17.11.02
Jugendwiderstand im Krieg:
Die Helmut Hübener Gruppe
1941/42
Ulrich Sander
Ein redaktioneller Vorspann
Ich bin ein Dortmunder Journalist, der aus Hamburg stammt. Dort
habe ich vor über 40 Jahren angefangen, das kurze Leben des
Widerstandskämpfers Helmuth Hübener zu erforschen, der als
jüngster zum Tode verurteilter Jugendlicher (17) vor nunmehr 60
Jahren in Plötzensee sterben mußte. Jetzt habe ich ein Buch
über ihn geschrieben (Pahl-Rugenstein Bonn), das bei einem
Bildhauer und in ersten Medienberichten (Beispiel siehe unten) ein
Echo fand. Hübener wäre jetzt 77 Jahre alt, daß er nicht alt
wurde, liegt an einem Verbrechen, welches nicht vergessen werden
darf. Man sagt, die Jugend heute habe von ihren Opas erfahren,
dass diese im Krieg nichts unrechtes getan hätten. Eine solche
„Vergangenheitsbewältigung“ sei in der neusten Shellstudie
nachzulesen. Menschen wie Helmut Hübener wären heute Opas. Was
sie uns zu sagen hätten, wären sie am Leben, kann nur aus ihren
Schriften und Flugblättern entnommen werden: Welche Verbrechen
Hitler und alle, die ihm folgten, begingen oder zuließen.
Entnommen werden kann auch, daß es möglich war, zu wissen was
geschah, und daß es Menschen gab, die dagegen aufstanden. Solche
wie Helmuth Hübener.
U. S.
Peter H. aus Hamburg schrieb mir
am 29. 10. 02:
Lieber Herr Sander,
ich habe in der TAZ Hamburg über Ihr Buch „Jugendwiderstand“
gelesen. Da ich in Hamburg die Aktion „Stolpersteine“ betreue
und wir auch für Herrn Hübener einen Gedenkstein verlegen
wollen, bitte ich höflichst, uns die letzte Adresse in Hamburg
mitzuteilen. Vielen Dank. gez. P. H.
(Es lagen bei Infos über die Stolperstein-Aktion „Hier
wohnte 1933 – 1945“ von Gunter Demnig in Köln, www.stolperstein.com/,
e-mail: gunter.demnig@stolpersteine.com)
Ich schrieb am 2. 11. 02 an Herrn H. daß Helmuth Hübener
zuletzt bei seinen Großeltern am Louisenweg 137 II Ecke
Süderstraße in Hamburg-Hammerbrook wohnte.
Die TAZ hatte berichtet:
"Was Hitler macht, ist
unchristlich"
Leicht moralisierend, aber gründlich und faktenreich: Ulrich
Sander ediert erste Studie im deutschsprachigen Raum über den
Widerstand des 1942 in Plötzensee von der Gestapo hingerichteten
Hamburgers Helmuth Hübener
Er ist eine literarische Figur in Günter Grass' Panorama
geworden. Ein Jugendzentrum und eine Straße in Hamburg sind nach
ihm benannt. Eine Gedenktafel in der Sozialbehörde soll ebenso
zum Erinnern anregen. Dennoch ist das Schicksal Helmuth Hübeners
im Nationalsozialismus fast vergessen. Am 27. Oktober 1942 wurde
der Hamburger Verwaltungslehrling in Berlin Plötzensee
hingerichtet. Der Volksgerichtshof hatte den 17-Jährigen wegen
Hochverrats zum Tode verurteilt.
All dies möchte Ulrich Sander mit seiner Veröffentlichung
über die Widerstandsgruppe Helmuth Hübener vergegenwärtigen.
Seit 1960 befasst sich der Journalist immer wieder mit Hübener
sowie mit dessen Freunden Rudolf Wobbe, Karl-Heins Schnibbe und
Gerhard Düwer. Er recherchierte in Archiven nach verschollenen
Dokumenten und interviewte die wenigen noch lebenden Zeitzeugen,
um die erste historische Studie über die Widerstandsgruppe im
deutschsprachigen Raum vorlegen zu können.
Denn während der Großteil der deutschen Bevölkerung noch vom
"Endsieg" träumte, verstörten Hübener konkrete
Alltagserfahrungen: Der Drill der Hitler-Jugend (HJ), die
Ausgrenzung der jüdischen Mitmenschen und das Wegsehen der
Erwachsenen. Statt sich in die Volksgemeinschaft einzureihen,
begannen sich die Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren zu
widersetzen. Aus dem Gefühl heraus, dass "Hitler
unchristlich handelt", hörte Hübener heimlich die
deutschsprachigen Nachrichtensendungen des BBC. Zusammen mit
Schnibbe und Wobbe verfasste er aus diesen Informationen
Flugblätter, in denen sie über den tatsächlichen Kriegsverlauf
und Misshandlungen in der HJ berichteten und zum Widerstand
aufriefen.
