12.12.08
"... dass sich eine rechtsextremistische
Ideologie auch nicht mit Mitteln des Demonstrationsrechts
legitimieren lässt"
Leserbrief an die Junge Welt wg.
„Alle Macht dem Staat“
Elke Steven hat die Rechtssprechung des Oberverwaltungsgerichts
Münster beiseite geschoben und das Bundesverfassungsgericht gelobt,
weil es im Zusammenhang mit dem Versammlungsrecht für Faschisten
„immer wieder gegen die Einschränkung des Grundrechts eingetreten“
sei. Worum ging es aber dem OVG Münster, dem immerhin der
Präsident des Landesverfassungsgerichts des größten Bundeslandes,
Michael Bertram, vorsitzt? Das Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen stellte ab Mitte 2001 in einer umfangreichen
Rechtssprechung fest, dass sich eine rechtsextremistische Ideologie
auch nicht mit Mitteln des Demonstrationsrechts legitimieren lässt
(vergleiche insbesondere: Beschluss des OVG
NRW vom 30. 04. 2001, AZ: 5 B 585/01). Rechte Aufmärsche, die
von einem Bekenntnis zum Nationalsozialismus geprägt sind, müssten
verboten werden; eine rechtsextremistische Ideologie sei vom
Grundgesetz von vornherein ausgeschlossen. Das OVG hat sich damit
auf den Boden des Grundgesetzes begeben, das vom
Bundesverfassungsgericht eigentlich verteidigt werden sollte. Denn
darin heißt es: „Die zur Befreiung des deutschen Volkes vom
Nationalsozialismus und Militarismus erlassenen Rechtsvorschriften
werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt“ -
sie sind also nach wie vor gültig! (Artikel 139 des Grundgesetzes
mit der Überschrift: „Weitergeltung der
Entnazifizierungsvorschriften“).
Regelmäßig führt das Gewähren des Versammlungsrechtes für
die Faschisten zur Verweigerung der Grundrechte für die
Bürgerinnen und Bürger. Am 6. September 2008 führte in Dortmund
die Durchsetzung des Versammlungsrechtes für die Nazis durch den
Polizeipräsidenten – er berief sich auf die Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichtes zugunsten der Verbreitung „missliebiger“
Meinungen der Faschisten – dazu, dass 40.000 Bürgerinnen und
Bürger erheblich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden.
Ganze Supermärkte wurden abgeriegelt und waren nur für erkennbare
Nazis erreichbar. Einer Spontandemo von Senioren unter dem Motto „Aktion
65plus – Wir haben es erlebt – Wir lassen es nicht mehr zu“
führte zum Ermittlungsverfahren gegen die Demoleiterin, einer
69jährigen Antifaschistin.
Wohlgemerkt: Wir brauchen kein neues Versammlungsrecht, wir
brauchen nur die Anwendung des Grundgesetzes auch durch Polizei und
Justiz.
In einer Zeitungsanzeige in der Karlsruher Presse erklärte die
VVN-BdA von NRW im Zusammenhang mit der von Elke Steven gewürdigten
Rechtssprechung des BverfG u.a.: „An die Damen und Herren
Verfassungsrichter! Sie haben zugelassen, dass Nazis öffentlich
aufmarschieren ... Sie lassen nicht nur die NPD, sondern auch die
von den Innenministern verbotenen FAP-Banden der ‚freien
Kameradschaften’ gewähren. Sie haben die Parolen der Neonazis
eine ‚missliebige Meinung’ genannt, die zu dulden sei. Der
Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Schon vorher
duldeten Sie, dass Deutschland wieder in einen Krieg zog, der nicht
der Verteidigung diente, und dass die Bundeswehr zu neuen
Angriffskriegen umgerüstet wird, obgleich es im Grundgesetz unter
der Überschrift ‚Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges’
heißt: ‚Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht
vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu
stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges
vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu
stellen.’ (Artikel 26 des Grundgesetzes). Beenden Sie den
Verfassungsbruch! Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“
Ulrich Sander
Landessprecher NRW der VVN-BdA
Hier der Text der jungen Welt vom 06.12.08, Seite 10:
Alle Macht dem Staat
Versammlungskontrolle statt
Versammlungsfreiheit – die schleichende Aushöhlung eines
Grundrechts
Von Elke Steven
Der Streit um das Recht auf Versammlungsfreiheit ist alt. Die
Zweifel an der uneingeschränkten Geltung eines Grundrechts, dessen
Inanspruchnahme fast zwangsläufig für Unruhe sorgt, kommen schon
im Grundgesetz zum Ausdruck. Zwar haben »alle Deutschen« »das
Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen
zu versammeln« (Art. 8, 1 GG), aber Absatz 2 läßt bereits
Einschränkungen für »Versammlungen unter freiem Himmel« zu.
