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Nazis raus aus dem Internet

 

11.03.03

Leichen pflastern seinen Weg

Ein Gespräch mit dem Krimi-Autor Reinhard Junge über Schwierigkeiten beim Schreiben realistischer Kriminalromane

Ein Undercoveragent ist Mitglied einer Gruppe von Neonazis, die in Bochum eine junge Türkin vergewaltigen und für tot liegen lassen. Brennende Aktualität erhielt dieser Plot von Reinhard Junges neuem Kriminalroman "Glatzenschnitt" durch die Aufdeckung der NPD-Unterwanderung durch den Verfassungsschutz während des Verbotsverfahrens. "Glatzenschnitt" ist spannend von der ersten bis zur letzten Seite und der inzwischen zehnte sozialkritische Krimi des Bochumer Gymnasiallehrers, der seine schriftstellerische Karriere beim Weltkreisverlag vor über 30 Jahren mit Reportagen über die Bundeswehr begann. Die Fragen an den Autor stellte Adi Reiher.

UZ: Der Neonazismus taucht in deinen Krimis immer wieder als Motiv auf. Diesmal ist er das Hauptthema ...

Junge: Weil er in der Gesellschaft ständig auftaucht. In der Presse findet man nur die spektakulären Fälle. Dabei melden die internen Lage-Infos der Polizei hier in Bochum an fünf von sieben Tagen solche Vorfälle: Kneipenschlägereien, die mit rassistischen Beschimpfungen beginnen; das Absingen von Naziliedern auf der Straße oder im Bus; Drohungen und Attacken gegen Ausländer, Punks, Autonome. Und in den Pressemitteilungen wird der politische Hintergrund oft ausgeblendet - so auch bei dem sogenannten Satanismusmord in Witten.

UZ: Und wie bist du auf die "Glatzenschnitt"-Geschichte gekommen?

Junge: Ich habe sie seit den Brandanschlägen von Solingen und Lübeck im Kopf, mich aber nicht rangetraut: Erstens ist es schwer, angemessen über Vergewaltigung und das, was anschließend mit Frauen passiert, zu schreiben. Zweitens habe ich lange keine Möglichkeiten gesehen, meine Krimifiguren von PEGASUS einzubringen. Man kann nicht in der ersten Szene eine Vergewaltigung beschreiben und in der zweiten irgendeine Slapstickgeschichte erzählen. Aber in meinem letzten Krimi "Straßenfest" habe ich den Fehler mit dem halboffenen Schluss gemacht. Karin Jacobmayer liegt angeschossen auf einem Parkplatz und keiner weiß, ob sie überleben wird.

UZ: Ein Fehler wurde es aber nur, weil du für "Glatzenschnitt" so lange gebraucht hast. Sonst war es ja eher spannend.

Junge: Ich habe damals gedacht, in einem Jahr ist die Antwort auf dem Markt. Es wurden vier.

UZ: Viele deiner Leser haben unter dieser offenen Frage gelitten.

Junge: Ich selbst am meisten. Der Grafit-Verlag lässt mir beim Schreiben viele Freiheiten. Aber Verlag und Autor legen Wert darauf, dass die PEGASUS-Reihe fortgesetzt wird. Solche Seriengeschichten funktionieren, und ich liebe "meine Leute". Karin Jacobmayer musste natürlich überleben, aber nicht unverletzt. Dadurch konnte ich die beiden Storys verbinden: die Vergewaltigung und die Nachsorge der Schussverletzung im selben Krankenhaus.

UZ: Bisher war Klaus-Ulrich Mager deine Hauptfigur, auch was die politische Seite betrifft. Diesmal steht er mehr im Hintergrund. Hast du vor, ihn auslaufen zu lassen?

Junge: Das weiß ich nicht. Sein Sohn Kalle bekommt aber eine größere Rolle, weil er glaubwürdiger, auch härter recherchiert. Man kann seinen Alten nicht mehr in James-Bond-Aktionen schicken. Befürchtest du, dass PEGASUS unpolitischer wird?

UZ: Könnte ja sein. Andererseits ist Kalle Mager, der Sohn offensichtlich in der autonomen Szene des Ruhrgebiets engagiert.

Junge: Diese Szene ist präsent, dominant wäre zuviel gesagt. Man sieht das bei den Anti-Nazi-Demonstrationen in Bochum. Es sind immer etliche autonome Jugendliche dabei. Leider ist ihnen die Wirkung einer Demonstration auf unpolitische Bürger gleichgültig. Auf der vorletzten Demo hatte ich eine Auseinandersetzung mit ihnen, weil sie zu den Nazis rübergeschrien haben: "Wir kriegen euch alle." Beim Normalbürger erweckt das den Eindruck, als stünden sich zwei Krawalltruppen von derselben Sorte gegenüber.

