04.03.2018
Erinnerung an
NS-Massenverbrechen in der Kriegsendphase
Mahn-
und Gedenkfahrt von Köln nach Lüdenscheid
Eine Gedenkfahrt zu den
Stätten der bisher fast vergessenen Massenverbrechen der
Gestapo fand am Samstag, dem 3. März statt. Sie wurde
veranstaltet von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes /
VVN-BdA NRW und unterstützt von der Kölner
Gedenkstätte EL-DE-Haus sowie vom Bündnis
Oberberg-ist-bunt-nicht-braun und der Friedensgruppe
Lüdenscheid. Mitarbeiter der Gedenkstätte
„Gestapozellen im Alten Lüdenscheider
Rathaus“ hatten die Initiative ergriffen, um die Recherchen
und Aktionen zur Erinnerung an fast vergessene NS-Massenverbrechen aus
dem Rheinland und Südwestfalen im Frühjahr 1945 voran
zu bringen. An Gedenkorten in Köln-Deutz, Lindlar und an der
Klamer Brücke/Versetalsperre wurden Blumen niedergelegt. In
Gedenkreden wurden die Toten geehrt und die Täter
angeprangert. Dazu zählten die Sklavenhalter-Firmen wie
Hochtief AG Essen und Vereinigte Stahlwerke Dortmund, die gemeinsam mit
der Gestapo betriebliche KZs unterhielten.
Ulrich Sander,
Bundessprecher der VVN-BdA, hielt an der Gedenktafel für
ermordete Zwangsarbeiter an der St. Severin-Kirche in Lindlar
folgende Ansprache:
Jahr für Jahr sind Antifaschist/innen zu
Ehren der Opfer der Kriegsendphase, der Todesmärsche
unterwegs. Sie gehen in die Wenzelnbergschlucht bei Solingen und in die
Bittermark bei Dortmund. Sie fahren mit dem Rad von Sachsenhausen nach
Schwerin, und sie marschieren von Leipzig nach Wurzen; in Gardelegen
ehren sie die in letzter Minute in einer Scheune vom der Nazipartei
verbrannten eintausend Zwangsarbeiter von Quandt.
Heute geht es per Bus von Köln nach
Hunswinkel bei Lüdenscheid. Ich begrüße
besonders den Aufruf der Gedenkstätten in Köln und
Lüdenscheid zu diesem unseren Aufklärungsunternehmen.
Wir erinnern an Todesmärsche und
Massenmorde der Gestapo Köln und der Gestapo Dortmund kurz vor
Kriegsende 1945.
Aus Berlin hatten diese wie andere Gestapostellen
im Januar 1945 folgendes Telegramm erhalten:
An
die Leiter der Staatspolizei(leit)stellen Düsseldorf,
Münster, Dortmund und Köln.
Geheime
Reichssache - persönlich.
Die
gegenwärtige Gesamtlage wird Elemente unter den
ausländischen Arbeitern und auch ehemalige deutsche
Kommunisten veranlassen, sich umstürzlerisch zu
betätigen. Größte Aufmerksamkeit ist daher
geboten. Dass der Feind Vorbereitungen getroffen hat, geht aus einer
Meldung des O.B.-West (Oberbefehlshaber der Wehrmacht-West, das war
Generalfeldmarschall Walter Model - d. V.) hervor. Es ist in allen sich
zeigenden Fällen sofort und brutal zuzuschlagen. Die
Betreffenden sind zu vernichten, ohne im formellen Weg vorher beim RSHA
Sonderbehandlung zu beantragen. Die Leiter der Kriminalpolizeistellen
sind persönlich von Ihnen entsprechend zu informieren.
