25.07.04
"Als wüssten sie nicht, wohin damals die Judenhassparolen der Braunhemden geführt
haben?"
Peter Gingold auf der Protestkundgebung vor dem Polizeipräsidium in Bochum am 20. Juli
2004
Holocaust-Überlebende haben zum Protest gegen die
höchstrichterliche Genehmigung der antisemitischen Demonstration
der NPD gegen den Wiederaufbau der Bochumer Synagoge protestiert
(Siehe auch Aufruf zum 20. Juli: Nie wieder Auschwitz).
In Bochum folgten etliche Antifaschistinnen und Antifaschisten
diesem Aufruf. Peter Gingold sprach für die VVN-BdA. Im folgenden
dokumentieren wir seine Rede und einige Pressestimmen dazu:
"Als wüssten sie nicht, wohin damals die Judenhassparolen der Braunhemden geführt
haben?"
Ich spreche im Namen der VVN-BdA, im Namen der Überlebenden des Holocaust, die den Appell zur heutigen Protestkundgebung unterschrieben haben, zu denen ich gehöre. Seid herzlich gegrüßt. Esther Bejarano, die Vorsitzende des Auschwitzkomitees in der Bundesrepublik, hat mich besonders beauftragt dem Bündnis Dank zu sagen, das zu Aktionen aufruft gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, eine antisemitische Demonstration von Neonazis zuzulassen.
Mir sagte ein enger jüdischer Freund, als er es erfuhr: "Jetzt kannst du in diesem Land alle Hoffnung fahren lassen". Auch für mich wäre es eine Sache der hoffnungslosen Verzweiflung, wenn es nicht euch gäbe, die alles taten, um diese Zusammenrottung von militanten Antisemiten zu verhindern . Ich finde es gut, dass ihr den 60.Jahrestag, den 20.Juli zu dieser Protestkundgebung zum Anlass nehmt, der ja unter dem Motto steht: "Aufstand des Gewissens". Haben denn diese Richter des obersten Gerichts ein Gewissen, sie, die eine antisemitische Demonstration von Neonazis genehmigen? Hat denn der Polizeipräsident dieser Stadt ein Gewissen, der hundertfach Anlass gehabt hätte, unverzüglich die Zusammenrottung der Neonazis aufzulösen, angesichts ihrer unüberhörbaren Judenhassparolen, die das Bündnis dokumentiert hat!?
Da will ich doch an diesem 60 Jahrestag zum Anlass nehmen, Ludwig Beck zu zitieren. Er war der Kopf des Aufstandes der Offiziere. Er war bis 1938 Generalstabschef des deutschen Heeres, der einzige dieser Offiziere, der tatsächlich den Krieg verhindern wollte, als ihm die wahnsinnigen Pläne Hitlers bekannt waren. Deshalb ist er 1938 von seinem Posten zurückgetreten mit folgender Erklärung, die dem Polizeipräsidenten gelten soll: "Ihr soldatisches Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihr Wissen, ihr Gewissen und ihre Verantwortung, die Ausführung eines Befehls verbietet. Finden ihre Ratschläge und Warnungen kein Gehör, dann haben sie das Recht und die Pflicht vor dem Volk und vor der Geschichte, von ihren Ämtern abzutreten."
Diese Gewissenlosigkeit von obersten Richtern und auch vom Polizeipräsidenten, erschreckt mich , als gäbe es für sie nicht dieses entsetzlichste, blutigste, schändlichste Kapitel in jüngster deutscher Geschichte, als wüssten sie nicht, wohin damals die Judenhassparolen der Braunhemden geführt
haben.
Das Problem ist ja nicht, dass es Neonazis gibt. Sie wird es immer wieder geben, solange gesellschaftliche Bedingungen herrschen, die sie immer wieder hervorbringen, nach Bert Brecht, solang "der Schoß fruchtbar noch, aus dem es kroch". Nicht die Neonazis, sondern die Gewissenlosigkeit der verantwortlichen Machthaber gegenüber der deutsche Geschichte ist das Problem! Dass den Neofaschisten immer wieder den Boden bereitet wird, entgegen dem Verfassungsgebot, sie immer wieder Signale von oben bekommen, ich erinnere an die unselige Asyldebatte, die fortwährende erbarmungslose Abschiebepraxis, an die Aussprüche führender Politiker: "Ausländer, die uns nützen, die uns ausnützen" und "das Boot ist voll", auch daran, dass, wie in Hessen, ein Mann mit Schüren von Ausländerhass Ministerpräsident werden konnte, dass sie zu Wahlen zugelassen sind, in allen Haushalten, freihaus ihre rassistischen, antisemitischen Hetzschriften liefern können. Das führte zur faschistischen Endlösung der Judenfrage, zum grausamsten, organisierten Pogrom, das je die Weltgeschichte kannte.
