18.06.2017
Anatomie eines
Lügenkomplotts: Über den Tod Philipp Müllers
Bericht
eines Augenzeugen - Von Conrad Taler
Am 2. Juni 1967 wurde der
Student Benno Ohnesorg in Berlin während einer Demonstration
gegen das Regime des Schahs von Persien von einem Polizisten
erschossen. Die Medien nahmen den 50. Jahrestag des Ereignisses zum
Anlass einer ausführlichen Darstellung des damaligen
Geschehens. Benno Ohnesorg gilt den meisten als erstes Todesopfer
polizeilicher Gewalt in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik.
Tatsächlich wurde bereits 15 Jahre davor, am 11. Mai 1952, ein
Demonstrant in Essen bei einer Kundgebung gegen die deutsche
Wiederbewaffnung von einer Polizeikugel tödlich getroffen.
Namhafte Blätter wie das
Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ und die
Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichten
darüber keine einzige Zeile, wahrscheinlich weil das Opfer,
ein junger Kommunist, der verbotenen Freien Deutschen Jugend“
angehört hatte. Sein Name: Philipp Müller. Conrad
Taler war als Journalist Augenzeuge des Geschehens. In seinen soeben
unter dem Titel „Gegen den Wind“ erschienenen
Lebenserinnerungen beschreibt er die daraus erwachsene große
Propagandaschlacht zwischen Ost und West. Der Wortlaut seines
Berichtes:
»Wissen wir auch nur von einer einzigen
Schlacht, wie sie sich wirklich abgespielt hat«, fragt
Gustave Le Bon in »Psychologie der Massen«, und er
antwortet darauf in einer Fußnote zum Kapitel
»Beeinflussbarkeit und Leichtgläubigkeit der
Massen«: »Ich zweifle sehr daran. Wir kennen nur
Sieger und Besiegte, aber wahrscheinlich weiter nichts.“ Das
las ich zu Beginn meiner Suche nach der Wahrheit über ein
Ereignis, das als Lehrstück der Desinformation bleibendes
Interesse verdient: Das verbotene Essener Jugendtreffen gegen die
deutsche Wiederbewaffnung vom 11. Mai 1952, bei dem erstmals nach
Kriegsende ein Demonstrant von der Polizei erschossen wurde. Anders als
der Name des Studenten Benno Ohnesorg, der 15 Jahre später, am
2. Juni 1967, in Berlin bei einer Demonstration gegen den Schah von
Persien von einer Polizeikugel getötet wurde, ist der Name
dieses Toten weitgehend unbekannt. Als Polizisten den leblosen
Körper Philipp Müllers vor den Kruppschen
Krankenanstalten in Essen aus einem Lautsprecherwagen luden, will eine
Augen- und Ohrenzeugin gehört haben, dass einer der Beamten
sagte: »Das Schwein ist schon tot«.
In Zeiten wie diesen von einem einzigen Toten zu
sprechen, mag unangemessen erscheinen, aber mitunter gerinnt ein
Stück Zeitgeschichte zum Namen eines Einzelnen. Der
21jährige Eisenbahnarbeiter Philipp Müller aus
München-Neuaubing gehörte der Freien Deutschen Jugend
(FDJ) an, die im Jahr davor als verfassungswidrige Organisation
verboten worden war. Ihr wurde unter anderem vorgeworfen, sich an einer
von den Kommunisten organisierten Volksbefragung gegen die
Remilitarisierung beteiligt zu haben. Wie tief damals das Unbehagen
über die Pläne zur Aufstellung deutscher
Streitkräfte saß, offenbarte der Wunsch des
Bundespräsidenten Theodor Heuß, das
Bundesverfassungsgericht möge ein Rechtsgutachten
über die Vereinbarkeit der Gesetze zur Einführung der
Wehrpflicht mit dem Grundgesetz erstatten. Als die Karlsruher Richter
mit taktischen Winkelzügen reagierten, zog Heuß
seinen Antrag – sichtlich verärgert –
zurück. Die SPD verlangte 1952 vom Bundesverfassungsgericht
die »vorbeugende Feststellung«, dass ein Gesetz
über die Wiederbewaffnung »ohne vorangegangene
Ergänzung und Abänderung des Grundgesetzes weder
förmlich noch rechtlich“ mit dem Grundgesetz zu
vereinbaren sei. Das Gericht wies den Antrag als unzulässig
zurück, »da die gesetzgebenden
Körperschaften ihre Beratungen noch nicht
abgeschlossen« hätten.