UZ: Zurück zu deinem Krimi: Du hast ein Zusammenspiel zwischen Nazi-Aktionen und dem "Staatsschutz" angedeutet. Gibt es da einen realen Bezug?

Junge: Das NPD-Verbotsverfahren hat gezeigt, dass der Verfassungsschutz die Rechte infiltriert hat. So kann man manchmal nicht mehr unterscheiden, wer der tatsächliche Urheber von Nazi-Aktionen ist. Es gibt Gerüchte über Deals zwischen Polizei und Nazis. Einige Nazihäuptlinge sollen Geld vom Verfassungsschutz bekommen haben, wenn sie sich nur im Osten austoben. Aber das ist kaum beweisbar.

UZ: Also doch alles Fiktion?

Junge: Tatsache ist, dass es im Ruhrgebiet Nazi-Gruppen wie die aus meinem Buch gibt. Vor rund zehn Jahren hat eine Gruppe "Volkswille" Wattenscheid unsicher gemacht. Immerhin ging man so weit, Antifaschisten Särge in die Häuser zu schicken, Telefonterror zu betreiben, Bremsleitungen anzusägen.

UZ: Dein Name stand auch auf einer Todesliste.

Junge: Im "Einblick". Bochums genialer Polizeipräsident hat uns zur Betreuung einen Mann vom K 14 genannt, der vorher die Linke - also uns - bespitzelt hatte. Ein Treppenwitz.

UZ: Und die Wattenscheider?

Junge: Wurden vom Landgericht Dortmund zu lächerlichen Strafen verurteilt. Ein Mitglied war mit Sprengstoff erwischt worden - für den Richter lediglich ein "seltsames Hobby". Der Mann kam auf Bewährung frei. Solche Urteile sind keine Abschreckung, sondern eher eine Ermutigung.

UZ: Diese Blindheit der Justizbehörden thematisierst du aber nicht.

Junge: Doch, aber nur kurz im letzten Kapitel. Beim Schreiben hat sich gezeigt: Das wäre ein zweiter Roman geworden. So habe ich etliche der Täter selbst aus dem Verkehr gezogen und ermorden lassen. Wobei ich selten so wenig Mitleid mit den Opfern hatte.

UZ: Warum hat es solange gedauert, bis "Glatzenschnitt" fertig war?

Junge: Das hat verschiedene Gründe. So ist es schwierig für einen Mann, über eine Vergewaltigung und die Folgen zu schreiben. Ich habe bei den Recherchen erfahren, dass jede Frau solch ein Verbrechen anders verarbeitet. Einige wollen nicht drüber reden und werden autoaggressiv, andere könnten sich unter die Dusche stellen und alles vergessen, wenn es nicht die Prozedur danach gäbe: Anzeige, Vernehmungen, Gegenüberstellungen, Prozess. Es gibt viele Schattierungen und alle diese Verarbeitungen sind authentisch. Sich als Autor da einen Weg "auszusuchen" ist schwierig, weil man die Kritik derjenigen provoziert, die dasselbe anders erlebt und verarbeitet haben.

UZ: Kritik provozierst du noch an einem anderen Punkt. Die türkische Familie des Vergewaltigungsopfers kommt in deiner Schilderung nicht gut weg. Hast du keine Sorge damit Vorurteile zu schüren?

Junge: Ich habe die türkischen Menschen differenziert geschildert, ohne die real existierenden Probleme wegzudiskutieren. Die Gettoisierung z. B. bestärkt viele türkische Menschen in ihrer konservativen Haltung. Es wäre falsch, da ein idealisiertes Bild zu zeichnen. Die Parole "Fremde sind Freunde", die bei uns in Bochum am Rathaus hing, ist voluntaristisch. Sie können Freunde werden, sind es aber nicht automatisch.

UZ: Jetzt wissen wir immer noch nicht, warum du für das Buch so lange gebraucht hast.

Junge: Schreiben ist extrem familienfeindlich; es gibt Phasen, in denen man sich völlig ausklinken muss. Außerdem wird auch bei Lehrern die Arbeit immer weiter verdichtet. Die Phasen, in denen ich an einem Stück schreiben konnte, waren in den letzten vier Jahren sehr kurz. Wenn man lange Pausen macht, muss man anschließend wieder von vorn anfangen und beginnt schon auf der ersten Seite zu korrigieren. Im letzten Sommer habe ich das Manuskript dann in einem Gewaltakt fertig geschrieben und teilweise bis drei Uhr morgens mit Laptop und Rotwein auf der Terrasse gesessen.

UZ: Das Etikett Regionalkrimi greift für deine Bücher zu kurz. Trotzdem, ist es nicht zu eng, nur im Ruhrgebiet zu bleiben?