Diese Gewissenlosigkeit und Verantwortungslosigkeit von Machthabenden dieses Landes gegenüber der deutschen Geschichte, das ist das eigentliche Problem. All das mit diesem gleichen verhängnisvollem Demokratieverständnis, das zum Untergang der Weimarer Republik führte, wie ich es erlebt habe und wie es in einem Meer von Blut Tränen endete. Heute klingt es mir noch in den Ohren, damals als ich als 14-15 Jähriger die letzten Jahre der Weimarer Republik erlebte, das Grölen der Braunhemden: mit " Deutschland erwache! Juda verrecke" - "Wenn vom Messer spritzt das Judenblut - geht es uns nochmals so gut" - "Die Juden unser Unglück", "die Juden an allem Schuld" - als es 6 Millionen Arbeitslose gab, riesiges Elend rings umher, die kleinen Geschäftsleute, die Handwerker, die Bauern verarmt. Dann haben 12 Millionen Hitler gewählt, dann war er an der Macht, dann die Rassengesetze, dann alle Menschen jüdischer Herkunft aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschaltet, darauf eine Verordnung nach der anderen, alles war ihnen verboten bis auf die Luft zum atmen, nicht einmal auf eine Bank in der Anlage durften sie sich setzen, dann brannten die Synagogen, dann fast die gesamte jüdische Bevölkerung Europas, 6 Millionen Juden ausgerottet, die Todesfabriken, die Leichen produzierten, Maidanek, Treblinka, Auschwitz!
Mein damals zweijähriges Kind konnte ich gerade noch verstecken, um es vor der Gaskammer zu retten. Meine Frau und ich konnten der Gaskammer entrinnen, da wir das Glück hatten, im Untergrund in Frankreich am Widerstand teilzunehmen.
Ich habe es doch erlebt, wie es damals angefangen hat, Wie mit dem gleichen verhängnisvollen Demokratieverständnis, weil wir Demokratie haben, hat jeder das Recht seine Meinung zu demonstrieren, auch wenn sie einem unangenehm ist, auch den Judenhass, wie jetzt in Bochum, damit ist die Weimarer Republik untergegangen:. Aber Judenhass, das wichtigste ideologisches Fundament des Faschismus, ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen, ein Verbrechen muss bekämpft werden! Ich kann mich gut erinnern an den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten in Frankfurt , meiner Heimatstadt. Von ihm war gefordert worden, den Aufmarsch von Braunhemden zu verbieten. Nach seinem Demokratieverständnis ließ er ihn zu. Als sie an der Macht, kurz darauf, hatten sie ihn im KZ ermordet.
Wenn ich das Argument höre - Antisemitismus, Rassismus, Ausländerfeindlichkeit gibt es auch in anderen Länder, dann sage ich: Le Pen in Frankreich, Berlusconi in Italien, das gibt es in England, in den USA, auch in den östlichen Ländern, ohne dass deshalb dort Panik auftritt. Das ist wohl wahr. Doch es gibt einen kleinen Unterschied, wenn es hier in Deutschland auftritt. Auschwitz gab es doch nicht irgendwann, vielleicht in der Steinzeit, oder irgendwo, vielleicht in Zentralafrika. Hier in jüngster deutscher Geschichte gab es Auschwitz! Hier müßte beim leisesten Auftreten von Antisemitismus, Rassismus höchste Sensibilität herrschen, ein millionenstimmiger Aufschrei geben: Das lassen wir nicht mehr zu!
Sie, in deren Fußstapfen die Neonazis marschieren, hatten zu viel an Not und Tod, an Verwüstung und Vernichtung, an KZ-Qualen, an millionenfachen Mord gebracht, als dass sie je je hätten aufmarschieren dürfen. Doch bin ich zuversichtlich.. Ich sage es im Namen der Überlebenden. Wir setzen auf euch, die Nachgeborenen, die es nicht zulassen werden, dass sich ähnliches wiederholt.
