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02.02.03

Wie fruchtbar noch?

Über den 30. Januar 1933 und heute

Neuer Krieg, Faustrecht, Neonazigewalt, Rassismus, Geheimdienststaat, Revanchismus

Ein Redemanuskript von Ulla Jelpke

Auszüge aus dem Manuskript einer Rede, die Ulla Jelpke am Sonnabend, 1. 2. 03 in Dortmund auf der Konferenz antifaschistischer Initiativen, Organisationen und Bündnisse Nordrhein-Westfalens »Nie wieder! 1933 - 2003« hielt.

Am Donnerstag vor 70 Jahren, am 30. Januar 1933, wurde den Nazis in Deutschland die Macht übertragen. Die Eliten der Weimarer Republik - das Militär, die Spitzen des deutschen Beamtenapparats, die Großagrarier und das deutsche Finanzkapital - versprachen sich von der Machtübertragung an Hitler und seine NSDAP einen zweiten Anlauf zur Weltherrschaft.

»Rache für Versailles!« - die Eroberung von neuem, sogenanntem »Lebensraum im Osten« war eines ihrer Motive. Die brutale Ausschaltung der deutschen Arbeiterbewegung, ihrer Parteien, ihrer Gewerkschaften und ihrer vielen anderen Organisationen wie Wohnungsgenossenschaften, Sportvereine, Freidenker und andere Verbände, war für diesen neuen Griff nach der Weltherrschaft unabdingbar. Hunderttausende fielen in den nächsten Jahren diesem gewalttätigen Terror zum Opfer.

Der fanatische Haß der Nazis gegen Juden, gegen Roma und Sinti, gegen Homosexuelle und alle, die sich den neuen »arischen Herrenmenschen« in den Weg stellten oder mit ihrem antisemitischen, faschistischen Weltbild nicht vereinbar waren, eröffnete zusätzliche Möglichkeiten für das deutsche Bürgertum. Zahllosen Beamten, Professoren, Ärzten, Anwälten, aber auch großen Unternehmen erwuchsen aus der Judenverfolgung und den damit verbundenen sogenannten »Arisierungen« von Vermögen neue Laufbahn- und enorme Bereicherungsmöglichkeiten. Fast alle griffen skrupellos zu. (...)

Die Entschädigung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern - viel zu niedrig, viel zu spät - wird erst in ein paar Jahren abgeschlossen sein. Über 90 Prozent dieser Opfer waren schon verstorben, bevor diese Entschädigung überhaupt nach langem und heftigem internationalen Streit begann.

Die italienischen Militärinternierten, griechische Naziopfer und andere Opfer des Nazismus und der deutschen Wehrmacht sind bis heute von jeder Entschädigung ausgeschlossen.

Der Holocaust, der Massenmord an Millionen Juden, und der furchtbare, verbrecherische Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht in Osteuropa, in Rußland und auf dem Balkan, waren der Gipfelpunkt der Barbarei. Teuflischere Verbrechen als die damals von deutscher Hand begangenen hatte die Menschheit bis dahin noch nicht erlebt. Bis heute haben sich diese Verbrechen tief in das Gedächtnis der Menschen eingegraben, und wir alle sind heute auch deshalb hier versammelt, um gemeinsam dafür Sorge zu tragen, daß diese Erinnerung nie verlöscht.

Aber der heutige Tag, die heutige Veranstaltung soll nicht nur der Mahnung und Erinnerung dienen. Wir stehen am Vorabend eines neuen Krieges. Die US-Regierung unter Präsident Bush plant einen Krieg gegen das Regime Saddam Husseins, einen Krieg gegen den Irak. Weit über hunderttausend US-Soldaten und britische Soldaten stehen schon jetzt am Persischen Golf, in Kuwait, in der Türkei und anderen umliegenden Staaten wie Jordanien, Katar und Saudi-Arabien dafür bereit. Türkische Truppen sind - fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit - schon vor jeder förmlichen Kriegserklärung in die kurdischen Gebiete im Norden des Irak eingerückt. Türkische Militärs und Politiker sprechen offen davon, die Situation nutzen zu wollen, um sich endlich in den Besitz der reichen Ölquellen von Mossul und Kirkuk zu bringen.

Mit einer ungeheuerlichen Dreistigkeit behaupten die US-Regierung und die britische Regierung, ihr Feldzug gegen Saddam diene dem angeblichen »Kampf gegen den Terrorismus« und der Befreiung der Menschen im Irak von einem diktatorischen Regime. Dabei sind Ziel und Motiv dieses Krieges so sonnenklar wie in kaum einem anderen Krieg der letzten Jahre und Jahrzehnte. Auf dem Gebiet des Irak liegt ein Zehntel der Weltreserven an Öl. Dieses Land mit den zweitgrößten Ölreserven der Welt unter ihre Fuchtel zu kriegen, das ist das wirkliche Ziel der US-Militärs, der US-Regierung, der US- Konzerne. Die Weltmacht Nummer eins dokumentiert dem Rest der Welt ihre militärische Vorherrschaft und ihre Bereitschaft, dieses enorme militärische Übergewicht auch bedenkenlos einzusetzen. Tausende, vermutlich Hunderttausende von Menschen werden sterben, wenn dieser Krieg beginnt. Das darf nicht geschehen!