In der öffentlichen Diskussion firmierten
die vertraglichen Abmachungen über die Wiederbewaffnung unter
der Bezeichnung Generalvertrag. Mit der Parole
»Friedensvertrag statt Generalvertrag« bewegten
sich die Initiatoren der Essener Veranstaltung nicht auf abseitigem
Gelände. Die Idee einer Jugendkarawane für den
Frieden, die in den »Darmstädter
Aktionsgruppen« um den Studentenpfarrer Herbert Mochalski
entstanden war, fand großen Anklang. Der Bundesfeldmeister
der deutschen Pfadfinder, Werner Plaschke, wollte ebenso sprechen wie
der hessische Landesvorsitzende der »Falken«, Rudi
Arndt, und der aus Protest gegen Adenauers Eigenmächtigkeit in
Sachen Wiederbewaffnung zurückgetretene CDU-Innenminister und
spätere Bundespräsident Gustav Heinemann. Als Leiter
der Kundgebung auf dem Essener Gerlingplatz sollte der Theologiestudent
Arnold Haumann fungieren. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft sprach
später von einem »zunächst parteipolitisch
farblosen Unternehmen«, das von gut ausgebildeten
Funktionären in eine Demonstration der FDJ
umgefälscht worden sei. Bei der Anmeldung des Treffens am 8.
Mai gab es gleichwohl keine Probleme. Haumann informierte das Essener
Ordnungsamt, dass etwa 20.000 Teilnehmer erwartet würden und
bat »höflichst« um die erforderlichen
Maßnahmen zum Schutz der Veranstaltung.
Die Öffentlichkeit hatte bis dahin
– abgesehen von den Lesern der kommunistischen Presse
– von der geplanten Kundgebung keinerlei Kenntnis. Das
änderte sich, als der Nordwestdeutsche Rundfunk am 9. Mai,
zwei Tage vor der Veranstaltung, in den Abendnachrichten um 19 Uhr
meldete, der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Karl
Arnold (CDU), der zugleich Ministerpräsident war, habe das
offiziell so bezeichnete Westdeutsche Treffen der Jungen Generation und
die damit verbundene Jugendkarawane verboten. Bei dem Treffen, so wurde
verlautbart, handle es sich um ein von Kreisen der KPD und der FDJ
gesteuertes Unternehmen. Da am 11. Mai in Essen mehrere
größere Veranstaltungen stattfänden,
bestehe die Gefahr eines unfriedlichen Verlaufs, so dass vor einer
Teilnahme an der Jugendkarawane gewarnt werden müsse. Was war
geschehen? Dass die Stadt Essen ihr 1100jähriges
Jubiläum beging, dass die Gartenbauausstellung
›Gruga‹ am selben Tag ihre Pforten
öffnen und die Christliche Arbeiterjugend einen
»Europakongress« abhalten würde, war seit
langem bekannt. Niemand hatte daraus Einwände hergeleitet.
Aufgescheucht von der Rundfunkmeldung eilte der Theologiestudent
Haumann am Morgen des 10. Mai in das Essener Ordnungsamt. Dort
stieß er auf einen Beamten, der auch nur die Rundfunkmeldung
kannte. Erst ein zweiter stellte klar, dass tatsächlich aus
sicherheitspolizeilichen Gründen ein Verbot verhängt
worden sei; die schriftliche Verfügung könne gegen
Mittag abgeholt werden.
SCHLACHFELD DES KALTEN KRIEGES
Was hatte den Innenminister bewogen, die
Jugendkarawane zu verbieten? Plagte ihn die Sorge, nicht genug
Polizeikräfte zur Verfügung zu haben, um einen
friedlichen Verlauf zu gewährleisten? Sollte verhindert
werden, dass die verbotene FDJ sich – wieder einmal
– in Szene setzte? War die Autorität des Staates in
Gefahr? Oder spielten am Ende hochpolitische Erwägungen eine
Rolle? Am 26. Mai sollte der Generalvertrag unterzeichnet werden.