Erst später gewann Hübener seinen Ausbildungskollegen Düwer
aus der Sozialbehörde für die Verteilung der Pamphlete. Über 60
Flugschriften konnten sie in einem halben Jahr veröffentlichen,
bis sie von Heinrich Mohn denunziert wurden. Die Gestapo
verhaftete sie; er wurde gefoltert. Man konnte sich nicht
vorstellen, dass ein 17-Jähriger ohne Hilfe von
"Hintermännern" handelte. "Seiner Standhaftigkeit
verdanke ich mein Leben", erzählt Schnibbe, "er nahm
alles auf sich". Der Volksgerichtshof verurteilte dann auch
nur Hübener zum Tode. Die Freunde erhielten langjährige
Haftstrafen. "Ich bin jetzt dran, aber ihr kommt auch noch
dran", sagte Hübener nach dem Urteil. Er irrte sich: Die
Richter wurden nie belangt. Den Denunzianten sprach der
Bundesgerichtshof 1953 frei, da er nach geltendem Recht gehandelt
habe. Neben der Beschreibung der Aktivitäten der Gruppe
dokumentiert Sander die Flugschriften, Verhör- und
Gerichtsprotokolle. Alleine der etwas moralische Tenor des Textes
stört ein wenig.
ANDREAS SPEIT
Literaturhinweis Ulrich Sander: Jugendwiderstand im Krieg.
Die Helmuth-Hübener-Gruppe
1941/1942, Pahl-Rugensten, 2002, 208 S., 14.90 Euro
taz Hamburg Nr. 6890 vom 29.10.2002, Seite 23, 107 Zeilen
Ulrich Sander: Jugendwiderstand im Krieg
Die Helmuth Hübener Gruppe 1941/42
Ca. 200 Seiten, ca. 20 Abb., 19 Flugblatt-Texte, gebunden, 14,90
EUR, Pahl Rugenstein, 3-89144-336-6
Erscheint Mitte Oktober 02 in der „Bibliothek des Widerstandes“
der VVN-BdA
Im Februar 1942 – vor 60 Jahren – wurde die
Jugendwiderstandsgruppe um Helmuth Hübener in Hamburg verhaftet.
Im August 1942 fand die Verhandlung gegen sie vor dem
Volksgerichtshof statt. Am 27. Oktober 1942, um 20.13 Uhr, starb
Helmuth Hübener „ruhig und gefasst“, wie die
Vollstreckungsbeamten in ihrem Bericht betonten, in der
Richtstätte Berlin-Plötzensee unter dem Fallbeil. Er war mit 17
Jahren der jüngste vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilte und
in Plötzensee hingerichtete Antifaschist.
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„Ihr habt den Gerechten
verurteilt und getötet“
Vorwort von Hanjo Seißler
(Publizist und Theologe)
Das tut weh: Und nun zu euch, ihr Reichen: Weint und klagt
über das Elend, das über euch kommen wird! Euer Reichtum ist
verfault, eure Kleider sind von Motten zerfressen. Euer Gold und
Silber ist verrostet, und dieser Rost wird gegen euch sprechen und
wird euer Fleisch verzehren wie Feuer. Ihr habt eure Schätze
gesammelt noch in diesen Tagen der Endzeit! Ihr habt den
Arbeitern, die euer Land abgeerntet haben, den Lohn vorenthalten.
Siehe das schreit zum Himmel, und das Rufen der Schnitter ist vor
die Ohren des Herrn Zebaot gekommen. Ihr habt geschlemmt auf Erden
und geprasst, und ihr habt eure Herzen gemästet am Schlachttag.
Ihr habt den Gerechten verurteilt und getötet, und er hat euch
nicht widerstanden. Das tat weh. Aber nicht denen, die Jakobus –
der einer der Brüder Jesu, ob leiblich oder im Geiste ist nicht
gewiss, gewesen sein soll – gemeint hat, als er seinen Sendbrief
an die frühen Christen schrieb.
Der ist gerade an dieser Stelle ein Brandbrief. Was diejenigen,
die vor knapp 2000 Jahren angesprochen worden waren, so wenig
berührt haben wird, wie es ihre Gesinnungsnachkommen heute
anfasst. Hartleibigkeit und Verstocktheit gelten, mehr denn je
zuvor, als Zeichen besonderer „Professionalität”: „Dünnhäutigkeit
können Profis sich nicht leisten!” Mit zu fühlen, barmherzig
zu sein, sich für diejenigen einzusetzen, die sich selbst nicht
wehren können, sei etwas für „süßliche Gefühlstypen”. „Gutmenschen”.
„Weicheier”. Es beeinträchtige „die Objektivität”. Sie
vergessen aus verständlichen Gründen stets dabei zu erwähnen
– es behindert das Fortkommen.
Lange genug haben Lakaien in Medien, an Schulen und Hochschulen
öffentlich vor den jeweiligen Inhabern der Macht gedienert, um so
genannten kleinen Leuten klar zu machen: „Die sind oben; ihr
bleibt unten!” In jeder Beziehung. Wobei die Liebediener hoffen,
irgendwann zu denen zu gehören, die das Sagen haben. Dass gehe in
Ordnung, finden mittlerweile sogar die Opfer der Dickbramsigen.