Junge: Tu ich doch nicht. "Das Ekel von Datteln" beginnt in Holland, "Straßenfest" endet da und "Die Waffen des Ekels" spielen zur Hälfte in Thailand.

UZ: Aber der "Pott" ist dein Hauptkampffeld.

Junge: Klar. Alle Krimis haben ihren Schauplatz: Chandler schrieb über Los Angeles, Sjöwall/Wahlöö über Stockholm, Collin Dexter über Oxford. Und mein Revier ist das Ruhrgebiet, hier kenne ich mich aus. Manche Kritiker stricken daraus eine Zweiklassengesellschaft in der Kriminalliteratur: Die einen schreiben "echte" Krimis, die anderen Regionalkrimis. Aber lass sie heulen - ich brauche meine Schauplätze. Und kann damit leben, dass manche Leute meine Krimis als Heimatromane lesen.

UZ: Wie ist denn die Verbreitung der Bücher? Bei bis zu 13 Auflagen sind sicher nicht alle Exemplare in Bochum verkauft worden.

Junge: Zu Anfang hat Grafit den größten Teil seines Umsatzes wirklich hier gemacht. Das hängt auch mit dem kulturellen Hochmut gegenüber dem Ruhrgebiet zusammen. Von München und Hamburg aus ist das Ruhrgebiet immer noch die Bronx: schmuddelig, dreckig, Schimanski. Aber Autoren wie Berndorf, Kehrer und das Klever Trio haben dem Verlag geholfen, sich bundesweit zu etablieren.

UZ: Viele deiner Bücher hast du zusammen mit Jürgen Pomorin alias Leo P. Ard geschrieben. Er ist ausgestiegen und schreibt heute Drehbücher für Fernsehkrimis, etwa "Polizeiruf 110" oder "Balko".

Junge: Jürgen hatte nicht den sicheren Job im Hintergrund wie ich und fand sich 90/91 plötzlich als freier Journalist in der Wildnis wieder. Also hat er die Chance ergriffen, Drehbücher zu schreiben und damit zum Glück den verdienten Erfolg gehabt. Nur für Romane blieb da keine Zeit mehr.

UZ: Wie funktionierte die Zusammenarbeit mit Pomorin?

Junge: Einer hatte die Idee. Dann pendelten die Disketten zwischen Hamburg und Bochum, bis der Inhalt stand. Anschließend wurde aufgeteilt, wer was schreiben sollte. Manchmal merkten wir nach zehn Kapiteln, das läuft nicht, und haben alles noch einmal verändert. So lief es weiter, bis das Buch fertig war. Das hat die Arbeit zwar nicht halbiert, aber Spaß gemacht, da wir uns gut ergänzt haben.

UZ: Problemlos?

Junge: Meist. Unseren größten Streit gab es beim "Bonner Roulette", das anfangs noch im "Weltkreis-Verlag" erschien. Das Buch behandelt eine Geiselnahme in der Dortmunder Spielbank. Eines der Opfer war Kanzlerkandidat Johannes Rau, und eines der Kapitel endete mit den Schlagzeilen der großen Zeitungen. Ich fand, dass die UZ in solch einer Woche eine "Rekordernte in Kasachstan" gemeldet hätte. Aber Jürgen arbeitete damals bei "elan", der Zeitung der SDAJ ...

Der Autor und seine Gestalten. Hinter der Stirn des harmlos blickenden Reinhard Junge spielt sich Fürchterliches ab. Reinhard Junge (geb. 1946) lebt in Bochum und unterrichtet seit 1979 Deutsch, Russisch und Latein in Wattenscheid. Er schreibt Kriminalromane und Kriminalstorys und gehört zu den profiliertesten deutschsprachigen Krimiautoren. Weitere Informationen zum Autor und seinen Kriminalromanen unter www.reinhard-junge.de.

Reinhard Junge: Glatzenschnitt. Kriminalroman. 380 Seiten, 9,90 Euro.

Weitere Krimis von Reinhard Junge im grafit-Verlag: Klassenfahrt, Totes Kreuz, Straßenfest; mit Leo P. Ard: Bonner Roulette, Das Ekel von Datteln, Das Ekel schlägt zurück, Die Waffen des Ekels, Meine Niere, deine Niere, Der Witwenschüttler; Anthologien mehrerer Autoren: Die Meute von Hörde, Der Mörder bittet zum Diktat. Zu beziehen beim Neue Impulse Versand, Hoffnungstraße 18, 45127 Essen; Tel.: 0201-24 86 482; Fax: 0201-24 86 484; E-Mail: NeueImpulse@aol.com

Das Interview ist erschienen in Unsere Zeit, Zeitung der DKP, 07.03.2003