24.10.2017
Wie
„deutsch“ ist der Herbst?
Versuch
einer nicht nur „politischen“ Einordnung
„Wenn es nach BILD,
EXPRESS, SPIEGEL; ZEIT und den anderen für die
politisch-ideologische Indoktrination sowohl
‚einfacher‘ wie etwas
‚gebildeterer‘ Bevölkerungsschichten
zuständigen Printorgane geht, wird die dritte Jahreszeit noch
in den nächsten 50 Jahren immer auch mit dem Beiwort
‚deutsch‘ assoziiert werden.“ Das stellt
Dr. Hans-Peter Brenner (stellvertretender Vorsitzender der DKP) in
einem Aufsatz zu den derzeit allgemein erörterten 40.
Jahrestagen der Ereignisse vom Oktober 1977 fest. Er schreibt weiter in
dem Text, den er uns zur Verfügung stellte:
„Deutscher Herbst“, das
bedeutete im Oktober1977:
- Entführung von Hanns-Martin Schleyer,
dem damaligen Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen
Arbeitgeberverbände, des ehemaligen
Nazi-Wirtschaftsführers und SS-Offiziers im Range eines
Untersturmführers durch die „Rote Armee
Fraktion“. Geiselnahme der Lufthansamaschine
„Landshut“ durch ein mit der RAF kooperierendes
palästinensisches Kommando der PFLP- Volksfront für
die Befreiung Palästinas.
- „Heroischer“ Einsatz der
neugebildeten Elitegruppe „GSG-9“ auf dem Flughafen
der somalischen Hauptstadt Mogadischu zur Befreiung dieser 84
entführten Passagiere.
- Bis heute „ominös“
gebliebener „kollektiver Selbstmord“ der in
strengster Isolationshaft in Stuttgart-Stammheim gehaltenen wichtigsten
Führungspersonen der
„Gründergeneration“ der RAF- darunter
Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe als
„Reaktion“ auf diese misslungene
Entführungsaktion.
- Die mit inhaftierte Irmgard Möller
überlebte nur schwer verletzt mit vier Messerstichen in der
Herzgegend: Sie sprach von „staatlich angeordneten
Morden“. Ulrike Meinhof – neben A. Bader die
bedeutendste Führungsperson der RAF - war bereits im Mai 1976
in ihrer Stammheimer Isolationszelle erhängt aufgefunden
worden.
- Liquidierung H. M. Schleyers, was von der RAF
als „Vergeltung“ für die
Erstürmung der „Landshut“ und die Toten in
Stammheim deklariert wurde.
- Wie links war die RAF?
Nach dem Ende des legendären
Sozialistischen Deutschen Studentenbundes – SDS - hatte ein
qualitativer Neuorientierungsprozess bei Teilen der studentischen
„68er“ stattgefunden. Er war geprägt durch
intensive Debatten über die „revolutionäre
Berufsperspektive“ und über die
Weiterführung der „Revolte“ von 1967/68.
So hatte ich mich im Auftrag meiner damaligen „Basisgruppe
Psychologie“ für eine ganze Woche ins Hamburger
SPIEGEL-Archiv begeben, um gemeinsam mit einer Genossin zu
recherchieren, ob die Arbeit von Psychologen auch für
„revolutionäre“ Zwecke genutzt werden
könne. Das Ergebnis unserer laienhaften Ausarbeitung lautete:
Psychologen machen nichts Revolutionäres. Die Diskussion ging
also weiter. Etliche von uns sattelten um und begannen ein
Lehrer-Studium. Bewusst als Haupt- und Real- und nicht als
Gymnasiallehrer um „die Kinder des Proletariats“ im
„fortschrittlichen“ Sinne aufzuklären.
In diesen Diskussionen kam eine
antiimperialistische, zugleich naiv-kindliche Bereitschaft für
eine andere Art des Lebens und politischen Kämpfens zum
Ausdruck. Es wäre der subjektiven Ernsthaftigkeit dieser
Debatte nicht angemessen, würde man hier nur mit „
rein politischen“ Kategorien urteilen. Es ging um eine
andere, zusätzliche Dimension: um das Thema und den Wunsch
nach der rasch machbaren, schnell zu verwirklichenden, sozialistischen
„konkreten Utopie.“ (Ernst Bloch)
Es handelte sich also um mehr als um die
Entscheidung für dieses oder jenes
„linke“, „ultralinke“, etc.
Strategie- und Politikkonzept. Bei vielen dieser/unserer Generation
waren es existentielle und auch sozialpsychologische
Beweggründe, sich für einen wie auch immer gearteten
Bruch mit den Lebenswegen und Vorgaben der faschistisch
geprägten Elterngeneration und diesem
„Schweinesystem“ zu entscheiden.