Nun hat nicht nur Jakobus, den sie „den Gerechten” nannten,
gegen diese Denk- und Lebensweise aufbegehrt. Wofür sie ihn am
Ende erschlagen haben. Ihm folgten viele. Die glücklicherweise
nur schwach zu sein schienen. Ihre Seelenstärke übertraf und
übertrifft alles, was „Reiche” je an materieller Kraft auf
sich vereinigt haben. Ulrich Sander kann ein Lied davon singen. Er
stimmt es mit diesem Buch an. Er hat eine Hymne auf einen jungen
Mann verfasst, der auszog, das Böse das Fürchten zu lehren:
Helmuth Hübener. Hätten sich die Nazis nicht vor diesem
17-Jährigen und seiner klaren Geradlinigkeit gegruselt, sie
hätten ihn nicht wegen „Abhören eines Auslandssenders und
Verbreiten der abgehörten Nachrichten in Verbindung mit
Vorbereitung zum Hochverrat und landesverräterischer
Feindbegünstigung” ermordet.
Helmuth Hübener blieb – nach allem, was wir wissen – bis
in den Tod hinein gelassen. Dafür spricht auch sein Satz: „Ich
muss jetzt sterben. Ich habe nichts verbrochen. Ich bin jetzt
dran, aber ihr kommt auch noch dran.” Letzteres indessen war ein
Irrtum des jungen Idealisten. Sie sind nicht nur nicht dran
gekommen. Sie haben Ulrich Sander derart behindert, an diesem Buch
über Leben und Sterben des gerechtigkeitsbeseelten jugendlichen
Märtyrers zu arbeiten, dass der Autor dreißíg Jahre brauchte,
um es als erste in der Bundesrepublik Deutschland entstandene
Hübener-Biographie herauszubringen. Sie und ihre Nachfolger haben
ihre Herzen gemästet. Sie haben einen Gerechten über seinen Tod
hinaus verurteilt und versucht, ihn ein zweites Mal zu töten. Er
aber hat ihnen widerstanden. Mit Hilfe von Ulrich Sander. Danke.
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Rede auf der Gedenkveranstaltung zum 60. Todestag von Helmuth
Hübener am 25. 10. 02 in der Verwaltungsschule Hamburg (Hübeners
früherer Berufsschule) und am 27. 10. 02 im Haus der Jugend St.
Pauli „Helmuth Hübener Haus“, veranstaltet von VVN-BdA,
Gewerkschaft Ver.di Hamburg und Personalvertretung der
Sozialbehörde (Hübeners früherem Arbeitsplatz)
Zum 60. Todestag von Helmuth
Hübener
„Entscheidet Euch, eh es zu
spät ist“
Von Ulrich Sander
„Der Verurteilte gab keine Äußerung von sich. Er war ruhig
und gefasst. Er ließ sich ohne Widerstreben vor das
Fallbeilgerät führen und dort mit entblößtem Oberkörper
niederlegen. Der Scharfrichter trennte sodann mittels Fallbeils
den Kopf des Verurteilten vom Rumpfe und meldete, daß das Urteil
vollstreckt sei.“ Einem hektographierten Vordruck des
Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof Berlin sind diese Worte
entnommen. Dem Hingerichteten wurde nur ein Vordruck, ein Formular
gewidmet; ob sich seine letzten Minuten wirklich so abspielten an
jenem 27. Oktober 1942, ist nicht bekannt.
Vor sechzig Jahren wurde Helmuth Hübener in Berlin-Plötzensee
hingerichtet. Es gibt kein Grab, sein Leichnam war der Anatomie zu
Forschungszwecken übergeben worden. Der 17jährige war das
jüngste Opfer des Volksgerichtshofes, der Jüngste in Plötzensee
Hingerichtete.
Was hatte Helmuth Hübener getan, daß er so grausam bestraft
wurde? Er sagte nach seiner Verhaftung aus, sein Bruder habe ihm
im März 1941 ein Rundfunkgerät Marke „Rola“ aus Frankreich
mitgebracht, mit dem er BBC hörte. Der Bruder, Gerhard Kunkel,
schrieb mir hingegen, Helmuth habe einen Schrank aufgebrochen, um
das Gerät unerlaubterweise zu benutzen. Ich glaube, Helmuths
Version wird stimmen. Hat der Bruder u.U. die Aussage von seiner
völligen Unschuld an dem, was Helmuth mit dem Gerät anstellte,
so verinnerlicht, daß er sie noch viele Jahre danach wiederholte?