Darum seid ihr hier. Wenn es nicht die Verantwortlichen tun, die dazu verpflichtet sind, die auf die Verfassung vereidigt sind, wie alle Beamten, die Minister, die Justiz, die Polizei, nehmt ihr es selbst in die Hände. Ich erlebe immer wieder wie viele junge Menschen sich den staatlich geschützten Aufmärschen der Neonazis in den Weg stellen, ihnen keinen Fußbreit Boden überlassen. Keiner der Nachgeborenen trägt die Verantwortung für das, was die Vorfahren an Verbrechen begingen. Aber im Unterschied zu Richtern, auch zum hiesigen Polizeipräsidenten, werden es doch immer mehr, die nicht so leben wollen, als gäbe es kein Auschwitz, die sehr ihrer von der Geschichte diktierten Verantwortung bewusst sind, dass es nie wieder einen Rückfall geben kann in eine ähnliche Barbarei, die wir durchlitten haben. Das ist unsere große Hoffnung.
Dafür nochmals Dank, dass ihr hier seid.
Peter Gingold
PRESSESCHAU
Nazi-Gegner sammeln sich vor Polizeiwache
"Jeder von uns ist zum Widerstand gegen antijüdische Hetze aufgerufen!" -
Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN und andere Gruppen
protestieren heute, 20. Juli, vor dem Polizeipräsidium Uhlandstraße (17
Uhr).
"Erstmals seit 1945 wurde es in einer deutschen Großstadt, in Bochum,
möglich, dass Nazis mit einer antijüdischen Zusammenrottung gegen die
Existenz einer Synagoge aufmarschierten und rassistische Losungen brüllten",
formuliert der VVN. Daher solle heute, am Jahrestag des Attentats auf Hitler, an den Widerstand gegen den Faschismus erinnert
werden. Auch beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wollen VVN-Vertreter
heute demonstrieren. Anlass dazu gibt die vom Bochumer Polizeipräsidenten
untersagte, vom BVG aber genehmigte NPD-Demo am 26. April in Bochum (siehe
Bericht unten).
Das "Bochumer Bündnis Wiederaufbau der Synagoge", das Friedensplenum und die
Soziale Liste wollen sich an der Protestaktion vor der Wache beteiligen. Als
Redner wird u.a. das Mitglied es Internationalen Auschwitz Kommitees, Peter
Gingold (Frankfurt), erwartet. Der Versammlungs-Aufruf gipfelt in dem Satz
"Wir dürfen nicht zum Alltag übergehen und uns daran gewöhnen, dass Justiz
und Polizei den Nazis die Straße frei machen."
Am Tag des 20. Juli erinnert das Bistum Essen an Edward Klinik, der 1942 von
den Nazis hingerichtet worden war. Klinik war 1919 in Bochum-Werne als Kind
polnischer Katholiken geboren worden. Später besuchte er Schulen der
Salesianer Don Boscos in Krakau und Posen, wo er einem christlichen
Gesprächskreis junger Menschen angehörte. Nach dem deutschen Überfall auf
Polen wurde die Niederlassung der Salesianer beschlagnahmt, die Treffen
verboten. 1940 wurde Klinik verhaftet; die NS-Anklage warf ihm Untergrundarbeit gegen die neuen Machthaber vor. Hinrichtung am 24. August
1942 in Dresden. Im Sommer 1999 sprach Papst Johannes Paul II. 108 polnische
Märtyrer - Opfer des NS-Regimes - selig, unter ihnen Edward Klinik, den
gebürtigen Bochumer.
Jürgen Boebers-Süßmann, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Bochum,
Dienstag, 20. Juli 04
"NDP-Demo erfüllte den Tatbestand der Volksverhetzung"
Zum 20. Juli hat das "Bochumer Bündnis Wiederaufbau der Synagoge,
Neonazi-Aufmarsch verhindern" eine Dokumentation der NPD-Demo vom 26. Juni
vorgelegt.
Es sind Bilder und Töne, bei denen man als Demokrat erschreckt. Aus dem
Internet von braunen websites heruntergeladen, sind NPD-Parteigänger zu
sehen und zu hören, wie sie - durch Polizei vor Gegendemonstranten gesichert
- auf der Alleestraße u.a. gegen den jüdischen Glauben polemisieren.