Dieser Kann-Möglichkeit kam das Parlament 1953 nach und erließ ein
Versammlungsgesetz, das Demonstrationen als staatliches
Sicherheitsrisiko vorstellt, die es zu kontrollieren und zu
beschränken gelte. Erst in den späten 60er und in den 70er Jahren
entfalteten sich langsam all die vielfältigen und kreativen Formen
selbstbewußten bürgerlichen Protests. Der Brokdorf-Beschluß des
Bundesverfassungsgerichts von 1985 setzte einen deutlichen
Meilenstein in der Neubewertung des Rechts auf Versammlungsfreiheit.
Versammlungs- und Meinungsfreiheit seien »unentbehrliche und
grundlegende Funktionselemente eines demokratischen Gemeinwesens«
und Ausdruck »ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer
Demokratie«. Die aufgestellten Kriterien gelten seither als
Maßstab. Aber die Ordnungsbehörden beziehen sich meist nur
floskelhaft darauf, um im nächsten Satz Versammlungen dennoch
einzuschränken oder zu verbieten. Das Mißtrauen der Regierenden
und Administrierenden gegen das in Versammlungen steckende
aufrührerische Potential ist bis heute nicht zu übersehen. Der
Obrigkeitsstaat fürchtete Versammlungen als Hort der
Unbotmäßigkeit und des Aufruhrs. Die politische Klasse der
Bundesrepublik Deutschland fürchtet dies kaum minder.
Die Schneise, die das Bundesverfassungsgericht 1985 schlug, wurde
in der Praxis schnell wieder verstellt. Die Exekutive erfindet immer
wieder listig Möglichkeiten, die grundrechtlichen Maßstäbe zu
verdrehen. Berichte über Geschehnisse im Vorfeld von
Demonstrationen werden verfälscht, die Gefahren ins Unermeßliche
überzeichnet, herrschaftlich werden Fakten geschaffen, deren
gerichtliche Überprüfung sich im »Irgendwann« verliert. Die
exekutiven Versuche, die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu
umgehen oder nur formal die grundrechtlichen Anforderungen zu
erfüllen, die exekutiven Eingriffe in Versammlungen und deren
Gestaltung, die hoheitliche Gewalt, mit der gegen Demonstrierende
vorgegangen wurde, reißen nie ab.
Grundrechte auch für
Rechtsaußen?
Die Föderalismusreform hat 2006 neben dem Strafvollzug auch das
Versammlungsrecht in die Obhut der Länder gegeben. Daß die
Grundrechte dort nicht in guter Hand sind, war zu erwarten. Neben
dem Wettlauf um die schärfsten Polizeigesetze hat nun der um die
einengendsten Versammlungsgesetze begonnen.
Nationalistische, antisemitische und rassistische Versammlungen
von Rechtsaußen sind ein soziales Problem, mit dem sich die
Gesellschaft in den letzten Jahren verstärkt auseinandersetzen muß.
Die Erfahrungen mit diesen Demonstrationen und den gegen dieses
Gedankengut gerichteten Gegendemonstrationen sollen nun zur
Legitimation von Gesetzen herhalten, die das Grundrecht aushebeln.
In Zeiten des »Kampfes gegen den Terrorismus« scheint es besonders
leicht, Gesetze zur Überwachung und Einschüchterung der
Bürgerinnen und Bürgern durchzusetzen.
Schon seit einigen Jahren wird zwischen den Ländern, einigen
Gerichten, insbesondere dem Oberverwaltungsgericht in Münster, und
dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein Streit um die
Möglichkeiten des Verbots von Demonstrationen ausgetragen, die eine
nationalistische, antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche
Ideologie verbreiten. Das BVerfG ist hier immer wieder gegen die
Einschränkung des Grundrechts eingetreten. Verfassungsrichter
Wolfgang Hoffmann-Riem, der am 2. April 2008 aus Altersgründen
entlassen wurde, hat Ende März 2008 in einem Interview noch einmal
betont, daß er »ein bißchen stolz« sei – nicht auf die recht
aktuelle Rechtsprechung zur Terrorismusbekämpfung, sondern auf jene
zur Demonstrationsfreiheit, mit der das höchste Gericht ein
»Grundrecht gerettet« hätte. Denn wenn dieses »wegen der
Neonazis zerfleddert worden wäre, dann wäre es für alle
zerfleddert worden«. Der Damm, den die Verfassungsrichter zu
errichten versuchten, birst unterdessen.