Helmuth sagte am 9. Februar 1942 im Verhör bei der Gestapo: „Beim
Einspielen des Geräts stieß ich auf den englischen
Nachrichtendienst. In der nun folgenden Zeit habe ich bis zu
meiner Festnahme diesen Nachrichtendienst wöchentlich etwa vier-
bis fünfmal abgehört.“
Die englischen Nachrichten unterschieden sich vollkommen von
den deutschen Propagandareden im Volksempfänger des
Normalhaushalts. Sie widersprachen ganz und gar den
Wehrmachtsberichten des Oberkommandos. Hübener begann, das
Gehörte mitzuschreiben und per Durchschlagpapier zu Flugblättern
zu verarbeiten, das heißt, er schrieb sie auf der Schreibmaschine
seiner Mormonen-Kirchengemeinde oder in seiner Dienststelle in der
Sozialbehörde mit vielen Durchschlägen ab. Die Schreiben
verbreitete er in Briefkästen und Telefonzellen in den Hamburger
Stadtteilen Hammerbrook und Rothenburgsort. Zunächst alleine,
später mit Freunden, dem Schlosserlehrling Rudolf Wobbe, dem
Malergesellen Karl Heinz Schnibbe und dem Verwaltungslehrling
Gerhard Düwer. Sie wurden ebenfalls vom Volksgerichtshof
verurteilt, allerdings zu zeitlich befristeten Strafen.
„Ich war unzufrieden mit den Nachrichten, die der deutsche
Rundfunk bekannt gab und wollte Nachrichten, die der englische
Nachrichtendienst brachte und die ich zum Teil für Wahrheit
hielt, auch anderen Leuten zukommen lassen, damit sie auch von
diesen Meldungen etwas zu wissen bekommen.“ (So Hübener laut
dem Vernehmungsprotokoll vom 17.2.1942)
Die ersten Schriften Hübeners sind kurze Handzettel:
„Nieder mit Hitler
Volksverführer
Volksverderber
Volksverräter
Nieder mit Hitler.“
Später wurden die Schriften immer ausführlicher. Analysierend
beziehen sie sich auf Reden von Hitler oder Goebbels. „Der
Führer hat gesprochen, und wirklich, er hat eine große Rede
gesprochen. Denn sage und schreibe mehr als zwei Stunden dauerte
dieses Gemisch von Phrasen ... Dennoch vermochte Hitler keine
Antwort auf die Fragen zu geben, die augenblicklich jeden bewegen.
Warum werden die deutschen und verbündeten Truppen an der
Ostfront jetzt Tag für Tag unter schwersten Verlusten aus den
bisherigen Stellungen gedrängt, warum lässt sich die angeblich
überlegene Luftwaffe jetzt schon seit mehreren Monaten nicht mehr
in größeren Angriffen über England sehen, warum sinken von Tag
zu Tag die Versenkungsziffern des deutschen OKW-Berichts in der
‚Schlacht um den Atlantik’, obwohl Hitler diese schon gewonnen
glaubt? Warum? ...“
Andere Flugschriften nehmen sich immer wieder die
Kriegsberichterstattung vor. „Kamerad im Norden, Süden,
Osten, Westen. Freunde in der Heimat“ oder „Militärische
Monatsübersicht Dezember-Januar“ tituliert Hübener seine
Analysen. Dann blendet er die deutsche Berichterstattung ein und
setzt ihr entweder die englischen Meldungen entgegen oder stellt
die widersprüchlichen deutschen Meldungen selbst nebeneinander. „3.
Oktober-3. Februar! Vier Monate sind es her ... seit der Führer
großspurig verkündete: Der Feldzug im Osten ist bereits
entschieden! Er hat weit gefehlt, denn obgleich er noch so viel
von den ‚überaus großen’ bolschewistischen Verlusten sehen
wollte, hat er sich dennoch verrechnet .... Es ist schon ein
schweres Stück Arbeit für Goebbels und seine Nazipropagandisten,
diese Tatsache zu bemänteln und den Anspruch Hitlers als nie
gesagt hinzustellen...“
Helmuth Hübener war Mitglied der Hitlerjugend. Hier stießen
ihn der Zwang, der Drill und die geforderte bedingungslose
Unterordnung unter geistlose Kommandierer ab. Mit seinen Freunden
wusste er sich einig in dieser Abneigung, wurde doch Karl-Heinz
Schnibbe bereits Ende der dreißiger Jahre wegen
Befehlsverweigerung aus der faschistischen Jugendorganisation
ausgeschlossen. Doch noch war ihre ablehnende Haltung eher vor
allem gefühlsmäßig begründet. Überlebende des
Hübener-Kreises berichteten später, besonders der Novemberpogrom
gegen die Juden von 1938, genannt „Kistallnacht“, habe sie
sehr aufgewühlt, aber auch die Zutrittsverweigerung für Juden zu
den Kirchenräumen.
In Verhörprotokollen und Berichten der Mitkämpfer ist später
nie eingeschätzt worden, welche Impulse Helmuth Hübener aus
seiner Tätigkeit als Verwaltungslehrling erfuhr. Er hat zwar
nicht nur außenpolitische Themen kommentiert, er hat sich auch
mit den unmittelbaren Erfahrungen und Nöten junger Menschen
befasst. Seine Flugblätter gegen die Hitlerjugend und gegen den
Wochenendkarzer, gegen den Drill, dem junge Leute ständig
ausgesetzt waren, belegen dies. Dass er aber auch oppositionellen
Geist aus den Informationen und Erfahrungen aus seiner Arbeitswelt
speiste, sollte in Betracht gezogen werden.