"Zahllose dieser Aussagen erfüllen den Tatbestand der Volksverhetzung", so
Richter Ralf Feldmann vom "Bündnis". Es sei, auch dokumentiert durch das
Tragen von zum Teil verbotenen NS-Emblemen, zum Ausdruck gekommen, dass es
bei der NPD-Demo eben nicht um "Steuerverschwendung" für die Synagoge ging,
sondern um anderes. Feldmann: "Die Kontinuität zum Gedankengut des Dritten
Reiches ist offensichtlich."
Für Reinhard Wegener vom Bahnhof Langendreer ist mit der Demo am 26. April
ein Tabubruch passiert: "Erstmals hat das Bundesverfassungsgericht eine Demo
genehmigt, auf der offen gegen Juden und Synagogen gehetzt werden konnte."
Auch rechte Teilnehmer hätten diesen vom höchsten Gericht möglich gemachten
"Türöffner-Effekt" mit Blick auf ähnliche Veranstaltungen andernorts betont.
Für die Vertreter/innen des "Bochumer Bündnisses" stellt sich die Frage,
wieso die Polizei tatenlos zusah". "Die Polizei hätte die Veranstaltung
auflösen müssen, als in den Reden die volksverhetzenden Sätze und Wendungen
fielen", so Ralf Feldmann. Warum sie es nicht getan hat? "Die Einsatzleitung
war auf diesen Fall offensichtlich nicht vorbereitet", vermutet Wegener. Die
"restriktive Strategie", Gegendemonstranten von den Rechten fern zu halten,
um Randale zu vermeiden, sei offenbar höher bewertet worden.
JBS
Westdeutsche Allgemeine Bochum, 19.07.2004
NPD-Gegner fürchten den Tabubruch
Reinhard Wegener gefällt nicht, was er in der jüngsten Vergangenheit in
seiner Stadt miterleben musste. Wegener ist Mitglied des "Bochumer
Bündnisses", das sich zum Ziel gesetzt hat, "den Wiederaufbau einer
jüdischen Synagoge aktiv zu unterstützen" und "Neonazi-Aufmärsche" zu
verhindern. Da ist ihm die letztlich vom Verfassungsgericht genehmigte
NPD-Demo vom 26. Juni (wir berichteten) natürlich mehr als nur ein Dorn im
Auge.
Schlimmer noch: Art und Weise der Demonstration lassen beim "Bündnis" die
Alarmglocken schrillen. "Dieser Aufmarsch hatte eine neue Qualität",
behauptet Wegener, letzte Tabus seien gebrochen worden, Wegener spricht
sogar von "einem Meilenstein in der Geschichte des Neofaschismus".
Zur Unterstützung dieser Bewertung legte das Bündnis gestern eine
"Dokumentationsmappe" vor, darin Redetexte und Bilder von der Demonstration,
die zeigen sollen, dass sich die NPD-Sympathisanten nicht an die Auflagen
gehalten hätten und eine Auflösung der Versammlung also geboten gewesen
wäre. Vor allem die Rede des stellvertretenden NPD-Landesvorsitzenden Claus
Cremer sorgt im Bündnis für entsetztes Kopfschütteln. "Wenn etwas
volksverhetzend ist, dann ist es diese Rede", stellt "Bündnis"-Mitglied und
Amtsrichter Dr. Ralph Feldmann klar, "an diesem Punkt fängt spätestens die
Kritik an der Polizei an." Die sei auf eine mögliche vorzeitige Auflösung
des NPD-Zuges offensichtlich nicht vorbereitet gewesen. Die Polizei sei aber im Vorfeld von der Justiz, sprich: dem
Verfassungsgericht, allein gelassen worden, konzediert das Bündnis.
Dennoch: Eine für heute, 17 Uhr, angesetzte Protestveranstaltung findet
nicht vor Gebäuden der Justiz, sondern vor dem Polizeipräsidium statt.
