt wurden und eine Quelle empfohlen wurde, die sogar noch mehr solcher Art von Fragen auch beantwortet. »Warum muß Möllemann unbedingt Selbstmord begangen haben?« forschen Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann in der letzten Ausgabe. Und sie finden heraus, »viele Journalisten« hätten versucht, ihn »wegen seiner Kritik an der Politik des israelischen Ministerpräsidenten Sharon ›als Antisemiten abzustempeln‹«.

Als wäre er nie einer gewesen.

Möllemann konnte wie jeder andere Sharons Politik kritisieren. Er hat aber unterstellt, daß durch diese Politik und durch die Haltung des Zentralrats der Juden in Deutschland Antisemitismus erst geweckt werde – der Jude ist selbst schuld, daß es Antisemitismus gibt. Und er hat mit seiner Aktion 18 an all die Nazis appelliert, für die 1 und 8, A und H, der erste und der achte Buchstabe im Alphabet, ganz selbstverständlich Adolf Hitler bedeutet (s. »NSFDP-Projekt 18« in Ossietzky 11/02).

Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann meinen, daß Möllemann vielleicht doch keinen Selbstmord begangen habe, und sie zitieren aus einem Buch, in dem Möllemann behauptet, sein Parteivorsitzender Westerwelle habe in Israel gehört, »daß die israelische Regierung Möllemanns politischen Kopf verlange«; angeblich habe das ein Mann des Mossad gesagt. Und sie sagen auch überdeutlich, wen man hierzulande auf keinen Fall verdächtigen darf, Möllemann ermordet zu haben: »Der israelische Geheimdienst Mossad ist für viele Verbrechen verantwortlich, aber das kann man auch anderen Geheimdiensten nachsagen. Im Fall Möllemann sind keine Beweise für eine Täterschaft des Mossad bekannt geworden. Bloße Verdächtigungen wären töricht und gefährlich.«

Bloße Verdächtigungen? Unter der Überschrift »Mord oder Selbstmord?« hatte das eingangs zitierte Neonaziblatt sofort nach Möllemanns Tod berichtet »Warum Möllemann sterben mußte«. Weil er sich in den Verdacht des Antisemitismus gebracht habe, denn: »Antisemitismus – Der Vorwurf ist gefährlich. Lebensgefährlich. Wer heutzutage auch nur in den Verdacht irgendeiner Form von Judenfeindlichkeit gerät, dem stehen gnadenlose politische Ächtung und vollständige gesellschaftliche Ausgrenzung bis hin zur Existenzvernichtung ins Haus… Möllemann hatte Israel kritisiert, und er war mit dem ›arrogant-gehässigen Auftreten‹ des Michel Friedman vom Zentralrat der Juden nicht einverstanden. Diesen Verstoß gegen die streng überwachten Regeln politischer Korrektheit hat er nicht überlebt.«

Am Ende des jetzt von Ossietzky veröffentlichten Artikels steht eine weiterführende Anmerkung: »Mehr zu diesem und anderen Fällen haben die Autoren zusammengetragen unter www.arbeiterfotografie.com.« Und dort kann man in der Tat mehr als »bloße Verdächtigungen« lesen. Etwa dies: »Wer im Falle des Mordes an Jürgen W. Möllemann diesen begangen haben könnte, wird in aller Regel nicht betrachtet. Verschiedentlich ist aber zu lesen, wer für den Mord mit Sicherheit nicht in Betracht gezogen werden darf.« Und dann wird hagalil , die jüdische Online-Zeitung, zitiert: »Seit dem Tod überfluten Verschwörungstheorien das Internet. Nicht nur in rechten Publikationen wird auf eine Aktion des Mossad angespielt…« Und Jürgen Elsässer in der jungen Welt: »Im Internet blühen Verschwörungstheorien, oft wird der israelische Geheimdienst Mossad als Drahtzieher ausgemacht. Der Jude ist schuld – das haben die Antisemiten schon immer gewußt.« Daran schließt arbeiterfotografie an: »Eine Begründung, warum die Möglichkeit, daß der israelische Geheimdienst mit einem Mord in Verbindung stehen könnte, ausgeschlossen sein soll, liefert Jürgen Elsässer damit nicht.«

So macht man das, wenn man nicht gesagt haben will, daß Möllemann vom Mossad ermordet worden sei, aber jeder annehmen soll, der Mossad sei es gewesen.

Und in diese Richtung führen auch andere Fälle von »ungeklärten Morden«: John F. Kennedy? »Ging scharf gegen die Entwicklung einer israelischen Atomwaffe vor«.

Und der Mann, der sich in der Badewanne umbrachte? »Uwe Barschel mußte sterben, weil er von einem Waffengeschäft zwischen Israel und dem Iran erfahren hatte.«

Wie gut, daß es den Mossad gibt, damit man nicht immer gleich kenntlich wird. Denn von einer jüdischen Weltverschwörung schreibt nicht einmal mehr die Deutsche Nationalzeitung – die gibt es nur noch in NPD-Versammlungen. Aber jeder weiß, was gemeint ist, wenn das Wort Mossad fällt.

Anmerkung: Der Satz »Bloße Verdächtigungen wären töricht und gefährlich« bedeutete nach dem Verständnis der Redaktion im Zusammenhang mit dem Tod Möllemanns das Gegenteil dessen, was Otto Köhler herauslas: Bloße Verdächtigungen wären – sagen wir nun besser: sind – hier gerade deshalb besonders töricht und gefährlich, weil sie den Antisemitismus nähren können. Red.