In den achtziger Jahren haben Historiker die Hamburger
Verwaltung der Nazizeit analysiert und besonders die Mitwirkung
der Sozialbehörde und der sogenannten Wohlfahrtsanstalten an
schweren Menschenrechtsverletzungen bilanziert. Helmuth Hübener
könnte davon erfahren haben. Kurz vor Kriegsbeginn hatte es auch
in Hamburg die „Aktion Arbeitsscheue Reich“ mit
Massenverhaftungen und Deportationen gegeben, und Anfang der 40er
Jahre kam es im Bereich der Wohlfahrtsanstalten zu Verlegungen in
Euthanasie-Heime. Die Behörde, in der Hübener arbeitete, hat
zweifellos geholfen, die Konzentrationslager, ja sogar die
Vernichtungsstätten der Nazis zu füllen.
Frieden, Wahrheit und Gerechtigkeit – das waren die großen
Ideale von Helmuth Hübener. Er rief auf, das blutige Ringen zu
beenden. Als Hitler noch auf der Straße des Sieges ging, da
wusste Helmuth Hübener schon, daß der Krieg für Deutschland
nicht zu gewinnen war. Sein analytischer Verstand verhalf ihm zu
bemerkenswerten journalistischen Leistungen, zu denen er keine
Vorlage besaß. Die freie Presse mit gutem Journalismus hatte er
nicht kennengelernt. Aus eigenem Antrieb wurde er dann ein
fähiger Journalist, Analytiker und Kommentator.
Kriegführen und Lügen – das sehen wir heute – das gehört
zusammen, das erkannte auch Helmuth. Und für den Frieden mit den
Mitteln der Wahrheit kämpfen, das empfand er als seinen Auftrag.
Ein weiteres Ideal, dem er sich verpflichtet fühlte, das war
die Gerechtigkeit. Er wies in seinem Flugblatt „Der
Nazireichsmarschall“ nach, wie einige wenige – in diesem Fall
Göring - am Krieg verdienten und die große Masse des Volkes
andererseits am Krieg verlor. „Wohl kann der Luftmarschall
der Nazis noch immer eine horrende Dividende – er ist eben ein
gerissener Kriegsgewinnler und Geschäftsmann – aus seinen
Rüstungswerken ziehen, doch der Traum von der uneingeschränkten,
immer zunehmenden Luftüberlegenheit seiner Fliegerarmada geht dem
Ende immer mehr entgegen. Es wird ein böses Erwachen geben.“
In einem längeren Gedicht, das Helmuth Hübener verbreitete,
fasste er die Werte der Wahrheit wie der Gerechtigkeit, hier der
sozialen Gerechtigkeit, zusammen. Es heißt dort unter anderem:
"Wir stehen im Kampfe, stehn an seiner Wende,
Drum gebt alle viel für die Wollsachenspende
So bettelte Goebbels und glaubte auch nun,
Man würde es auch seinem Wunsche nach tun.
Man würde still alles weggeben
Und hätte selbst nichts zum Leben
Ja, Hitler ist schuld, dass das Volk muss berappen
Von seinem Vorrat, dem ohn’hin schon knappen.
Für Hitlers Irrtum zahlt das Volk nun die Kosten,
Was hilft's, Russland bleibt ein verlorener Posten.
Dass Stalin sein Heer jetzt zum Siege hinführt,
Das hatte der Führer nicht einkalkuliert!
Im Jahr einundvierzig wird alles gebrochen,
So hatte der Führer dereinst keck versprochen.
Jetzt trägt der Soldat für den Irrtum die Leiden,
Während Hitler verspricht: ,Dies Jahr wird entscheiden!'
Es wird sich entscheiden, wenn alles sich rührt!
(Und dann hat auch Hitler sich auskalkuliert!)“
"Wenn alles sich rührt" - dieser Appell zum aktiven
Widerstand richtete sich in den unmittelbar folgenden Zeilen an
die Arbeiter und Soldaten. Sie werden gewarnt: "Der
Führer hat euch für 1942 die Entscheidung versprochen, und er
wird kein Mittel scheuen, sein Versprechen diesmal zu halten. Zu
Tausenden wird er euch ins Feuer schicken, um das von ihm
begonnene Verbrechen auch zu beenden. Zu Tausenden werden eure
Frauen und Kinder zu Witwen und Waisen gemacht."
Wer einmal durch Hammerbrook, Helmuth Hübeners engere Heimat,
gegangen ist, kann dort wie auch in Horn, Hamm-Süd und
Hammerbrook nicht jene vielen Mietshäuser übersehen haben, die
zu neun Zehnteln nun Plaketten aus Ziegelstein tragen: „Zerstört
1943, wiedererrichtet 1950 bis 1956“. In dem Bericht aus den
Tagen der Katastrophe 1943, den das „Hamburger Abendblatt“ im
Juli 1953 in einer langen Serie veröffentlichte, wird mitgeteilt,
daß bis 1942, etwa zu der Zeit, da Hübener und seine Freunde
ihre Flugblätter verbreiteten, rund 1500 Menschen in Hamburg
durch Bomben getötet und 25.000 obdachlos wurden. Diese Zahlen
steigerten sich dann gewaltig: Über die Nacht auf den 28. Juli
1943 heißt es dann, daß in ihr 30.000 Menschen ihr Leben
verloren, das sind Dreiviertel der Bombenopfer Hamburgs. Es heißt
in dem Bericht: „Von Billstedt her über Rothenburgsort,
Hammerbrook, Hohenfelde, Borgfelde, St. Georg, Hamm, Horn,
Wandsbeck, Eilbeck und Barmbeck – alles ein einziges heulendes
Flammenmeer.“ Wie furchtbar Recht hatte Hübener mit seinen
Warnungen behalten. 50.000 Bombenopfer hatte Hamburg bis 1945 zu
beklagen.