Die starke Friedensbewegung, die sich in den letzten Wochen und Monaten mit zahllosen Aktionen gegen diesen drohenden Krieg zu Wort gemeldet hat, ist deshalb eine große Ermutigung für uns alle. Die Regierung Bush spreche »nicht in unserem Namen«, so lautet die Parole der Friedensbewegung in den USA, die mit zahlreichen großen Demonstrationen ihren Protest gegen diesen Krieg auf die Straße getragen hat. Wie breit der Protest schon jetzt ist, zeigt eine Aktion schottischer Lokführer vor einigen Wochen, die sich weigerten, einen Zug mit Nachschub für den Krieg nach Süden zu fahren. Das sei der erste politisch begründete Streik seit dem Putsch in Chile vor fast 30 Jahren, schrieb die Presse. Auch bei uns in Deutschland wächst der Protest gegen den Krieg. Jede Woche finden inzwischen Protestaktionen statt, Kundgebungen, Mahnwachen, Demonstrationen. Diese Aktionen, diese wachsende Friedensbewegung sind für uns alle eine große Ermutigung.

»Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!« - so lautete der Schwur von Buchenwald. Diesem Schwur sind wir alle hier verpflichtet.

Die ungeheure Dreistigkeit, mit der die US-Regierung und ihre Alliierten ihren Krieg gegen den Irak vorbereiten, aber auch viele andere Entwicklungen zwingen uns zum Nachdenken über eine weitere Frage. Wie nahe sind wir heute wieder herangekommen an Verhältnisse, die damals zum Machtantritt des Faschismus führten? Wie fruchtbar ist der Schoß noch?

Die seit Monaten völlig ungeniert und für die ganze Welt sichtbar anlaufenden Kriegsvorbereitungen der USA sind ein Beispiel für die heutige Situation. An die Stelle des Völkerrechts tritt wieder das Faustrecht. Das Recht des vermeintlich Stärkeren regiert wieder in den internationalen Beziehungen, nicht die Herrschaft des Rechts - so unvollkommen es auch sein mag. Die deutsche Regierung opponiert zwar gegen den Krieg gegen Irak. Aber was ist das für eine halbherzige Opposition! Lassen wir uns nichts vormachen! Lassen wir uns nicht einlullen von den leeren Worten dieser Regierung, sie mache diesen Krieg nicht mit! In Wirklichkeit werden deutsche Soldaten in den AWACS- Flugzeugen sitzen, die den Krieg gegen Irak von türkischem Luftraum aus begleiten. Deutsche Panzer aus Kuwait werden nicht abgezogen.

Vor allem aber: Der Nachschub für diesen Krieg rollt schon jetzt von deutschem Boden aus. Von deutschen Flughäfen starten die Maschinen der US-Luftwaffe mit ihrer todbringenden Fracht, mit Soldaten, mit Munition, mit Bomben für den Krieg. Deutsche Soldaten schützen die US-Einrichtungen in diesem Land, damit US-Soldaten abgezogen werden können für den Waffengang gegen Saddam. Was ist das für eine scheinheilige »Antikriegspolitik«, die den Krieg der USA in Wirklichkeit schon jetzt zuläßt, mitmacht und unterstützt - nur nicht mit eigenen Soldaten im unmittelbaren Kampfgebiet? Auch die deutsche Bundesregierung, das wissen wir alle und werden es auch nicht vergessen, hatte zudem schon in den Vorjahren einen großen Anteil an dieser Rückkehr zum Faustrecht.

Ich erinnere an den Kosovo-Krieg, an den Krieg gegen Jugoslawien, den die Bundesregierung von SPD und Grünen ohne jedes UN-Mandat und wider alles Völkerrecht begann und durchführte. Ich erinnere an die ungeheuerlichen Vergleiche eines Außenministers Fischer und des damaligen Verteidigungsministers Scharping, ihre ungeheuerlichen Vergleiche mit Auschwitz, die Lügen über angebliche Konzentrationslager, die es durch den Krieg zu verhindern gelte. Diese weltweit zu beobachtende Rückkehr zum Faustrecht, zum Recht des Stärkeren, ist aber nur eine Entwicklung, die uns alle aufhorchen und aufrütteln sollte.