NSFDP-Projekt 18

von Otto Köhler

OSSIETZKY Nr. 11/2002

Es ist immer noch der Jude selbst, der am Antisemitismus schuld ist. Der Zentralrat der Juden hat es gewagt, Jürgen Möllemann zu kritisieren. Der stellvertretende FDP-Vorsitzende wehrt sich, ruft zur »Emanzipation der Demokraten« gegen jüdische Anmaßung auf. Er kennt das Gebot der Stunde: »Was würde man denn selbst tun, wenn Deutschland besetzt würde? Ich würde mich auch wehren, und zwar mit Gewalt. Ich bin Fallschirmjägeroffizier der Reserve. Es wäre dann meine Aufgabe, mich zu wehren.« Als Araber würde er mit einem Sprengstoffgürtel um den Bauch sich zwischen jüdische Frauen und Kinder in ein Café in Tel Aviv setzen und zünden. Und als Deutscher? Da gibt es noch ganz andere Erfahrungswerte. Jedenfalls darf die deutsche Bundeswehr stolz auf diesen Reservisten sein. Und die Freien Demokraten dürfen es auch.

Denn Möllemann - das ist immer noch die FDP: FDP schlägt sich, FDP verträgt sich. Westerwelle und Möllemann sanken sich schnell wieder in die Arme, nachdem der Kanzlerkandidat sich zunächst widerwillig und mit langem Zögern zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit seinem Erfinder hatte tragen lassen. Der Antisemit Karsli verließ - erst einmal - die Partei und bleibt in der Fraktion als Berater Möllemanns. Das Ergebnis: die europäische Unabhängigkeitserklärung vom jüdischen Joch, veröffentlicht im Neuen Deutschland. Möllemann als ND-Kolumnist: »Die Historiker werden später schreiben: Zu Beginn des dritten Jahrtausends prägte eine Welle des erwachenden Selbstbewußtseins der Menschen die Völker und Staaten Europas.«

Es war seine letzte Kolumne in der »sozialistischen Tageszeitung«. Das ND hat ihn endlich vor die Tür gesetzt, Westerwelle aber turnt auf Möllemanns Welle. Denn vom Fallschirmjägeroffizier stammt das Projekt 18, das die FDP im erwachenden Deutschland zum Erfolg tragen wird.

Möllemann hat die magische Achtzehn in die FDP gebracht, ihr Erfinder ist er allerdings nicht. Die Zahl, die jetzt plötzlich die 18 Prozent symbolisieren soll, die von der FDP in freien Wahlen erreichbar seien - warum nicht siebzehn, warum nicht neunzehn, warum nicht zwanzig? - , die Zahl Achtzehn ist hoch mit einer Bedeutung aufgeladen, die einem Möllemann nicht entgangen sein dürfte.

Neonazis laufen schon lange mit T-Shirts herum, die entweder die Zahl 88 oder die Zahl 18 tragen. Die Acht und die Eins stehen für den achten und den ersten Buchstaben im Alphabet. Für H und für A. 88 ist der Gruß: HH - Heil Hitler. Und 18 ist der Führer: AH - Adolf Hitler.

Was Möllemann mit seinem vom FDP-Parteitag übernommenen Projekt 18 will, das ist nicht neu in dieser Partei. Vor fünfzig Jahren hatte sich der Naumann-Kreis gebildet, ein Zusammenschluß ehemaliger Gauleiter und anderer NS-Führer unter der Leitung des Staatssekretärs im Propagandaministerium, Werner Naumann, den Hitler zuletzt zum Nachfolger von Joseph Goebbels bestimmt hatte. Ihm machte der einflußreiche Düsseldorfer Landtagsabgeordnete und FDP-Schatzmeister Ernst Achenbach ein Angebot, das Naumann sorgfältig notierte. Das war 1952, als die NSDAP schon sieben Jahre verboten war. Zitat: »Um den Nationalsozialisten unter diesen Umständen trotzdem einen Einfluß auf das politische Geschehen zu ermöglichen, sollten sie in die FDP eintreten, sie unterwandern und die Führung in die Hand nehmen. An Einzelbeispielen erläuterte er, wie leicht das zu machen sei. Mit nur 200 Mitgliedern können wir den ganzen Landesvorstand erben. Mich will er als Generalsekretär o. ä. engagieren!!«

Als der Goebbels-Nachfolger dieses Angebot des FDP-Schatzmeisters notierte, war die Bundesrepublik Deutschland glücklicherweise noch nicht voll souverän, die britische Besatzungsmacht griff ein und zerschlug den Naumann-Kreis; die NS-FDP, schon weit gediehen, blieb behindert. Heute ist die Bundesrepublik voll souverän, und die FDP kann machen, was sie will.

Unter diesen Umständen muß man sich allerdings fragen, ob der mächtige Kanzlerkandidat Guido Westerwelle wirklich nur - wie es einer schlecht informierten Öffentlichkeit schien - als albernster Spaßmacher und oberster Clown der FDP auftrat, oder ob es einer wohlüberlegten Strategie entsprang, daß er bei einem Fernsehauftritt die unter seine Schuhsohle gemalte ominöse 18 zeigte. War die 18 unter dem Laufwerkzeug des Guido Westerwelle die freundliche Aufforderung an eine besondere Klientel, seine Partei zu unterwandern? Oder wozu sonst diente - unmittelbar vor dem Alibi-Besuch in Israel - seine Versicherung, es sei »ehrenwert«, ehemalige Wähler der »Republikaner« zurückzugewinnen?

Jedenfalls irrt, wer Westerwelle für den dummen August der FDP hält. Der Kanzlerkandidat ist, und damit wird Deutschland rechnen müssen, der überlegene Führer seiner Partei.