Ruhrnachrichten Bochum, Aus der Region Bochum
Immer nicht zuständig
Linkes Bochumer Bündnis wirft der Polizei vor, die Neonazi-Demo am 26.6.2004
nicht aufgelöst zu haben. Für heute ist Protest angesagt
VON NATALIE WIESMANN
Das Verhalten der Polizei bei der vergangenen Neonazi-Demo in Bochum steht
stark unter Beschuss: "Die Erlaubnis der Neonazi-Hetze gegen den Synagogenbau bedeutet einen Dammbruch in der Nachkriegsgeschichte
Deutschlands", sagt Ralf Wegener vom Bochumer Bündnis "Wiederaufbau der
Synagoge unterstützen - Neonazi-Aufmarsch verhindern!" bei einer Pressekonferenz. Das Bündnis wirft der Polizei vor, die vom
Bundesverfassungsgericht zugelassene Demonstration der Rechten nicht
vorzeitig aufgelöst zu haben. Viele Symbole, die die Rechten getragen
hätten, seien vom Verfassungsschutz verboten, weiß Alfred Schobert vom
Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforscher. "Die Reden und Parolen
waren eindeutig volksverhetzend", bestätigt auch der Bochumer Richter Ralf
Feldmann. Er habe Respekt vor den Versuchen des Bochumer Polizeipräsidenten
Thomas Wenner, die Demonstration zu verbieten, so Feldmann. "Ich verstehe
aber nicht, warum die Polizei es nicht vermochte, auf die zu erwartende
Volksverhetzung angemessen zu reagieren." Empörend sei aber vor allem die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das die Demo unter dem
weichgespülten Motto "Gegen die Verschwendung von Steuergeldern" erlaubt
hatte. Auch Ulrich Sander, Landessprecher der Vereinigung der Verfolgten des
Nazi-Regimes (VVN) in NRW, sieht das Hauptproblem bei den Karlsruher
Richtern: "Die Erlaubnis der Demo verstößt gegen das Grundgesetz der
Menschenwürde", empört er sich. Die Entscheidung des obersten Gerichts hätte
die Polizei in ihrem Verhalten auf der Demo verunsichert. "Denn es wäre
durchaus möglich gewesen, die entsprechenden Leute wegen Volksverhetzung
nach und nach aus dem Verkehr zu ziehen", so Sander.
Dieser Meinung ist die Polizei anscheinend nicht. Der taz wollte die
Pressestelle zu diesem Thema nichts mehr sagen. In den vergangenen Wochen
war es jedoch zu einem Schlagabtausch zwischen dem Polizeipräsidenten und
den Bochumer Grünen gekommen. In einem Offenen Brief werfen auch die Grünen
der Polizei vor, sie hätte trotz des Tatbestands der Volksverhetzung nicht
eingegriffen. Angesprochene Beamten hätten mit dem Argument der Nicht-Zuständigkeit reagiert.
Und: "Die volksverhetzenden und antisemitischen Parolen der NPD hätten eine
sofortige Auflösung der Kundgebung zur Folge haben müssen." Offensichtlich
habe sich die Polizeiführung nicht dazu im Stande gefühlt.
Polizeipräsident Thomas Wenner lässt diese Vorwürfe nicht auf sich sitzen:
Es seien während der gesamten Demonstration zwei Staatsanwälte anwesend
gewesen, um alle jeweils notwendigen Entscheidungen vor Ort treffen zu
können, schreibt er in einem Offenen Brief an die Grünen. "Es war also
gänzlich unnötig, die Arbeit der Bochumer Polizeiführung und der
eingesetzten Polizeibeamten durch einen ,Wächterrat' noch einmal gesondert
überwachen zu lassen", beschwert er sich.
Vor seinem Polizeipräsidium soll es heute dennoch zu Protesten kommen: Das
linke Bündnis ruft Bochumer Bürger auf, sich um 17 Uhr dort zu versammeln.
Auch in Karlsruhe und Berlin soll demonstriert werden. Der 20. Juli wird
traditionell als Tag des Widerstandes gegen das Hitlerregime gefeiert: Heute
vor 60 Jahren hat Oberst Graf von Stauffenberg vergeblich versucht, Adolf
Hitler umzubringen.
taz Ruhr Nr. 7413 vom 20.7.2004, Seite 4, 118
Auf Judenhass stärker reagieren
"Nazis aufhalten" oder "Gemeinsam Nazis stoppen" hieß es gestern auf den
Transparenten der Demonstranten, die sich vor dem Polizeipräsidium an der
Uhlandstraße versammelt hatten.