Während Sachsen und Sachsen-Anhalt an einem Versammlungsgesetz
arbeiteten, das ausschließlich den »Schutz der Opfer der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« regeln sollte und sich
insofern am »Zerfleddern« des Grundrechts beteiligten, ging Bayern
sofort einen Schritt weiter. Seit dem 1. Oktober 2008 gilt ein
verfassungswidriges Gesetz, mit dem ungebührliches Demonstrieren
von rechts und links verboten werden soll. Als verfassungswidrig
schätzen zumindest jene dreizehn Organisationen dieses Landesgesetz
ein, die Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht
eingelegt haben. Unter den Klägern ist auch der Landesverband der
FDP, der allerdings inzwischen an der Regierung beteiligt ist. In
der Koalitionsvereinbarung ist nur eine wachsweiche Änderung des
Gesetzes vorgesehen, nach der nichts grundlegend verändert werden
muß: »Wir werden das bayerische Versammlungsgesetz
bürgerfreundlicher gestalten, ohne dabei die Handlungsfähigkeit
des Staates bei Aufmärschen von Neonazis oder gewaltbereiten
Gruppierungen in Frage zu stellen.«
Baden-Württemberg hat bereits nachgezogen und ein Gesetz zur
Diskussion gestellt, das dem bayerischen weitgehend gleicht.
Niedersachsen hat dies für Januar 2009 angekündigt.
Kontrolliert, kriminalisiert
Statt einer das Grundrecht absichernden, den Staat aus den
bürgerlichen Zusammenschlüssen fernhaltenden Gesetzgebung
entstehen im Zuge der Föderalismusreform Versammlungsgesetze mit
unbestimmten Rechtsbegriffen, die vor allem der Exekutive alle
Eingriffs- und Überwachungsmöglichkeiten nach eigenem Gutdünken
sichern sollen. Der »Mißbrauch« des Grundrechts soll verhindert,
»den Behörden« der Eingriff erleichtert werden, so berichtet das
baden-württembergische Innenministerium.
Charakteristisch für diese Ländergesetze ist ein neues
»Militanzverbot«, welches das bisherige Uniformierungsverbot
ergänzt. Verhaltensweisen und Kleidungsstücke, die den »Eindruck
von Gewaltbereitschaft« erwecken und einschüchternd wirken, sollen
verboten werden. Verbote und Eingriffe sollen also von subjektiven
Einschätzungen (der Polizei) abhängen.
In Begründung und einleitender Problembeschreibung zum
bayerischen Gesetzentwurf wurde erläutert, daß sich der Artikel
auch gegen »linksextremistische Versammlungen« und »militante
Autonome« richte. Nicht jede gleichartige Bekleidung sei verboten.
Dies sei nur immer dann der Fall, wenn sie den »Eindruck von
Militanz« erwecke. Das aber liegt dann im Ermessen der
Ordnungsbehörden, die darauf aufbauend Beschränkungen erlassen
können. Als Beispiel wird in der bayerischen Begründung das Verbot
von schwarzen Fahnen angeführt. Der Artikel macht das Verbot der
Militanz zu einem Bestandteil der (geschriebenen) Rechtsordnung und
erlaubt somit, einen Verstoß als unmittelbare Gefahr für die
öffentliche Sicherheit zu ahnden. Der Deutsche Gewerkschaftsbund
(DGB-Landesverband Baden-Württemberg) äußerte die Befürchtung,
daß demnächst Streikposten als »einschüchternd« gewertet werden
könnten. Zumindest kann kein Bürger mehr im vorhinein wissen,
welches Verhalten letztlich als illegal angesehen wird. Der
gesetzliche Bestimmtheitsgrundsatz wird damit grob verletzt.
Zwingend braucht jede Versammlung – Ausnahmen gibt es für
Spontanversammlungen – einen polizeilich angemeldeten Leiter.