Das „Konzept Stadtguerilla“
und der „linke“ Gründungskonsens
Damals war für mich der Weg zur real
existierenden KP, die sich erst kurz zuvor, aus der
Illegalität der KPD kommend, zur neuen DKP konstituiert hatte,
weder vorstellbar noch absehbar. Auch ich hatte mir – als
Mitglied einer der „K-Gruppen“ - die
programmatischen Haupt- und Gründungsdokumente der RAF,
„DAS KONZEPT STADTGUERILLA“ (April 1971) und
später auch die Erklärung „ DEN
ANTIIMPERIALISTISCHEN KAMPF FÜHREN! DIE ROTE ARMEE
AUFBAUEN“ (1972), besorgt.
Das Papier „Stadtguerilla“
beginnt mit einer Verurteilung all jener, die sich an der
„Diffamierung“ der Absichten und Ziele der RAF
beteiligen. Die der RAF vorgeworfenen „kriminellen“
Taten (Geld-, Auto- und Dokumentendiebstähle sowie ein
„angehängter“ Mordversuch)
könnten unmöglich den gewaltigen Repressionsaufwand
rechtfertigen. Der Aufbau dieses Unterdrückungsapparates sei
als ein Angriff auf „die ganze sozialistische Linke in der
Bundesrepublik und in Westberlin gemeint.“ Daher sei es ein
Gebot linker Solidarität, sich nicht an der
Gerüchtemacherei über die RAF zu beteiligen. Das sei
bei vielen nur Ausdruck eines „unerträglichen
Rechtfertigungsdrucks“ oder diene nur dazu, „der
politischen Auseinandersetzung mit uns auszuweichen“.
(„ Das Konzept Stadtguerilla“, S. 2-3,
hektographiertes Material)
Was „links“ war, bestimmte die
RAF
Den politische Kern ihres Konzepts definierten die
RAF-Autoren, darunter Ulrike Meinhof so: „Wir behaupten, daß die
Organisierung von bewaffneten Widerstandstruppen zu diesem Zeitpunkt in
der Bundesrepublik und in Westberlin richtig ist, möglich ist,
gerechtfertigt ist. Daß es richtig, möglich und
gerechtfertigt ist. hier und jetzt Stadtguerilla zu machen.
Daß der bewaffnete Kampf als ´die höchste
Form des Marxismus-Leninismus`(Mao) jetzt begonnen werden kann und
muß, daß es ohne dem keinen antiimperialistischen
Kampf in den Metropolen gibt.“
(„Stadtguerilla“, S. 3)
Zu diesem Zeitpunkt sah die RAF allerdings noch
einen gewissen Bezug zur Generation der „alten
Antifaschisten“ und der „Geschichte der
Arbeiterbewegung“ (a.a.O., S.5). Aber ihre Negierung von
Realitäten, die Missachtung der „konkreten Analyse
der konkreten Situation“ – das eigentliche
Grundprinzip jeglicher linken und Strategie – dominierte von
Anfang, selbst wenn sie damals auch noch über
„legale“ Optionen sprach. „Wir sagen nicht, daß
die Organisierung illegaler, bewaffneter Widerstandsgruppen legale
proletarische Organisationen ersetzen könnten und
Einzelaktionen Klassenkämpfe und nicht, daß der
bewaffnete Kampf die politische Arbeit im Betrieb und im Stadtteil
ersetzen könnte. Wir behaupten aber, daß das eine
die Voraussetzung für den Erfolg und den Fortschritt des
anderen ist. Wir sind keine Blanquisten und keine Anarchisten,
… “ (RAF: Das Konzept Stadtguerilla,
S. 3f)
Diese verbale Offenheit für
nicht-militärische Politikformen wurde aber strikt begrenzt
und spielte eine dann in den RAF-Überlegungen eine immer
geringere Rolle. Die „Alten“ seien
außerdem durch die geschickte Politik der
„sozial-liberalen“ Koalition von W. Brandt und W.
Scheel voll ins „System“ integriert worden. Daraus
ergab sich eine elitäre Verachtung und eine sich immer mehr
steigernde Kritik an allem, was ihrem Verständnis von
„links“ nicht entsprach. Die RAF-Variante des
Guerillakampfes ging sogar noch ein deutliches Stück
über das Sektiererische anderer Stadtguerilla-Konzepte wie der
„Roten Brigaden“ oder der
„Tupamaros“ hinaus.