Unter den Toten waren seine Mutter und seine Großeltern, aber
auch möglicherweise jene Frau Flögel vom Kreuzbrook 2 und jener
Herr Welthin von der Süderstraße 205, die immer – wie aus den
Akten zu entnehmen – jenem Kreisleiter der NSDAP, Herrn Brandt
die Flugblätter überbrachten, die sie im Hausflur oder in der
Telefonzelle Süderstraße/Ecke Louisenweg – dort wohnte Helmuth
– fanden und als deren Autor der erst sechzehn Jahre alte Junge
entdeckt wurde.
Helmuth Hübener wie dem gesamten Widerstand war es nicht
möglich, die Kriegsmaschinerie zu stoppen. Aber war ihr
Widerstand wirkungslos?
Im März 1948 schrieb der Widerstandskämpfer Franz Ahrens in
der ersten Veröffentlichung über Hübener: „Die Jugend,
gewohnt mit Maschinengewehren und Panzerfäusten zu kämpfen, wird
vielleicht befremdet, vielleicht gar verächtlich auf diese
Kampfmittel schauen und fragen: War das denn der ganze Kampf des
Widerstandes? Nun, ihr sei entgegengehalten die Antwort eines
Gestapobeamten, dem ein SS-Mann von einer Haussuchung Pistole und
Schreibmaschine brachte. 'Pistole? Die ist nicht so wichtig wie
die Schreibmaschine. Suchen Sie den Abziehapparat, der ist für
die Brüder heute wichtiger als ein Maschinengewehr.' Wir wollen
die Bedeutung dieser Kampfmittel nicht geringer schätzen als die
Gestapo.“ (Freiheitskämpfer der Jugend, Hamburg 1948)
Und Gerhard Bauer schreibt über die Hübener-Gruppe in „Sprache
und Sprachlosigkeit im 'Dritten Reich'“ (Köln 1988): „Vom
Gericht wurde die Gruppe als bloßes Anhängsel der
'Feindpropaganda' behandelt. In Wirklichkeit war ein
außergewöhnliches Maß an Selbständigkeit, Erkenntnisarbeit,
Überzeugungsarbeit, Kooperation und (durch keine politische
Organisation angeleitete) Konspiration erforderlich, um das aus
dem 'Feindsender' Gehörte auf bedrucktes Papier und an Erfolg
versprechende Adressaten zu bringen. Die fünf von Brecht
beschriebenen 'Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit' und
noch einige mehr wurden von der Gruppe gemeistert, und zwar aus
eigener Kraft, auf eigene Verantwortung. Selten wurde das
Weitergeben so engagiert und konsequent zum Lebensinhalt gemacht.
Noch seltener läßt es sich so personell verfolgen wie hier
'dank' der Verurteilung vor Gericht. Aber dieser Fall kann dazu
dienen, daß wir uns überhaupt das Geflüster und Getuschel im
Dritten Reich stärker als eine bewußt ausgeübte, verantwortete
Tätigkeit vorstellen.“
Helmuth Hübener zeigte uns, daß es zu jeder Zeit möglich und
nötig ist, für Frieden und die Menschenrechte zu handeln. Vor
allem muß gehandelt werden, bevor es zu so mörderischen
Konsequenzen führt wie zu Helmuths Zeit. Sagen wir es mit
Helmuths Gedichtszeile: „Es wird sich entscheiden, wenn alles
sich rührt.“
Oder mit diesem aufrüttelnden Text (aus „Es gibt im
ostasiatischen Kampfraum...“ vom Jahreswechsel 1941/42):
„Das Jahr 1942 wird die Entscheidung bringen. Vielleicht im
Osten, in Afrika oder gar in Asien? Das glaubt doch Hitler wohl
selber nicht. Die Entscheidung wird an einem anderen Platze
fallen. Sie wird fallen, wenn dem schon lange in Finsternis
gehaltenen deutschen Volk ein Licht aufgeht, wenn es der
unsäglichen Kriegslasten müde ist und gerne die Bürde abwerfen
möchte.
Das Jahr 1942 wird entscheiden.