Diesem wird die Verantwortlichkeit für das gesamte Geschehen
aufgebürdet und eine quasi polizeiliche Ordnungsfunktion zugemutet.
Angesichts der bunten Vielfalt, die Versammlungen auszeichnen, ist
dies eine demokratiefeindliche Zumutung.
Von Ordnerinnen und Ordnern, die zur Demonstration dazugehören
und die Veranstalter unterstützen, kann von der Polizei, ebenso wie
vom Leiter, die Meldung aller persönlichen Daten gefordert werden.
Die Polizei behält sich sogar vor, nicht genehme Leiter und Ordner
abzulehnen. Schon diese Meldepflicht soll abschrecken. Mancher
Bürger könnte demnächst ein solches Amt allein aus Angst vor den
Folgen der polizeilichen Speicherung nicht übernehmen wollen. Für
bestimmte Großdemonstrationen könnte eine Liste von mehreren
hundert Ordnern mit persönlichen Daten erforderlich werden.
Der Polizei wird pauschal das Recht zugebilligt,
»personenbezogene Daten von Teilnehmern« zu erheben und Bild- und
Tonaufzeichnungen anzufertigen. Angesichts der vielen zuvor
eingeführten vagen Begriffe scheint die Einschränkung »wenn
tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß von
ihnen (den Versammelten, d.A.) erhebliche Gefahren für die
öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen« unbedeutend.
»Übersichtsaufnahmen«, die aber der Identifizierung einzelner
Personen im nachhinein dienen können, sollen jederzeit erlaubt
sein. Löschungsfristen sind für diese Aufnahmen nicht vorgesehen,
da sie auch zu polizeilichen Auswertungs- oder Bildungszwecken
genutzt werden dürfen. Mit diesen Überwachungsmöglichkeiten sind
tiefe Eingriffe in Bürgerrechte verbunden. Im sogenannten
Volkszählungsurteil stellte das Bundesverfassungsgericht 1983 die
informationelle Selbstbestimmung unmittelbar in den demokratischen
Kontext von Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. »Wer unsicher
ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als
Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben
werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen
aufzufallen. Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer
Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert
wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen können, wird
möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte
(Artikel 8, 9 GG) verzichten.« Das Gericht führt weiter aus, daß
damit nicht nur die Entfaltungschancen des einzelnen, sondern ebenso
die Funktionsbedingungen des freiheitlich demokratischen
Gemeinwesens beeinträchtigt würden.
Weitgefaßte Straf- und Bußgeldvorschriften drohen dem Leiter
wie den Teilnehmern. Auch Passanten, die die Polizei als Teilnehmer
ausmacht, können von Verfahren bedroht sein, wenn sie die
»falschen« Dinge in ihrem Hab und Gut bei sich tragen. Das
Mitführen von Sonnenbrillen, Kapuzenshirts und Schals wie auch von
frei erhältlichen Selbstverteidigungswaffen kann schon »im
Zusammenhang« mit »derartigen Veranstaltungen« rechtliche
Konsequenzen nach sich ziehen. Die unbestimmten Vorgaben eröffnen
der Polizei ein breites Feld der willkürlichen Verfolgung.
Versammlungsleiter gehen das Risiko einer strafrechtlichen
Verfolgung ein. Schon die nicht ordnungsgemäße Kennzeichnung der
Ordner kann für den Leiter zu einem Bußgeldbescheid führen.
Wer gegen Naziaufmärsche demonstriert, wird in erhöhtem Maße
von Strafen bedroht sein, denn diese Gesetze sehen ein
»Störungsverbot« vor. Die Ver- oder Behinderung von Versammlungen
ist verboten.
Während das Grundgesetz Einschränkungen nur für Versammlungen
»unter freiem Himmel« erlaubt, sollen gemäß bayerischem Gesetz
und baden-württembergischem Entwurf nun alle Versammlungen
reglementiert und staatlich überwacht werden (können).
Bedrängte Versammlungsleiter
Im letzten Jahr fanden bereits ohne diese Gesetze Versuche statt,
im Zusammenspiel mit ausufernden Auflagenerteilungen
Versammlungsleitern quasi polizeiliche Ordnungsaufgaben zuzumuten.
Die Vorstellungen von straff geleiteten Aufmärschen sollen
durchgesetzt werden.