Sie betonte bereits in der Begründung
für „Das Konzept Stadtguerilla“, dass ihr
bewusst sei, dass diese Kampfform unabhängig von einer
genaueren Analyse des Kräfteverhältnis und der davon
abgeleiteten Bestimmung der Kampfformen gewählt worden war. So
hieß es: „Die
politischen Möglichkeiten des Imperialismus sind hier weder in
ihrer reformistischen noch in ihrer faschistischen Variante
erschöpft; seine Fähigkeiten, die von ihm selbst
erzeugten Widersprüche zu integrieren oder zu
unterdrücken, nicht am Ende.“
„Das Konzept der Stadtguerilla der Rote
Armee Fraktion basiert nicht auf einer optimistischen
Einschätzung der Situation in der Bundesrepublik und in
Westberlin.“ (a.a.O., S.5)
Eine Guerilla-„Strategie“ ohne
Realitätsbezug
Die Berufung auf die marxistisch-leninistische
Revolutionsstrategie und die Theoretiker des Partisanen- und
Guerillakampfes hatte mit „links“, im Sinne einer
auf der Analyse der Realität beruhenden Strategie, nichts zu
tun. Für die spezifische Kampfform des Guerilla- oder
Partisanenkrieges gilt aus marxistisch-leninistischer Sicht zudem eine
weitere Besonderheit. Der bewaffnete Kampf, so betonte Lenin in einem
Grundsatzartikel über die Grundsätze des
Partisanenkampfes, muss von „zwei Grundforderungen“
ausgehen, „die jeder Marxist bei der Untersuchung der
Kampfformen stellen“ muss:
„Erstens unterscheidet sich der
Marxismus von allen primitiven Formen des Sozialismus dadurch, dass er
die Bewegung nicht an irgendeine bestimmte Kampfform bindet.
Er erkennt die verschiedensten Kampfformen an und
zwar ´erfindet` er sie nicht, sondern fasst nur die im
Verlauf der Bewegung von selbst entstehenden Formen des Kampfes der
revolutionären Klassen verallgemeinernd zusammen, organisiert
sie und verleiht ihnen Bewusstheit. … Zweitens fordert der
Marxismus unbedingt ein historisches Herangehen an die Frage der
Kampfformen. Diese Frage außerhalb der historisch konkreten
Situation behandeln heißt das ABC des dialektischen
Materialismus nicht verstehen. (W.I. Lenin: Der Partisanenkrieg, LW 11,
S. 202-213)
Und auch Ché Guevara betonte in seinem
Standardwerk über den Guerillakrieg, dass die Orientierung auf
den bewaffneten Partisanenkampf keinesfalls immer die richtige
strategische Orientierung sei. Mit Blick auf die Lage in den
europäischen kapitalistischen Ländern musste jedem
Linken die folgenden Einschätzung in den Ohren klingen:
„Dort wo ein Unterdrückerregime auf mehr oder
weniger demokratischem Wege an die Macht gelangt ist (sei es sogar
einmal ohne Wahlfälschungen) und wo wenigstens dem Anschein
nach die verfassungsmäßige Gesetzlichkeit gewahrt
wird, entsteht keine Partisanenbewegung, weil noch
Möglichkeiten des Kampfes mit friedlichen Mitteln vorhanden
sind.“ (Ernesto Ché Guevara: „Der
Partisanenkrieg“, Berlin o.J., S. 12)
Pauschale Verachtung für die reale
Arbeiterklasse
Für die aus der illegalen KPD sich
neuformierende DKP hatte die RAF nur Häme übrig,
obwohl U. Meinhof in den frühen 60er Jahren durchaus einen
unmittelbaren persönlichen Eindruck von den komplizierten
Arbeits- und Kampfbedingungen der illegalen KPD bekommen hatte. Wider
besseres Wissen strickten die RAF-Begründer zudem mit an einem
von der SPD lancierten perfiden Mythos, der vor allem Teile der sich
nach einer kommunistischen Alternative orientierenden linken Jugend von
den wieder legal auftretenden Kommunisten fernhalten sollte.
„Die DKP, die ihre Zulassung der Komplizenschaft
US-Imperialismus-Sowjetrevisionismus verdankt, veranstaltet
Demonstrationen für die Ostpolitik dieser Regierung;
Niemöller – antifaschistische Symbolfigur
– wirbt für die SPD in bevorstehenden
Wahlkämpfen.“
Zugleich wurde die „provinzialische
Abkapslung der alten Linken“ sowie ihre „pro- und
antikommunistische (sic!!) Fixierung auf die DDR“ kritisiert
und ihr jegliche politische Bedeutung abgesprochen. Diese
„traditionelle" Linke sei “zu jedem Opfer bereit,
zu keiner Praxis fähig.“ (aus dem Originalmanuskript
der RAF "Konzept Stadtguerilla", S. 5) Dies ging einher mit einer
zunehmenden elitären Verachtung der realen Arbeiterklasse.
Der qualitative Sprung in der Entfernung von
linken Grundsätzen drückte sich besonders stark aus
in einem zweiten Grundsatzpapier der RAF, das in Anschluss an den
Überfall auf die israelische Olympiamannschaft 1972 in
München durch eine palästinensische Guerillaeinheit
des „Schwarzen September“ veröffentlicht
wurde. Es ist aus zwei Gründen bedeutsam.