Und dem deutschen Volk, jedem Deutschen, auch wenn er jetzt
widerwillig feldgrau in Schnee und Eis oder in der Gluthitze
Afrikas am – von Hitler und Genossen provozierten – Blutbad
teilnehmen muss, bleibt diese Entscheidung vorbehalten. Allen,
auch den Witwen und Waisen, den Opfern hitleristischer Blutgier,
ist es vorbehalten, sich zu rächen an dem Mann, der schuld an all
dem ungezählten Leid ist, der schuld dran ist, daß unzählige
deutsche Soldaten der unbeschreiblichen Kälte wegen in
mangelhafter Winterausrüstung auf verlorenem Posten ihre
Gesundheit verlieren, daß Hunderttausende vergeblich warten.
Entscheidet Euch, noch kann eine entschiedene Tat Euer Volk
und Land vor dem Abgrund retten, an den Hitler es mit süßen
Worten geführt hat. Entscheidet Euch – eh es zu spät ist!!“
Helmuth Hübener hatte das laut Nazigesetzgebung für die
Todesstrafe erforderliche Alter von 18 Jahren noch nicht erreicht.
Dennoch hatte sich der Zweite Senat des Volksgerichtshofes unter
dem Vorsitz seines Vizepräsidenten Karl Engert am 11. August 1942
für das Todesurteil entschieden. Dies war nach der Gesetzeslage
nur möglich, sofern Hübener gemäß Paragraph 1 der „Verordnung
gegen jugendliche Schwerverbrecher“ einer „nach seiner
geistigen und sittlichen Entwicklung über 18 Jahre alten Person“
gleichgestellt wurde. Das tat der Senat: „Hübener hat in der
Hauptverhandlung einen weit über dem Durchschnitt von Jungen
seines Alters stehende Intelligenz gezeigt.“ Das beweise auch
„der Inhalt der Flugschriften, die von Hübener in Anlehnung an
die Nachrichten verfasst worden sind. Auch hier würde niemand,
selbst wenn er wüßte, daß ihr Inhalt nach Aufzeichnungen
verfasst worden ist, vermuten, daß sie von einem erst 16- und
17jährigen Jungen verfasst worden sind. Damit war der Angeklagte
wie ein Erwachsener zu bestrafen.“ So lautet es in der
Urteilsbegründung vom 11. August 1942, in der auch die Tatsache,
daß die Flugblätter in Arbeitervierteln verteilt wurden, in
denen der Marxismus noch nicht ausgerottet ist, besondere
Beachtung findet.
Nach 1945 gehörten den regierenden Eliten unseres Landes die
Angehörigen der Generation Helmuth Hübeners und seiner
Vätergeneration an. Unter den Politikern aus Helmuths Generation
gab es einen, der sich die Gnade der späten Geburt zugute hielt.
Er hätte wohl mitgemacht, wäre er in der Nazizeit erwachsen
gewesen, wollte er uns damit sagen. Doch Helmuth hat nicht
mitgemacht, hat widerstanden. Er blamierte mit seinem Beispiel
diejenigen, die immer sagten: Wir konnten nichts wissen und wir
konnten nichts tun. Wenn sie ehrlich gewesen wären, hätten sie
sagen müssen: Wir wagten es nicht, zu handeln, es war zu
gefährlich – oder noch ehrlicher wäre es für viele zu sagen:
Wir fanden den Krieg und das Regime ganz in Ordnung, so lange es
uns nutzte.
Für Helmuth Hübener gab es nicht die Gnade der späten Geburt
und auch nicht die Gnade der Herrschenden. Weder die Gnadengesuche
der Mutter und der Anwälte, noch die der Gestapo – ja die
sorgte sich, daß das Beispiel des Justizmordes an einem Jungen
Unruhe auslösen könnte – haben ihm Gnade verschafft. Der
Führer selbst ließ den Mord per Volksgerichtshof anordnen.
Hitler hatte schon 1924 in seinem Buch „Mein Kampf“
geschrieben: „Ein deutscher Nationalgerichtshof (soll) etliche
Zehntausende der organisierten und damit verantwortlichen
Verbrecher des Novemberverrats und alles dessen, was dazugehört,
aburteilen und hinrichten.“ Was dazu gehört? Dazu gehörte auch
ein 17jähriger wahrheits- und gerechtigkeitsliebender Junge.