Die Praxis der extensiven Auflagenerteilung ist eine Form der
demokratiefeindlichen Behinderung von Demonstrationen. In der Praxis
werden dennoch vorbeugend Auflagen im Übermaß erteilt. Im Mai 2006
hat die Versammlungsbehörde für eine Demonstration in Mittenwald
25 Auflagen erlassen. In der nachträglichen Überprüfung urteilte
der Bayerische Gerichtshof München, daß 21 dieser 25 Auflagen
rechtswidrig seien. Dennoch erteilte beispielsweise im August dieses
Jahres die Versammlungsbehörde der Friedensdemonstration gegen
Atomwaffen in Büchel/Eifel 30 überflüssige Auflagen.
Diese Praxis hängt eng mit der Überfrachtung der Aufgaben des
Versammlungsleiters zusammen. Der Brokdorf-Beschluß des
Bundesverfassungsgerichts begrenzt die Aufgaben des
Versammlungsleiters, der nicht für alles und jedes verantwortlich
gemacht und zur Rechenschaft gezogen werden darf, und engt die
Möglichkeiten der Auflösung einer Versammlung ein. Im Jahr 2008
standen jedoch Versammlungsleiter in den Städten München,
Karlsruhe, Rostock und Friedrichshafen vor Gericht. Nichts
Gravierendes war vorgefallen. Die Fülle der vorher erlassenen
Auflagen läßt viele Rechtsverstöße möglich werden, für die
Versammlungsleiter haftbar gemacht werden können. In Karlsruhe
lautete eine Auflage: »Sie müssen mit Ihren Weisungen alle
Teilnehmer jederzeit erreichen können und sind verpflichtet, die
Veranstaltung für beendet zu erklären, wenn Sie sich nicht
durchsetzen können.« In den Strafbefehlen gegen die Leiter ging es
folglich darum, daß nicht alle Auflagen durchgesetzt werden
konnten: Hier war eine Stange etwas länger, dort ein Transparent
größer als genehm, ein Schal hätte der Vermummung gedient, die
Kleidung von Teilnehmenden sei zu ähnlich gewesen, folglich
uniform, einige Teilnehmer hätten das vorgesehene Schrittempo (!)
überschritten.
Während die meisten Versammlungsleiter von Gerichten
freigesprochen wurden, in einem Fall zumindest das Landgericht den
Prozeß eingestellt hat, wurde ein Versammlungsleiter in Karlsruhe
vom Amtsgericht wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz zu 60
Tagessätzen verurteilt. Das Amtsgericht Karlsruhe – es scheint
seinen höchstgerichtlichen Nachbarn nicht zur Kenntnis nehmen zu
wollen – schreibt in seiner Urteilsbegründung: »Es kann aus
Sicht des Gerichtes nicht anerkannt oder auch nur hingenommen
werden, daß beliebig und vor allem auch folgenlos eine
Demonstration so durchgeführt wird, wie es sich die Teilnehmer
vorstellen und wünschen …« Da der Versammlungsleiter Widerspruch
gegen die Auflagen eingelegt hatte, kommt das Gericht zu dem Schluß,
der Angeklagte habe sich »nur halbherzig und pro forma um die
Auflagen gekümmert, was natürlich bei weitem nicht
ausreicht«.
Abschreckung und
Einschüchterung
Jedoch auch dann, wenn ausnahmsweise Auflagen im vorhinein
gerichtlich überprüft werden können, ist in der Praxis
allzuhäufig noch nichts gewonnen. Im August dieses Jahres fand in
Hamburg das AntiRa und Klimacamp statt. Die Versammlungsbehörde
wollte eine Schlußkundgebung weder direkt vor dem Flughafen Hamburg
noch über die geplante Zeit von sechs Stunden zulassen. Das
Verwaltungsgericht bestätigte jedoch, daß die Demonstrierenden
auch über die zeitliche Länge ihres Protestes entscheiden können.
Die Abschlußkundgebung »Für grenzenlose Bewegungsfreiheit –
Keine Abschiebungen vom Flughafen Hamburg« dürfe in der Zeit von
13 bis 19Uhr stattfinden. So setzte die Polizei ihre abweichende
Auffassung unmittelbar und ohne Rechtsschutzmöglichkeiten durch.