Dieser Befehl benannte Ausländer,
Umstürzler und Kommunisten als Feinde, die „zu
vernichten“ seien. Für ausländische
Häftlinge gab es schon früher die
„Sonderbehandlung“, wie die Massentötung
genannt wurde. Um auch deutschen Staatsangehörigen
„Sonderbehandlung“ zuteilwerden zu lassen, erging
ein besonderer Befehl, mit dem für sämtliche Opfer
jede juristische Verfahrensweise, jedes Einschalten von Gerichten und
Beschwerdeinstanzen ausgeschlossen wurde. Dieser Befehl wurde vom
Amtschef IV des Reichssicherheitshauptamtes, dem Gestapochef Heinrich
Müller, und vom Inspekteur der Sicherheitspolizei und des
Sicherheitsdienstes der SS, Dr. Albath, an die Leiter der Gestapo
Düsseldorf, Münster, Köln und Dortmund am
25. Januar 1945 telegrafisch versendet; es wurde die Weisung erteilt,
bei der Liquidierung - genannt „Sonderbehandlung“ -
von Häftlingen aus eigener Machtvollkommenheit zu entscheiden.
Wir
erinnern: Kurz vor der Befreiung im Frühjahr 1945, 8. Mai,
wurden noch Tausende Antifaschistinnen und Antifaschisten von den Nazis
ermordet. Auch im Westen hat die Gestapo-Leitstelle Köln eine
fast vergessene Blutspur hinterlassen. Von Köln aus wurden
mindestens 1.000 Gefangene aus den Benelux-Ländern und dem
Rheinland durch das Bergische Land in das sogenannte
„Arbeitserziehungslager“
Lüdenscheid-Hunswinkel im Versetal (heute unter den Fluten der
Versetalsperre) und dem Exekutionsort Hühnersiepen (heute eine
Kriegsgräberstätte) getrieben. Circa 300 wurden dort
hingerichtet, viele kamen auf dem Todesmarsch ums Leben. In
Köln selbst ermordeten die Faschisten kurz vor der Befreiung
1.800 in- und ausländische Widerstandskämpfer,
Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Juden.
Während die Kriegsendverbrechen in der
Dortmunder Bittermark/Rombergpark und der Solinger Wenzelnbergschlucht
seit Jahrzehnten erforscht sind und dort jedes Jahr würdige
Gedenkveranstaltungen stattfinden, wollen wir heute eine solche
Tradition auch in Köln und Lüdenscheid
begründen. Die Initiative hierzu ergriff Matthias Wagner,
Leiter der Gedenkstätte „Gestapozellen im Alten
Lüdenscheider Rathaus“ mit seinen Recherchen und
Aktionen.
Wir sind ihm zu besonderem Dank verpflichtet.
Wir gedenken der Opfer und warnen vor den
Tätern, deren Untaten nicht gesühnt worden sind. So
hat der Essener Baukonzern Hochtief AG durch die Sklavenarbeit des
sogenannten „Arbeitserziehungslagers“ in den
Kalksteinbrüchen beim Bau der Versetalsperre profitiert. Die
Einbindung des Konzerns in die Strukturen und Verbrechen des
Nazi-Regimes war durch den Vorstandsvorsitzenden Eugen Vögler,
zugleich Führer der Wirtschaftsgruppe Bau, vorangetrieben
worden. Gegen die Auszahlung der Zwangsarbeiterentschädigung
hatte sich der Konzern wie andere auch 2001 zunächst gesperrt.
Später wurden geringe Summen gezahlt, aber nicht an alle
Zwangsarbeiter, so nicht an die sowjetischen Kriegsgefangenen.
Wir
Antifaschist/innen erinnern an das
Zusammenspiel der Gestapo von Köln und Dortmund bei der
Ermordung von in- und ausländischen Zwangsarbeiter/innen und
politischen Gefangenen – aber auch an das Zusammenspiel von
Hochtief AG Essen und den Vereinigten Stahlwerken mit den Nazis
– also an die Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr
1933 bis 1945. Das Zusammenspiel von Industrie und Polizei
äußerte sich besonders in der Schaffung sogenannter
Arbeitserziehungslager, betrieben von Gestapo und Industrie gemeinsam.
Bei der Ehrung der Opfer geht es uns
Antifaschist/innen ja nicht nur um die Verlegung von Stolpersteinen,
sondern auch um die Aufklärung über das
Zusammenwirken von Nazis und ökonomischen Eliten. So ist kaum
bekannt, dass 200 KZs als „Arbeitserziehungslager“
gemeinsam von Industrie und Gestapo unterhalten wurden. Die schon
genannte Essener Hochtief AG vernichtete hunderte Sklavenarbeiter im
Wall der Versetalsperre im Sauerland, wo sie sie bestattete. Dorthin
zieht also dieses Jahr erstmals unser Gedenkmarsch.