Am Jahrestag des Attentats auf Hitler erinnerten die Vereinigung der
Verfolgten des Naziregimes (VVN) und andere Gruppen an den Widerstand gegen
den Faschismus. Peter Gingold, VVN-Bundessprecher, kritisierte die
Entscheidung der Richter. "Sie sind gewissenlos, eine Demonstration der
Nazis gegen den Wiederaufbau der Synagoge zu genehmigen. Der Oberbürgermeister und der Polizeipräsident haben im Vorfeld versucht, die
Demonstration zu verhindern " ohne Erfolg. Die Polizei hätte jedoch einen
Anlass gehabt, die Demonstration der Nazis aufzulösen." Es sei nicht das Problem, dass es Nazis gibt. Ein Problem sei vielmehr die
Gewissenlosigkeit der Verantwortlichen gegen die deutsche Geschichte. Sie
bereite den Nazis den Boden. Auf Judenhass müsse gerade in Deutschland
stärker reagiert werden. Auschwitz gehöre zur jüngsten deutschen Geschichte.
Peter Gingold wandte sich schließlich an die Nachgeborenen. "Ihr werdet es
nicht zulassen, dass sich so etwas wiederholt." Reinhard Junge, Lehrer und Krimiautor, zeigte sich erschüttert, dass ein
Gericht den Nazi-Marsch durch Bochum erlaubt hat. "Die Nazis haben gegen
Auflagen verstoßen. Das hätte zur Auflösung der Demo führen müssen. Die
Polizei muss stärker demokratisch kontrolliert werden."
Eine Mutter, die als Erzieherin tätig ist, ergriff spontan das Mikrofon:
"Wir müssen unsere Kinder stärken, damit sie nicht so werden wie die Nazis."
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Ruhrnachrichten Bochum 21.7.04
Protest gegen Nazi-Hetze in Bochum
Bildtext:In einer scharfen Rede ging Reinhard Junge den Polizeipräsidenten
an. Vorwurf: Die NPD-Demo hätte wegen volksverhetzender Reden aufgelöst
gehört. Junge forderte die Ablösung von Thomas Wenner als Chef der Bochumer
Polizei. WAZ-Bild: Hartmut Beifuß
Über 100 Menschen demonstrierten gestern Nachmittag vor dem Polizeipräsidium
Uhlandstraße. Motto: "Gegen antisemitische Provokation in Bochum!"
Anlass zu der u.a. von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VNN
einberufenen Versammlung gab nicht nur der 20. Juli in Erinnerung an das
Attentat auf Hitler. Vielmehr speiste sich der Protest auch aus dem Ärger
über die NPD-Demo am 26. Juni, die, vom BVG zugelassen, antisemitische
Tiraden in Bochum möglich machte (wie berichtet). Viele Demonstranten waren
und sind der Meinung, die Polizei hätte den Nazi-Aufzug wegen Volksverhetzung auflösen müssen.
Redner waren der Schriftsteller Reinhard Junge sowie Peter Gingold (88),
Widerstandskämpfer gegen Hitler-Deutschland. Junge ging in einer bissigen
Ansprache Polizeipräsident Thomas Wenner an und warf ihm "juristisch
abgesicherten Polizeischutz für Neonazis" und die Unterdrückung des
friedlichen Protestes von Nazi-Gegnern vor. "Wehret den Anfängen!", mahnte Gingold, dessen Familie im KZ umkam. Er
bedankte sich bei den Teilnehmern: "Ihr seid die Menschen, die den
Überlebenden des Holocaust Hoffnung geben, dass Auschwitz sich nicht
wiederholt." Und unter starkem Beifall: "Antisemitismus ist keine Meinungsäußerung, sondern ein Verbrechen!"
JBS
21. Juli 2004 Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Bochum
Bochum: Eine etwas andere 20.-Juli-Kundgebung
Nazis feiern die Karlsruher Genehmigung ihres antisemitischen Aufmarsches von Bochum als "Türöffner", um "eine bislang unkritisierbare Gruppe in das Fadenkreuz des Protestes zu rücken" - Antifaschisten wird gedroht: "Gehören an die Wand gestellt" - Wie es zu einer etwas anderen 20.-Juli-Kundgebung kam berichtet Ulrich Sander:
Erstmals seit 1945 wurde es in einer deutschen Großstadt, in Bochum, möglich, dass Nazis mit einer antijüdischen pogromhetzerischen Zusammenrottung gegen die Existenz einer Synagoge aufmarschierten und rassistische antijüdische Losungen brüllten. Darauf wiesen Überlebende des deutschen Widerstandes und der NS-Verfolgung in einem Aufruf zum 20. Juli hin: "Wir Opfer des Faschismus, Überlebende des Holocaust und Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand von Anfang an und ihre Angehörigen sehen uns angesichts dieser bisher einmaligen, von höchsten Karlsruher Richtern gebilligten ungeheuerlichen Provokation erneut in der Verantwortung." Das Bundesverfassungsgericht habe mit seiner Entscheidung des 1. Senats vom 24. Juni den Antisemitismus und Faschismus zu "missliebigen", aber zulässigen "Meinungsäußerungen" umgefälscht.
