30.12.2017
Porträt einer
Datenbank für die Entschädigung von Naziopfern
Nach
wie vor ist die Hilfe für NS-Verfolgte und Hinterbliebene
notwendig
„Hüter der
‚Schicksalskarten‘ – In
Düsseldorf gibt es eine bundesweit einmalige Kartei, in der
Daten von rund zwei Millionen NS-Opfern archiviert sind. Monatlich
gehen 2000 Anfragen ein“. So ist ein Artikel
überschrieben, der am 27.12.2017 in WAZ (Essen) und WR
(Dortmund) erschien und den wir mit Genehmigung der Redaktion hier
veröffentlichen dürfen. Die
Entschädigungsbehörde, die seit über 70
Jahren wirkt und mit der die VVN ebenso lange zusammenarbeitet,
betreibt heute einen Härtefonds für späte
Antragssteller. Auch der Bundesverband Information und Beratung
für NS-Verfolgte (Köln), in der die VVN-BdA Mitglied
ist, arbeitet mit der Behörde zusammen. Die
„Förderung der Hilfe für politisch,
rassisch oder religiös Verfolgte und für
Flüchtlinge“, so lautet die Tätigkeit,
für die die VVN-BdA den Gemeinnützigkeitsstatus
besitzt, verbindet die Behörde, den Bundesverband und die
VVN-BdA.
Hier der Wortlaut des Artikels:
Hüter der
‚Schicksalskarten‘
Düsseldorf. Manchmal hat Gerechtigkeit
ein paar Jahrzehnte Verspätung. Janina Horst hätte
die späte – und spärliche –
Wiedergutmachung für ihr Leid um ein Haar nicht mehr erlebt.
Sie war 1942, damals neun Jahre alt, von der SS in Polen
entführt worden, um „zwangsgermanisiert“
zu werden. Die Nazis gaben ihr einen falschen Namen – Johanna
Kunzer – und einen Vormund, dem es nicht um
Fürsorge, sondern um Rassenwahn ging: den Verein
„Lebensborn“, gegründet von Heinrich
Himmler.
Janina Horst, Mädchenname Kunstowicz, ist
eine der vielen fast unbekannten Opfer der Nazis, deren Schicksal auf
Karteikarten und in Akten im Dezernat 15 der Bezirksregierung
Düsseldorf archiviert ist. Zu den prominentesten Opfern
zählt das mit dem Aktenzeichen 20 702. Wohnort:
Rhöndorf, Name: Dr. Adenauer, Konrad steht auf vergilbtem
Karton. Adenauers Karte ist eine von rund zwei Millionen, die in 70
historisch anmutenden Stahlkästen ruhen, geordnet nach
Geburtsdaten. Adenauer war 1944, in Folge des Aufstandes gegen Hitler,
verhaftet und in ein „Arbeitserziehungslager“ in
Köln-Deutz verschleppt worden.
„Schicksalskarten“ und
„Schicksalsmappen“ nennt Karl Zimmermann die
Sammlungen, die er mit 20 Kollegen hütet. Er ist der Chef
einer Verwaltung, die es so in Deutschland nur einmal gibt. Zimmermanns
Dezernat 15 ist unter anderem verantwortlich für die
Bundeszentralkartei (BZK) zur Dokumentation durchgeführter
Entschädigungsverfahren.
Hinter der sperrigen Beschreibung verbirgt sich
ein historisch herausragend wichtiges Archiv, das der Nachwelt erhalten
werden soll. Die Digitalisierung ist in vollem Gange, Anfang 2018 soll
sie abgeschlossen sein. Danach kommen die Schränke ins
NRW-Landesarchiv. Die Karten, die in diesem Dezernat lagern, deuten auf
das Ausmaß des Schreckes hin. Aber es ist doch nur ein
kleiner Fingerzeig. Millionen Opfer hatten nämlich keinen
Rechtsanspruch auf Entschädigung, weil ihr Wohnort
außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches lag. Andere
hatten nur theoretisch einen Anspruch. „Das sind die
schlimmsten Fälle. Jene, zu denen wir keine Akten
haben“, sagt Zimmermann. „Dann ist nämlich
die ganze Familie gestorben, und es gab keinen mehr, der einen Antrag
stellen konnte.“
Die Zahl der Anfragen zur Zentralkartei ist mehr
als 70 Jahre nach dem Krieg „auf hohem Niveau
rückläufig“. „Uns erreichen rund
2000 Anfragen im Monat zur Zentralkartei“, erzählt
der Dezernatsleiter. Vor einem Jahr seien es 3000 gewesen. Privatleute
klopfen an, Rentenversicherungen, Anwälte, die Aktion
„Stolpersteine“ und zuletzt immer mehr Historiker.
Es gibt auch Fragende, die wissen wollen, was ihren Eltern oder
Großeltern widerfahren ist.
Dass in Familien oft nicht über den Krieg
geredet wurde, gelte auch für viele Opfer-Familien,
heißt es im Dezernat. „Ich habe das
Gefühl, etwas Positives bewirken zu
können“, erzählt Zimmermann. „Der
Umgang mit den Verfolgten ist manchmal so, als würde man mit
den eigenen Großeltern reden. 95 Prozent sind Menschen
jüdischen Glaubens, viele schicken uns dennoch
Weihnachtskarten.“
Das aktuelle politische Geschehen ruft eine neue
Nachfrage nach der Kartei hervor. „Wir erhalten zahlreiche
Nachfragen von Nachfahren von Verfolgten, die Deutschland verlassen
mussten und deren Familienangehörige nun wieder Deutsche
werden wollen. Diese Anfragen nehmen nach dem Brexit-Votum und dem
Dienstantritt von Trump zu“, sagt Zimmermann.
4700 Überlebende aus NRW
Das Dezernat versorgt auch rund 4700
Überlebende der NS-Verfolgung, die in NRW lebten oder leben,
mit Entschädigungsrenten von 541 bis 2000 Euro im Monat. Die
Empfänger sind im Schnitt 87 Jahre alt, jeden Monat sterben
etwa 70 von ihnen. Fast die Hälfte der Rentner wohnen in
Frankreich, rund 1000 in Belgien, Hunderte in Skandinavien.
Janina Horst wartete übrigens
74 Jahre auf eine Entschädigung. Am 8. Juli 2016
wurde ihr eine einmalige Unterstützung von 3600 Euro zuerkannt
– der Höchstbetrag, der in diesem Fall ausgezahlt
wird. Die schwer kranke Frau erfüllte sich damit ihren Traum
von einer Urlaubsreise. Einen Monat später starb sie.
Matthias Korfmann
Mit freundlicher Genehmigung: WAZ/WR
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