Wir ehren damit die Opfer einer
Verbrechenskategorie der Nazis und der Industriellen und der
Militärs in den letzten Wochen vor dem 8. Mai 1945: die Opfer
der Kriegsendphasenverbrechen, die 700.000 Toten der
Todesmärsche, der Hinrichtung von Deserteuren, politischen
Gefängnisinsassen und Zwangsarbeiter/innen.
Während seit Herbst 1944 zahlreiche
geheime Bemühungen von Nazioberen um eine Wende des
Weltanschauungskrieges – eine Wende zu einer Einigung mit dem
Westen zur Fortsetzung des Krieges gegen den Osten, die Sowjetunion
– unternommen wurden, ist gleichzeitig ein Mordfeldzug gegen
deutsche und ausländische Zwangsarbeiter/innen und
Antifaschist/innen und gegen deutsche Soldaten, die dem Wahnsinn ein
Ende bereiten wollten, in Gang gesetzt worden. Die Nazis verhandelten
heimlich in der Schweiz mit US-Geheimdienstchef Dulles, sie ermordeten
unter Aufsicht der Briten die jungen Matrosen in Jütland, die
nicht mehr nach Osten in den Krieg gegen die Russen ziehen wollten. In
Straßburg fand ein Treffen der SS mit Konzernen statt, um die
Nachkriegsordnung zu regeln.
Die Nazis befürchteten,
widerständige deutsche und ausländische Arbeiterinnen
und Arbeiter könnten sich die Früchte des
bevorstehenden Sieges über den Faschismus durch gemeinsames
Handeln sichern wollen. So sollte ihr Mitgestalten an einer Zukunft
ohne Nazis und Militaristen verhindert werden.
Die Massenmorde wie auch die Massaker in den
Konzentrationslagern und auf den Todesmärschen von den KZ nach
Westen entsprachen dem Nachkriegs- und Überlebenskonzept des
deutschen Faschismus. Gestapochef Müller hatte versichert:
“Wir werden nicht den gleichen Fehler machen, der 1918
begangen wurde; wir werden unsere innerdeutschen Feinde nicht am Leben
lassen.“
Viel zu wenig ist bekannt, dass der
Kölner Widerstand ein ungewöhnliches quantitatives
und qualitatives Niveau angenommen hat. Einen
Widerstandeskämpfer möchte ich besonders nennen, es
ist der jüngste der Ermordeten: Bartholomäus Schink,
der nur 16 Jahre alt wurde. Obwohl er der Hitler-Jugend
angehörte, traf er sich als Sechzehnjähriger mehrfach
mit Kölner Jugendlichen, die sich zu den
Edelweißpiraten rechneten. Im Spätsommer 1944
stieß Schink mit seinem jüngeren Freund
Günter Schwarz zu einer illegalen Gruppe um den geflohenen
KZ-Häftling Hans Steinbrink. Die Mitglieder der Gruppe
verübten in der zerstörten Stadt zunächst
Diebstähle, um sich und Illegale durchzubringen,
später horteten sie auch Waffen und Sprengstoff, um sich, wie
sie hoffen, als Partisanen in den „Endkampf“
einschalten zu können. Bei Auseinandersetzungen mit der
Gestapo schossen sie schließlich auf örtliche
NS-Führer und Polizisten. Köln ist die einzige Stadt,
in der der Gestapochef von Widerstandskämpfern erschossen
wurde. Schink und Schwarz wurden mit anderen nach ihrer Verhaftung und
schweren Misshandlungen ohne Gerichtsverfahren am 10. November 1944 in
Köln-Ehrenfeld öffentlich gehängt.