Karl Engert, der Vizepräsident des Volksgerichtshofes, der
Hübeners Todesurteil aussprach, hatte schon 1939 betont, daß die
Mitglieder des Volksgerichtshofes in erster Linie Politiker und
erst dann Richter zu sein hätten. Sie waren Vollstrecker einer
mörderischen Politik, wie wir wissen. Aber sie gaben sich auch
als Vollstrecker des Volkswillens aus. In den Paragraphen 2 des
Strafgesetzbuches fügten sie 1935 den Grundsatz der Bestrafung
nach „gesundem Volksempfinden“ ein. Und Roland Freisler, neuer
Präsident des Volksgerichtshofes, schrieb knapp zwei Wochen vor
Helmuth Hübeners Hinrichtung am 15. Oktober 1942 an Hitler: „Der
Volksgerichtshof wird sich stets bemühen, so zu urteilen, wie er
glaubt, daß Sie, mein Führer, den Fall selbst beurteilen
würden.“ Noch am selben Tag, ebenfalls am 15. Oktober 1942,
schrieb der Reichsminister der Justiz Dr. Thierack: „In der
Strafsache gegen den vom Volksgerichtshof am 11. August 1942 wegen
Abhörens und Verbreitens ausländischer Rundfunknachrichten in
Verbindung mit Vorbereitung zum Hochverrat und
landesverräterischer Feindbegünstigung zum Tode verurteilten
Helmuth Hübener habe ich mit Ermächtigung des Führers
beschlossen, von dem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch zu machen,
sondern der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen.“
Während gegen Hübener gnadenlos jeder mögliche Paragraph
eingesetzt wurde, so ward mit seinen Mördern nach 1945 ganz
anders, sehr milde verfahren. Engert kam zwar vor Gericht, war
aber immer viel zu krank, um an Gerichtsverhandlungen
teilzunehmen. Sein Verfahren in Nürnberg vor dem alliierten
Tribunal wurde am 22. August 1947 wegen Erkrankung abgetrennt und
nie wieder aufgenommen. Und alle anderen Mitschuldigen wurden
freigesprochen oder blieben von vornherein außerhalb jeder
Ermittlung und jeder Verfolgung.
Hübener war denunziert worden. Sein Denunziant und
Vorgesetzter Heinrich Mohns hatte am 20. Januar 1942 Hübener
dabei beobachtet, wie er versuchte, einem anderen
Verwaltungslehrling ein Schriftstück zuzustecken. Er berichtete
dies nicht sofort, sondern erst nach tagelangen eigenen Recherchen
der Gestapo. Dort sagte Mohns dann Mitte Februar aus: „Mir kam
sofort der Gedanke, daß es sich um eine verbotene Angelegenheit
handeln müsste ...“ Mohns arbeitete sehr genau, bis er die
Falle zuschlagen ließ. Am 12. Mai 1950 verurteilte das
Schwurgericht in Hamburg den Denunzianten Mohns zu einer
Freiheitsstrafe von zwei Jahren Haft. In der Revision hob der
Bundesgerichtshof in Karlsruhe dieses Urteil allerdings wieder
auf. Das Urteil des Hamburger Gerichts wegen „Verbrechen gegen
die Menschlichkeit“, also aufgrund alliierten Rechts nach dem
Kontrollratsgesetz Nr. 10 sei ungültig. Dem Hamburger
Schwurgericht, an das der BGH die Sache zurückverwies, gab er zu
bedenken: „Das Schwurgericht wird dabei auch zu prüfen haben,
ob bei den gegebenen Umständen die Handlungsweise des Angeklagten
(Mohns) auch dann rechtswidrig war, wenn er kraft Gesetzes zur
Anzeige des Jugendlichen verpflichtet war ...“ (Aus dem Urteil
des BGH vom 25. Juni 1953)
Ganz im Sinne des Obersten Gerichts sprach das Hamburger
Schwurgericht den Denunzianten am 28. Oktober 1953 frei. Aber die
ursprüngliche Strafe empfanden Prozessbeobachter als viel zu
milde, zumal Mohns sich als „alter Kämpfer“ und völlig
uneinsichtig gab. Das faktisch freisprechende Urteil des
Bundesgerichtshofes liest sich heute wie eine erneute Verurteilung
von Helmuth Hübener. Mohns wurde „Notstand“ bescheinigt und
den Revisionsrichtern wurde die Auffassung nahegelegt, daß die
Jungen um Helmuth uneinsichtig waren, die Denunziation jedoch
gesetzlich vorgeschrieben gewesen sei.
Nach der Verkündung des Todesurteils erhielt Hübener das
sogenannte letzte Wort. Er sagte: „Ich muß jetzt sterben und
habe kein Verbrechen begangen. Jetzt bin ich dran, aber Sie kommen
auch noch dran.“ Hübener sollte nicht recht behalten.
Daß auch die unmenschlichen Vollstrecker von Führerwillen und
– wie sie es nannten – gesundem Volksempfinden, ja auch die
Neonazis von heute, „drankommen“, nicht unterm Fallbeil, aber
als Geächtete, denen es genauso wie ihren Nachfolgern ein für
alle Mal verwehrt ist, die Geschicke der Menschheit nach ihrem
verbrecherischen Gesetz zu bestimmen, diese Aufgabe steht noch vor
uns. Und zwar im Sinne von Helmuth Hübeners „Sie kommen auch
noch dran“ wie im Sinne des Schwurs der Häftlinge des
Konzentrationslagers Buchenwald, die nach ihrer Befreiung
verkündeten: „Wir schwören ... vor aller Welt auf diesem
Appellplatz, an dieser Stätte des faschistischen Grauens: Wir
stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den
Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit
seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des
Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren
gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.“
Zum selben Thema: (neu)
Ulrich Sander: Jugendwiderstand im Krieg - Die Helmuth Hübener
Gruppe 1941/42
200 Seiten, ca. 20 Abb., 19 Flugblatt-Texte, gebunden, 14,90 EUR,
Pahl Rugenstein, 3-89144-336-6
Erscheint Mitte Oktober 02 in der „Bibliothek des Widerstandes“
der VVN-BdA
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