Wollte Karl Arnold seinem Parteifreund Adenauer die peinliche
Begleitmusik ersparen? Wie auch immer – zuständig
für das Verbot war der Rat der Stadt Essen. Im
»Einvernehmen mit dem Herrn Innenminister« teilte
er den Veranstaltern mit, die vorhandenen polizeilichen Kräfte
reichten nicht aus, um einen reibungslosen Verlauf der angemeldeten
Veranstaltung zu gewährleisten; deshalb werde sie zur
Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
gemäß § 14 des Polizeiverordnungsgesetzes
verboten.
Wie kam es dazu, dass der Rundfunk früher
als die Veranstalter von dem Verbot wusste, und wie verschaffte sich
der Regierungschef eines Bundeslandes Zugriff auf die Mikrofone?
Rechtsgrundlage des Nordwestdeutschen Rundfunks war seinerzeit die
Verordnung Nr. 118 der britischen Militärregierung
von 1949. Sie enthielt keine ausdrückliche Regelung
über ein Verlautbarungsrecht für amtliche
Mitteilungen. Folglich hatte der Ministerpräsident keine
rechtliche Handhabe, das Verbot einer Kundgebung über den
Rundfunk bekannt zu machen. Ein Gespräch mit dem Intendanten
des NWDR genügte, um alle Hindernisse zu beseitigen.
Dem politischen Zugriff auf die Massenmedien seien
in einer Demokratie Grenzen gesetzt, meinte zu Beginn der siebziger
Jahre der Publizistikwissenschaftler Harry Pross in seinem Buch
„Mitteilung und Herrschaft“. Eine euphemistische
Einschätzung. Die Unabhängigkeit des
Rundfunks vom Staat war immer ein Trugbild. Der
Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen bekannte
später: »Die Rundfunkwarnung ist im Einvernehmen mit
dem Ordnungsamt Essen von mir persönlich veranlasst
worden.« Was die beteiligten Journalisten betrifft, so waren
sie offensichtlich weit davon entfernt, den Vorgang kritisch zu
hinterfragen. Niemanden interessierte es, ob das Verbot gerechtfertigt
war oder nicht. Erst sehr viel später, als Teilnehmer des
Treffens strafrechtlich belangt werden sollten, wurde die Frage
relevant.
Die Verteidiger hielten das Verbot für
einen »willkürlichen Verwaltungsakt«, der
wegen Verstoßes gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit
unzulässig und daher nichtig gewesen sei. Der
Bundesgerichtshof entschied abschließend, dass das Verbot
rechtens gewesen sei, da die Demonstration
»friedensfeindlichen Zwecken« gedient habe.
Das Geschehen nahm seinen Lauf. Noch ehe ein
Teilnehmer der Jugendkarawane seinen Fuß auf Essener
Boden gesetzt hatte, machten sich Polizeihundertschaften aus
Köln, Düsseldorf und Wuppertal auf den Weg,
Anreisende abzufangen und die Stadt zu besetzen. Spitzel hatte die
Polizei davon unterrichtet, dass die FDJ trotz des Verbots um 13.30
Uhr vor dem Ausstellungsgelände der Gruga demonstrieren wolle.
Wie die Dortmunder Staatsanwaltschaft später bekannt
gab, waren etwa 30.000 Personen nach Essen gekommen, von denen sich
etwa 2.000 vor dem Haupteingang der Gartenbauausstellung versammelt
hätten. Die Polizei hatte rund 2.000 Beamte im Einsatz. Was
sich am 11. Mai 1952 abspielte, beschrieb tags darauf die Essener
»Neue Ruhr-Zeitung« mit folgenden Worten:
»Zu schweren Zusammenstößen zwischen
Hunderten von demonstrierenden Angehörigen der verbotenen FDJ
und der Polizei kam es gestern Nachmittag in Essen vor den Toren der
Gartenbauausstellung ›Gruga‹. Der
21-jährige Demonstrant Philipp Müller aus
München-Neuaubing wurde durch einen Brustschuss
getötet, während drei weitere Jugendliche aus Kassel,
Münster und Pinneberg zum Teil schwere Schussverletzungen
erhielten. Acht Polizeibeamte wurden mehr oder minder schwer verletzt.
Wie die Polizei erklärte, wurde die Aufforderung an
die Ordnungsstörer, auseinander zu gehen, mit Pfeifen, Johlen,
Steinwürfen und Schüssen beantwortet. Die Polizei
habe diese Angriffe daraufhin abgewehrt. Der Besucherstrom zur
›Gruga‹ wurde durch die Unruhen in keiner Weise
beeinträchtigt.