Neben den Edelweißpiraten entwickelt
sich das Nationalkomitee Freies Deutschland aus Köln zu einer
einmaligen regionalen Kampforganisation. Es stellte sich auf die
Grundlagen des Nationalkomitees wie es Emigranten und Kriegsgefangene
mit Kommunistinnen und Kommunisten in Russland gebildet hatten. Das
Komitee in Köln erweiterte seinen Einfluss bis in durchaus
bürgerliche, ja kapitalistische Kreise hinein. Kommunisten und
Sozialdemokraten arbeiteten zusammen. Sie versteckten jüdische
Familien, riefen zur Sabotage der Kriegsproduktion auf, beherbergten
desertierte Soldaten, verteilten Flugblätter, klebte
antifaschistische Plakate und rief in Wandlosungen zum Sturz Hitlers
und zum sofortigen Friedensschluss auf.
Mit drakonischem Terror unternahmen die Nazis vor
der Befreiung Kölns am 4. März 1945 durch die
Alliierten noch einen letzten Rachefeldzug, dem die führenden
Mitglieder des Kölner Nationalkomitees, antifaschistische
Jugendliche, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zum Opfer fielen.
Zu diesem Terror gehörte der Todesmarsch
von Köln nach Lüdenscheid.
Seine Opfer und der Mut wie auch das gemeinsame
Handeln der Widerstandskämpfer/innen sind uns bleibende
Mahnungen: Handeln wir gemeinsam gegen neue Rechtsentwicklungen, gegen
Krieg, für Demokratie.
Aus der
Gedenkrede von Matthias Wagner
Und was hat das mit uns heute zu tun? Diese Frage
mit
dazu gehörendem Fazit stand am Ende einer weiteren Gedenkrede.
Sie
wurde von Matthias Wagner, Friedensgruppe Lüdenscheid und
Leiter
der Gedenkstätte der Stadt, am Mahnmal an der Versetalsperre
gehalten. (Der gesamte Wortlauf siehe http://www.verbrechen-der-wirtschaft.de/texte/0138_deportationen_hunswinkel.htm)
- Mörderische Menschenrechtsverletzungen
gibt es seit 1945 in großer Zahl.
- So wurden z.B. hunderttausende von Patronen
für
die US-Truppen von den Westfälischen Kupfer- und Messingwerken
an
der Altenaer Str. in Lüdenscheid während des
Koreakrieges in
der Adenauerzeit hergestellt. Die gleichen Menschen und Maschinen
hatten im Zweiten Weltkrieg Patronen für die Deutsche
Wehrmacht
hier produziert.
Und die steigenden Waffenexporte Deutschlands (2017 für mehr
als 7
Mrd. €) produzieren jährlich tausendfachen Tod in der
Welt.
- In den Gefängnissen der Welt sitzen
mehr als 100
kritische Redakteure, nur weil sie die Wahrheit sagen wollten. 65
wurden im letzten Jahr ermordet, vereinzelt sogar in Europa (Malta
u.a.).
- In Deutschland wurden im letzten Jahr 1.906
Flüchtlinge attackiert, wovon auch 313
Flüchtlingsheime betroffen waren.
- Auch die Angriffe auf jüdische
Deutsche und ihre
Einrichtungen nahmen in den letzten vier Jahren zu. Es waren
jährlich mehrere hundert.
- Die rechte Partei AfD wurde in der
Bundestagswahl 2017 in Sachsen zur stärksten Partei.
Führende
Mitglieder wollen die Erinnerung an NS-Unrecht abschaffen.
- Das Leid und die Willkür von Millionen
Menschen
in Syrien oder im Süd-Sudan zeigen uns, dass sinnlose Kriege
noch
immer aus Machtgier geführt werden.
- Und in der Mehrzahl aller Staaten der Erde
werden die
Menschenrechte und die Freiheit nicht geschützt, sondern von
den
Herrschern nach ihrem Willen unterdrückt.
- Deshalb sollten wir heute im Gedenken an die
Opfer
der mörderischen Gestapo-Gewalt vor 73 Jahren uns gemeinsam
ermutigen, unser Wissen von den nationalsozialistischen
Unmenschlichkeiten nicht zu vergessen, sondern als Auftrag für
eine menschenwürdige Gegenwart und Zukunft zu verstehen.
Matthias Wagner, Friedensgruppe
Lüdenscheid
|