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02.02.03

Von Kriegskindern und Bombenopfern

Die Jugendlichen aus dem Geschichtskursen der Oberstufe des Petrinum-Gymnasiums in Recklinghausen schweigen einen Moment. Dann wollen sie vom Autor Jörg Friedrich ("Der Brand") vor allem wissen: "Birgt seine Beschreibung nicht die Gefahr der Aufrechnung? Opfer des NS-Terrors gegen Bombenkriegs-Opfer? Der Gleichsetzung gar?" (WAZ 25. 01. 03) Gegenwärtig werden wir mit einer Fülle von Betrachtungen über den Bombenkrieg gegen Deutschland und seine "Kriegskinder" bedacht, wobei das Buch von Jörg Friedrich und die Februar-Ausgabe von GEO besonders hervorstechen. Beim Lesen dieser Betrachtungen kommen auch Kriegskindern und Kriegshinterbliebenen ähnliche Gedanken wie den Recklinghäuser Schülern von heute: Was wird damit bezweckt? Es sollten daher auch Kriegskinder zu Wort kommen, die sowohl NS-Opfer und Widerstandskämpfer als auch Zeitzeugen des Bombenkriegs und Kenner ihrer Ursachen gewesen sind. Es sollte auch Helmuth Hübener zu Wort kommen.

Der 17-jährige hat in Hamburg - mitten im Krieg - ein Flugblatt herausgegeben, um seine Altersgenossen anzusprechen, die Kriegskinder, wie sie später genannt wurden: "Das ist also die weit und breit gepriesene HJ: Eine Zwangsorganisation ersten Ranges zur Heranziehung nazihöriger Volksgenossen. Hitler und seine Komplizen wissen, dass sie euch von Anfang an den freien Willen nehmen müssen, um gefügige, willenlose Elemente aus euch machen zu können. Denn Hitler weiß, daß seine Zeitgenossen ihn langsam zu durchschauen beginnen, ihn den Unterdrücker freier Nationen, den Mörder von Millionen. Darum rufen wir euch zu: Laßt euch euren freien Willen, das kostbarste, was ihr besitzt, nicht nehmen." Für solche Worte mußte der Verfasser sterben.

In der Begründung des Todesurteils wurde dem Verfasser, dem Lehrling in der Sozialbehörde Helmuth Hübener bescheinigt: "Die Überprüfung seines allgemeinen Wissens, seiner politischen Kenntnisse und seiner Urteilsfähigkeit sowie sein Auftreten vor Gericht und sein Gehaben ergaben durchweg das Bild eines geistig längst der Jugendlichkeit entwachsenen frühreifen jungen Mannes. Damit war der Angeklagte wie ein Erwachsener zu bestrafen". Die Todesstrafe sei auch deshalb notwendig, weil Hübener und drei Freunde obiges und über 50 weitere Flugblätter "in einem Arbeiterviertel einer Stadt verbreitet hat, in der zufolge der schweren Luftangriffe, denen diese ausgesetzt ist, die Gefahr einer zersetzenden Wirkung besonders groß ist, zumal nach den Bekundungen des Kriminalbeamten M. auch heute noch nicht davon gesprochen werden kann, dass der Marxismus in Hamburg völlig ausgerottet ist."

Zwei Hauptbegründungen für das grausame Urteil wurden also hervorgehoben: die Zielgruppen Arbeiterfamilien und Betroffene des Bombenkriegs. Der jüngste vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode Verurteilte, der am 27. Oktober 1942 mit dem Fallbeil in Plötzensee hingerichtet wurde, hatte der arbeitenden Bevölkerung - in einem "marxistischen" Stadtteil - die Wahrheit über ihre Lage gesagt und zugleich die Ursachen für die schweren Bombenangriffe auf Hamburg verdeutlicht, die bei Deutschland lagen: "Churchill sagte: Wenn es sein muss, bringen unsere tapferen Bombenflieger Tod und Verderben über Nazi-Deutschland! Wir wünschen es nicht, haben es nie gewollt, doch der Tod vieler tausender hingemordeter Menschen in Rotterdam, Belgrad und nicht zuletzt in Frankreich, Norwegen und Polen, das Blut vieler freiheitsliebender Brüder in dem durch Gestapo-Terror niedergehaltenen Europa darf nicht ungesühnt bleiben." Der Jugendliche hatte ausgesprochen, was bis heute gern verdrängt wird - erst jetzt wieder in einem Buch über die Bombardierungen durch die Westalliierten und in Studien zu den "Kriegskindern": Dass der Bombenkrieg von Deutschland ausgegangen war, dass Hamburg und Dresden und die anderen Städte in Deutschland unversehrt geblieben wären, wenn der Krieg der Nazis verhindert worden wäre.