Über einhundert Menschen sind in diesem Land in den Jahren seit 1990 von neofaschistischen Glatzen und anderen braunen Schlägern und Gewalttätern ums Leben gebracht worden. Die tödlichen Brandstiftungen von Mölln, die mörderischen Menschenjagden von Rostock und Hoyerswerda waren keine vereinzelten Exzesse. Sie waren der Auftakt zu einer seitdem nicht aufhörenden Menschenjagd von Neonazis in diesem Land. Einer Menschenjagd, die immer neue Opfer findet. Einer Jagd, die bis heute von den Behörden bagatellisiert und ignoriert wird. Mehr noch: Das Verbotsverfahren gegen die NPD, diese offen neofaschistische Partei, die seit fast 40 Jahren in diesem Land ungehindert hetzen und gewalttätige Politik organisieren darf, steht vermutlich vor dem Scheitern, seitdem klar ist, daß in dieser Partei von Anfang an - sogar schon vor ihrer Gründung - Spitzel des Bundesamtes und der Landesämter für Verfassungsschutz an führender Stelle mitgewirkt und die Neonaziszene in diesem Land mit aufgebaut haben. Auch das zeigt: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem der deutsche Faschismus kroch.

Der Umgang mit Flüchtlingen ist ein weiteres, beunruhigendes Beispiel. Die UN-Flüchtlingskonvention wurde Anfang der 50er Jahre mit ausdrücklichem Bezug auf die schlimmen Erfahrungen des Faschismus beschlossen. Nie wieder sollte es passieren, daß Flüchtlinge durch ganz Europa, ja die halbe Welt irren, und nirgends Aufnahme finden. (...)

Und heute? Heute hat sich die Europäische Union gegen Flüchtlinge abgeschottet - schlimmer als je zuvor in den Jahren und Jahrzehnten nach der Niederwerfung des deutschen Faschismus. Über 3000 Menschen sind nach den zuverlässigen Angaben europäischer Flüchtlingsorganisationen in den letzten Jahren bei dem Versuch, nach Europa zu kommen, gestorben. Sie erfroren in der eisigen Kälte an den deutschen Ostgrenzen zu Polen und der Tschechischen Republik. Sie ertranken bei dem Versuch, die Oder und Neiße oder das Mittelmeer zu überwinden, um in die EU zu kommen. Sie erstickten in Containern und Lastwagen bei dem Versuch, die unbarmherzigen Grenzsperren der Europäischen Union zu umgehen und Zuflucht zu finden. Wieder irren Schiffe voller Flüchtlinge über das Mittelmeer, werden Flüchtlinge nachts heimlich in Boote gesetzt, um im Schutz der Dunkelheit irgendwo an Land zu gehen und unterzutauchen.

Ist es nicht ein groteskes Beispiel moderner Inhumanität, daß ausgerechnet kurdische Flüchtlinge aus dem Irak, dem Land des Diktators Saddam Hussein, gegen den die USA einen Krieg führen wollen, heute wieder im Mittelmeer umherirren, ohne daß die Flüchtlinge an Land gehen können? Daß deutsche Gerichte wieder mit Hilfe und Unterstützung des Auswärtigen Amtes die Asylanträge dieser Menschen zu Tausenden ablehnen, weil sie angeblich im Nordirak eine sogenannte »sichere inländische Fluchtalternative« hätten?

Die herrschende Meinung in dieser Republik irritiert das nicht. Mehr noch: Unter der Losung der »Bekämpfung des Terrorismus« macht sich eine neue Intoleranz breit. Ein Geheimdienststaat wird aufgebaut, (...) elementare Grundrechte wie das Brief- und Telefongeheimnis, die Unverletzlichkeit der Wohnung, der Schutz der persönlichen Daten, also das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, sind längst in weiten Bereichen außer Kraft gesetzt. Dieses Land ist wieder Weltmeister beim Lauschangriff, beim Abhören privater Unterhaltungen und Telefonate durch irgendwelche Geheimdienste.

Die Etats dieser Geheimdienste sind mehr als hundert Mal so hoch wie alle öffentlichen Mittel zur Erinnerung an die Verbrechen des Faschismus zusammengenommen, als alle Mittel zum Schutz jüdischer Friedhöfe oder zur Bekämpfung des Neofaschismus. Mehr noch: Verbände wie die Vertriebenenverbände erheben mit Unterstützung auch der amtierenden Bundesregierung wieder offen ihre revanchistischen Forderungen, lärmen über die Benesch-Dekrete, schweigen von Lidice und Theresienstadt. Sie fordern dreist ein »Zentrum gegen Vertreibungen« in der deutschen Hauptstadt, also in der Stadt, von der aus der Zweite Weltkrieg und die massenhafte Vertreibung und Ermordung von Juden im letzten Jahrhundert ihren Ausgang nahmen.

All das zeigt: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch. Laßt uns die Erinnerung wach halten, damit diese Verbrechen sich nie wiederholen. Und laßt uns gemeinsam wachsam bleiben, wachsam und kämpferisch, gegen jeden Krieg, gegen jede Inhumanität auf dieser Welt.

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