Der Gesamteinsatzleiter erteilte, ohne selbst vor Ort zu sein, vom
Polizeipräsidium aus die Anweisung zur Auflösung der Demonstration
zu dem Zeitpunkt, zu dem die Versammlungsbehörde das Ende der
Demonstration gewollt hatte.
In Darstellungen der Polizei und der Medien werden die von
Demonstrationen ausgehenden Gefahren im Vorfeld oft maßlos
übertrieben. Immer drohe die Teilnahme des »schwarzen Blockes«,
der längst zu einem polizeiwillkommenen Mythos geworden ist.
Allüberall sei mit Gewalttaten zu rechnen, seit Jahren steht der
Terrorismusverdacht bereit. Notfalls helfen Ermittlungen nach
Paragraph 129a StGB (»Bildung terroristischer Vereinigungen« –
d. Red.), eine Bedrohung zu konstruieren. Zur Einschränkung eines
Grundrechts bedürfte es zumindest konkreter Hinweise auf solche
Bedrohungen. Daran aber mangelt es fast immer, und geheime
»Informationen« der Verfassungsschützer lassen sich kaum
überprüfen. Heiligendamm ist hierfür ein Beispiel, und beim
Protest gegen das NATO-Gipfeltreffen im April 2009 wird es nicht
anders sein.
Der »Hamburger Kessel«, die polizeiliche Einkesselung einer
Demonstration, war 1986 von Anfang an rechtswidrig. Doch dieses
Vorgehen der Polizei hat sich seitdem ungezählte Male wiederholt.
Bei Anti-Castor-Demonstrationen im Wendland wurden ganze Dörfer
eingekesselt. Immer wieder werden anläßlich der rassistischen,
ausländerfeindlichen und nationalistischen Demonstrationen von
Rechtsaußen die Gegendemonstranten eingekesselt. So geschehen
kürzlich in Köln im Kontext des stadtweiten Protests gegen die
Versammlungen von »Pro Köln« gegen den Moscheebau. In dem breiten
und bunten, karnevalesk inszenierten Protest wurden 500
Demonstrierende eingekesselt und in die Gefangenensammelstelle
verbracht. Kinder und Jugendliche blieben bis weit nach Mitternacht
dort, Rechtsbeistand wurde verwehrt. Der Richterin, die entschied,
daß die ihr vorgeführten Gefangenen sofort zu entlassen seien,
führte die Polizei daraufhin keine weiteren Gefangenen mehr vor.
Auch rechtswidrige Gewaltausübung einzelner Beamter gegen
unliebsame Demonstrierende steckt im System. Die Identifizierung
gewalttätiger Beamter ist kaum möglich, der Schutz des Korps
funktioniert. Die Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht für
die eingesetzten Beamten läuft seit Jahren ins Leere. Sehr selten
wurden Polizeibeamte verurteilt – jeweils nur aufgrund besonderer
Konstellationen. Die extensiven Auflagen, die im Vorfeld
aufgetürmten Gefahrenprognosen und öffentliche Vorverurteilungen
der Demonstrierenden lassen polizeiliche Gewalt in aller Regel in
der Öffentlichkeit gerechtfertigt erscheinen.
Andere Behinderungen und Formen der Abschreckung von
Demonstrationen seien hier wenigstens noch stichwortartig genannt:
Zugangskontrollen, Videoüberwachung, Teilnahmeverbote mit
Meldeauflagen, Reiseverbote, Platzverweise, Vermummungsverbote
...
Souveräne Bürger?!
Um das Recht auf Versammlungsfreiheit ist es also schlecht
bestellt. Ein Hoffnungsschimmer bleibt allerdings und liegt einzig
in der selbstbewußten Art, in der Bürgerinnen und Bürger als
Souverän dieses Recht in Anspruch nehmen. Die wechselvolle
Geschichte des Versammlungsrechts zeigt allemal, wie wichtig dies
ist. Wie schon das Hambacher Fest der bürgerlichen Opposition 1832
trotz Verbotes stattfand, muß auch heute das Recht gegen staatliche
Macht und Kontrolle immer wieder neu erstritten werden. Die zum Zaun
der sich abschottenden G-8-Politiker in Heiligendamm strebenden
bunten demonstrierenden Gruppen sind ein Symbol für dieses
»Trotzdem«!
Elke Steven, ist Soziologin und arbeitet im Komitee für
Grundrechte und Demokratie, Köln (www.grundrechtekomitee.de)
http://www.jungewelt.de
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