Förderung von Antisemitismus und Faschismus sind nicht mit dem Grundgesetz vereinbar
"Jeder und jede ist zum Widerstand dagegen aufgerufen," heißt es in der Erklärung, die von führenden Repräsentanten der Föderation des Internationalen Widerstandes (FIR), der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/BdA sowie von Lagergemeinschaften und vom deutschen Auschwitzkomitee unterschrieben wurde. Die Überlebenden von Verfolgungen wie Esther Bejarano (Auschwitz), Dr. Hans Coppi (überlebte als Kind im Gefängnis), Peter Gingold (Resistance), Kurt Goldstein (Auschwitz und Buchenwald) und Ernst Grube (Theresienstadt) rufen dazu auf, die "Befolgung von Befehlen und Richtersprüchen, die faktisch Förderung von Antisemitismus und Faschismus darstellen," als "nicht mit dem Grundgesetz vereinbar" abzulehnen.
Daher baten sie darum, am 20. Juli diesmal eine etwas andere 20.-Juli-Feier durchzuführen. So kam es am 20. Juli um 17 Uhr vor dem Bochumer Polizeipräsidium zu einer Kundgebung der VVN-BdA und anderer antifaschistischen Gruppen, um an den Widerstand gegen den Faschismus heute zu erinnern, der diesmal rechtzeitig nötig sei. Polizei und Justiz wurden zur Befehlsverweigerung gegenüber den Antisemitismus fördernden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe aufgerufen.
Peter Gingold (88), Überlebender des Holocausts und Initiator des Aufrufs wie der Kundgebung erinnerte an das Motiv "Aufstand des Gewissens", das man den Männern des 20. Juli gern zubilligt. Er halte nun die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zugunsten der Nazis und die Richter, die daran mitwirkten, "für gewissenlos".
..."der Button 'Eine Synagoge für Bochum' wurde als polizeiliches Risiko eingeschätzt. Neonazis hingegen bekamen polizeiliches Geleit"... |
Das Bochumer Bündnis "Wiederaufbau der Synagoge unterstützen, Neonazi-Aufmarsch verhindern" legte einen Offenen Brief an das
Bundesverfassungsgericht vor, in dem es heißt:
"Betr.: Neonazi-Aufmarsch gegen den Bau der Synagoge in Bochum am 26.6.04 - Mit diesem Schreiben informieren wir Sie über die Vollstreckung Ihres Beschlusses vom 24.6.04. Dank Ihrer Unterstützung marschierten am 26.6.04 etwa 220 Neonazis der NPD und der "Freien Kameradschaften NRW" durch ein auch von vielen ausländischen Mitmenschen bewohntes Bochumer Viertel.
Dort herrschte schon Stunden vor dem Aufmarsch polizeilicher Belagerungszustand. Vielen Menschen - auch AnwohnerInnen - wurde der Zugang verwehrt, da sie von der Polizei der antifaschistischen Gesinnung verdächtigt wurden, der Button 'Eine Synagoge für Bochum' wurde als polizeiliches Risiko eingeschätzt. Neonazis hingegen bekamen polizeiliches Geleit bis zu ihrem Sammelplatz.
Auf der Demonstration skandierten die Neonazis Parolen wie "Hopp, hopp hopp - Synagogenstopp", "Stoppt den Synagogenbau - wir sind das Volk", "Wir sind dabei - Bochum synagogenfrei" und "Juden raus... ... sehr lange Pause... ... aus Palästina". Die Hauptredner genossen es offensichtlich, unverbrämt und ungehindert antisemitische Hetze verbreiten zu dürfen, wie Sie den beiliegenden Redeaufzeichnungen entnehmen können. |
Zu denken, dass sich solche Äußerungen durch polizeiliche Auflagen oder das Einschreiten der Polizei verhindern ließen, geht an der politischen Realität vorbei. Es ist aber diese Realität, mit der wir uns alltäglich auseinandersetzen müssen: Neonazis, die immer wieder ausländische und andere Mitmenschen in Bochum anpöbeln und körperlich angreifen, die Menschen krankenhausreif prügeln, weil sie den Angegriffenen zu Hilfe kommen, die Obdachlose foltern, jüdische Gräber schänden und Linke und Antifaschisten
bedrohen.