Zum einen verdeutlicht es das noch weiter
versimpelte Imperialismus-Verständnis, das zu einem abstrakten
„System“ wird und es begründet zum zweiten
den Bruch mit der Arbeiterklasse als dem entscheidenden
revolutionären Subjekt. So hieß es jetzt:
„Die westdeutsche Linke könnte an ihr (dem
„Schwarzen September“- HPB) ihre politische
Identität wiederfinden. – Antifaschismus –
antiautoritäres Lager- antiimperialistische Aktion –
wenn sie noch nicht ganz der Springerpresse und dem Opportunismus
verfallen ist, wenn Auschwitz, Vietnam und Abstumpfung der Massen hier
durch das System sie noch was angeht.
DIE
STRATEGIE DES SCHWARZEN SEPTEMBER IST DIE REVOLUTIONÄRE
STRATEGIE DES ANTIIMPERIALISTISCHEN KAMPFES IN DER DRITTEN WELT UND IN
DEN METROPOLEN UNTER DEN BEDINGUNGEN DES ENTFALTETEN IMPERIALISMUS DER
MULTINATIONALN KONZERNE.“
(DEN ANTIIMPERIALISTISCHEN KAMPF FÜHREN!
(Quelle: DIE ROTE ARMEE AUFBAUEN! hektographiertes Material, S.3,
Schreibweise wie im Original)
Parallel dazu löste die RAF den Bezug zur
Arbeiterklasse als dem eigentlichen revolutionären Subjekt
völlig auf. Nicht mehr das von den marxistischen Klassikern
und auch von den kubanischen Revolutionären betonte Ringen um
die politisch-organisatorische Einheit des städtischen
Proletariats mit den revolutionären Intellektuellen und den
nichtstädtischen ländlichen revolutionären
Kräften sollte nun die Aufgabe sein, sondern die Formierung
eines revolutionären „neuen Subjekts“
jenseits der objektiven Klassenstrukturen. Es entstand damit im Prinzip
ein seiner Substanz entledigter nur noch rhetorischer Pseudo-Marxismus.
So heißt es jetzt: “ Mit
Marx´ Begriff des Lohnarbeiters dem in der Produktion der
Mehrwert ausgepresst wird, allein, ist die Ausbeutungssituation der
Masse in den Metropolen nicht mehr gedeckt…
Mit der Einführung des 8 Std.-Tages hat
der 24 Std.-tag der Herrschaft des Systems über den Arbeiter
seinen Siegeszug angetreten – mit der Schaffung von
Massenkaufkraft und ´Einkommensspitze` hat das System den
Siegeszug über die Pläne, Bedürfnisse,
Alternativen, Fantasie, Spontaneität, kurz: den ganzen
Menschen angetreten!
Das System hat es in den Metropolen geschafft, die
Massen so tief in seinen eigenen Dreck zu ziehen, daß sie das
Gefühl für ihre Lage als Ausgebeutete und
Unterdrückte, als Objekte des imperialistischen Systems
weitgehend verloren zu haben scheinen, so daß sie
fürs Auto, ein paar Plünnen, ´ne
Lebensversicherung und ´nen Bausparvertrag jedes Verbrechen
des Systems billigend in Kauf nehmen und sich was anderes als ein Auto,
eine Ferienreise, ein gekacheltes Bad kaum noch vorstellen und
wünschen können.
Daraus folgt aber, daß das
revolutionäre Subjekt jeder ist, der sich aus diesen
Zwängen befreit und seine Teilnahme an den Verbrechen des
Systems verweigert. Daß jeder, der im Befreiungskampf der
Völker der III. Welt seine politische Identität
findet, jeder der sich verweigert, jeder der nicht mehr mitmacht:
revolutionäres Subjekt ist - Genosse.“
Die „Völker der III.
Welt“ seien anstelle des internationalen Proletariats die
„Avantgarde der antiimperialistischen Revolution“
geworden. Und schließlich der daraus folgende Schluss:
„Revolutionäres Subjekt sind wir.“ (
Ebenda, S. 14f)
Damit war bereits sehr früh der
konzeptionelle Bruch mit zentralen marxistischen Positionen und
Grundsätzen vollzogen.
Unabhängig vom subjektiv
antiimperialistischen und „linken“
Selbstverständnis der einzelnen RAF-Angehörigen,
über das Inge Viett so eindrucksvoll in ihren Memoiren (I.
Viett: Nie war ich furchtloser, Hamburg 1996) zu schreiben
weiß, ist die Geschichte der RAF daher nicht Teil
„unserer“ Bewegung, sondern ein Irrweg, auf dem
viele linke Illusionen zerschellten und zerschellen mussten.
|