Dabei kam es erst ein dreiviertel Jahr nach Hübeners Ermordung zu den schwersten Bombardierungen der Hansestadt, zur "Operation Gomorrha" . Im Juli/August 1943 wurde die Wohnung seiner Großeltern, ja ganz Hammerbrook und Rothenburgsort zerstört. Unter den Toten weniger Tage waren auch seine Großeltern und seine Mutter. Viele derjenigen Nachbarn, die Hübeners Flugblätter bei der Polizei abgegeben hatten, überlebten dieses Jahr nicht. 30.000 Menschen aus Hamm, Hammerbrook und Rothenburgsort und anderen Stadtteilen starben in einer Nacht. Insgesamt kamen 55.000 Menschen in Hamburg durch Bombeneinwirkung ums Leben. Wer heute durch die Stadtteile Hamm, Hammerbrook und Rothenburgsort geht, findet an fast jedem Haus die Tafel "Zerstört 1943, wiederaufgebaut 195.."

Diese Tafeln bestätigen die Warnungen Hübeners. Auch die Interessiertheit des großen Geldes an Krieg und Bombardierungen thematisierte Hübener in einem Flugblatt von 1941: "Wenn die R.A.F. jemals dazu kommt, Berlin zu bombardieren, will ich M e i e r heißen, sagte er (Göring) zu Beginn des Krieges. Heute zeigen die Straßen Berlins schon deutliche Spuren der britischen Luftoffensive. Doch Göring ist immer noch Göring - und er freut sich, daß er es ist. Und dann das allzu beliebte Schlagwort: 1000 für eine! Auch ein blendender Reinfall; denn heute ist die deutsche Luftwaffe zufrieden, wenn sie die Insel überhaupt noch einmal überfliegen kann, ohne dabei durch die Abwehr schwere Verluste und blutige Köpfe erleiden zu müssen. Wohl kann der Luftmarschall der Nazis noch immer eine horrende Dividende - er ist eben ein gerissener Kriegsgewinnler und Geschäftsmann - aus seinen Rüstungswerken ziehen, doch der Traum von der uneingeschränkten, immer zunehmenden Luftüberlegenheit seiner Fliegerarmada geht dem Ende immer mehr entgegen. Es wird ein böses Erwachen geben."

Schon im Sommer 1941 brachte Helmuth Hübener diesen kurzen Text auf Streuzetteln unter die Leute: "Hitler hat die alleinige Schuld. Durch den uneingeschränkten Luftkrieg wurden bisher mehrere Hunderttausende wehrlose Zivilpersonen getötet. Die R.A.F. ist nicht schuld an diesem Morden! Denn ihre Flüge sind nur die Vergeltung für den mit Warschau und Rotterdam durch die deutsche Luftwaffe eingeleiteten Mord wehrloser Frauen und Kinder, Krüppel und Greise."

Wenn mal wieder - wie schon in den fünfziger/sechziger Jahren - die Deutschen zu Angehörigen einer Opfernation gemacht werden sollen, die von allem nichts wussten und auch nichts dagegen tun konnten, dann sei an die Warnungen eines Helmuth Hübeners erinnert, der schon früh die Ursachen der alliierten Bombardierungen benannte.

U. S.

Literatur:

  • Ulrich Sander: Jugendwiderstand im Krieg - Die Helmuth Hübener Gruppe 1941/42, Bonn 2002. 
  • "Die NS-Zeit in den Erinnerungen der Enkelgeneration" (Frankfurter Rundschau 1.7.02 über "Opa war kein Nazi", Fischer Ffm 2002.). 
  • "Kriegskinder der Generation 1932 bis 1948 beginnen ihre Albträume aufzuarbeiten", Frankfurter Rundschau 20.12.02 und "Kriegskinder" http://www.mdr.de/fakt/archiv/516476.html und www.weltkrieg2kindheiten.de sowie "Trauma und Tabu" über Jörg Friedrichs neues Buch "Der Brand" - Deutschland im Bombenkrieg 1940-45, Propyläen-Verlag. Ferner www.GEO.de Februar-Ausgabe.