Zu dieser Realität gehört auch, dass insbesondere das Bundesverfassungsgericht und die Polizei seit Jahren mit ihrer Rechtssprechung und ihren Demonstrationsstrategien die Neonazis de facto stärken während gleichzeitig antifaschistisches Engagement kriminalisiert und massiv behindert wird.
Als die Neonazis im März diesen Jahres erstmals den Versuch starteten, ihre Demonstration gegen den Bau der Synagoge durchzusetzen, wiesen mehrere hundert Bochumer BürgerInnen und 24 Bochumer RichterInnen in offenen Briefen an die Polizei und die beteiligten Gerichte auf den antisemitischen und volksverhetzenden Charakter des Demonstrationsaufrufes hin. Tatsächlich wurde die Demonstration damals verboten. Dass Sie, die höchsten Richter und Richterinnen dieses Landes im Juni in dem weichgewaschenen Demonstrationsaufruf gegen den Synagogenbau der selben Veranstalter diesen antisemitischen und volksverhetzenden Kern nicht mehr erkennen wollten, ist erschreckend.
Wir wurden am 26.6.2004 Zeugen davon, wie ein weiteres Tabu in der Geschichte dieses Landes nach der nationalsozialistischen Barbarei von alten und neuen Nazis mit höchstrichterlichem Segen gebrochen wurde. Grund genug für die Nazis zu feiern: "Die heutige Versammlung ist ein voller Erfolg für den nationalen Widerstand in NRW, sowie für den nationalen Widerstand bundesweit, da mit dem Richterspruch ein 'Türöffner' erreicht werden konnte. Es wurde erreicht, dass eine bislang unkritisierbare Gruppe in das Fadenkreuz des Protestes gerückt werden konnte und ihren bis dahin einmaligen Status verlor... Die Organisationsleitung gibt bekannt, dass mit der heutigen Demonstration das Ende der Kampagne noch nicht erreicht ist..." (NPD NRW-WebSite am 26.6.04)
Wir dürfen den Widerstand gegen Faschismus und Antisemitismus nicht den Gerichten, der Polizei oder anderen Behörden überlassen. Denn dies könnte sein Ende sein!
Das Grundgesetz trägt als Erbe die Befreiung vom Nationalsozialismus in sich. Ihr Beschluss vom 24.6.04 gibt dieses Erbe auf.
Dies bestärkt uns in unserer Überzeugung, dass der Widerstand gegen Faschismus, Antisemitismus und Rassismus in erster Linie eine politische und gesellschaftliche Herausforderung ist. Darum werden wir ihn auch in Zukunft nicht den Gerichten, der Polizei oder anderen Behörden überlassen.
Denn dies könnte sein Ende sein."
NS-Jubelberichterstattung über die Hilfe aus Karlsruhe
Inzwischen setzen die Nazis in ihren Internetveröffentlichungen (z.B. auf der Seite der NPD und des Störtebeker-Netzwerkes) ihre Jubelberichterstattung über die Hilfe aus Karlsruhe fort. Doch es werden auch konkrete Morddrohungen gegen alle Ausgesprochen, die ihren Protest gegen die Nazis nicht einstellen, vor allem gegen die Unterzeichner des Aufrufes der Holocaustopfer: So heißt es bei "Störtebeker":
"Wäre es aus rechtlichen Gründen nicht bedenklich, so wären wir versucht die Aufrufsunterzeichner pauschal als gemeines Lumpenpack zu bezeichnen, das an die Wand gestellt hört. Da dies jedoch rechtlich sehr wohl bedenklich ist, hüten wir uns natürlich derart gräuliche Gedanken auszusprechen. Man begnüge sich daher mit dem guten Willen statt der Tat."
Da er sich unmittelbar bedroht und beleidigt fühlt, hat der Mitunterzeichner des Aufrufes, Ulrich Sander (Landessprecher der VVN-BdA), an seinem Wohnort die Polizei aufgefordert: "Ich bitte Sie, dieser Morddrohung nachzugehen und die Täter zu finden und ihrer Bestrafung zuzuführen."
Hagalil online, 20.7.04
Aufruf zum 20. Juli: Nie wieder Auschwitz
Holocaustüberlebende verurteilen den Richterspruch aus Karlsruhe zugunsten des Antisemitismus
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