Insgesamt wurden über 100.000 Besucher
gezählt.«
Unter der Überschrift »Getarnte
FDJ schießt auf Polizei in Essen« war am 12. Mai in
der Tageszeitung »Die Welt« zu lesen:
»Zum ersten Male seit Kriegsende wurde am Sonntag bei einer
Demonstration von Kommunisten auf die Polizei scharf geschossen.
Angehörige der Generation‹, die gegen den
Generalvertrag protestieren wollten, eröffneten vor den Toren
der Essener Gartenbauausstellung aus Pistolen des Musters
›08‹ das Feuer, das von der Polizei erwidert
wurde. Bei diesem Schusswechsel wurde der 21-jährige Philipp
Müller aus München getötet. Drei weitere
Demonstranten aus Münster, Pinneberg und Kassel liegen mit
Lendensteck- und Knieschüssen im Krankenhaus. Ein
Polizeibeamter wurde schwer, acht wurden leicht verletzt. 248 Personen
sind vorübergehend festgenommen worden, 20 andere, als
Rädelsführer erkannt, bleiben in Haft.« In
einem Kommentar des Blattes hieß es: »Die neue
Phase der kommunistischen Deutschland-Politik – der
›Kampf gegen den Generalvertrag unter Einsatz aller
Kampfmittel‹ erlebte am Sonntag in Essen einen blutigen
Auftakt ... Die Tatsache, dass die Kommunisten dazu übergehen,
Jugendliche mit Schusswaffen auszurüsten, ohne
Rücksicht auf Menschenleben, beweist erneut die
Skrupellosigkeit eines Systems, das zur gleichen Zeit wagt, von Frieden
und Einheit zu sprechen. Was die Polizei betrifft, so scheinen die
Ereignisse in Essen bestätigt zu haben, dass eine
gründlichere Vorbereitung auf derartige Demonstrationen
notwendig ist. Nervosität, die dazu führt, dass auch
Unbeteiligte mit dem Gummiknüppel Bekanntschaft
machen, dient nur den Absichten der Demonstranten. Die
Bürgerkriegstaktik der Kommunisten zwingt zu
Gegenmaßnahmen. Um so mehr müssen die Hüter
der öffentlichen Ordnung einen kühlen Kopf
behalten.«
WONACH MOSKAU SICH ANGEBLICH SEHNTE
Die in München erscheinende
»Neue Zeitung«, die sich im Untertitel
»Die amerikanische Zeitung in Deutschland«
nannte, schrieb am 13. Mai, mit der Taktik illegaler Demonstrationen
und des Straßenkampfes vertraute FDJ-Angehörige
hätten sich zusammengerottet, um unter allen
Umständen schwere Zusammenstöße
herbeizuführen und die Bevölkerung aufzuwiegeln.
Ministerpräsident Arnold habe seine Bewunderung
darüber geäußert, mit welcher
»inneren Selbstbeherrschung« die Polizeibeamten ans
Werk gegangen seien. Am 14. Mai 1952 zitierte die Zeitung einen
Sprecher der – wie es hieß – dem
US-Außenministerium nahe stehenden »Stimme
Amerikas«, der in einer Sondersendung für die
Sowjetzone zu den Zwischenfällen in Essen erklärt
habe, die Kommunisten in Ost- und Westdeutschland
hätten sich nach einem derartigen Vorfall geradezu gesehnt.
»Sie wollten einen Märtyrer und nun haben sie
einen.« Unter Berufung auf maßgebende Kreise der
britischen Hochkommission hieß es in derselben Ausgabe, die
kommunistische Aktion in Essen sei Teil eines
Erpressungsprogramms, mit dem Moskau seinen Vorschlägen
für eine Lösung des deutschen Problems Nachdruck
verleihen wolle. Die Vorkommnisse hätten »einen
Begriff davon gegeben, in welcher Art und Weise die Kommunisten
ihren Wahlkampf bei gesamtdeutschen Wahlen führen
werden und wie notwendig es sei, ausreichende Sicherungen gegen diesen
Straßenterror zu schaffen.«
Anders als nach der Mutmaßung
über den ersehnten Märtyrer erwartet werden konnte,
nahm die Nachricht vom Tode Philipp Müllers bei der
kommunistischen »Neuen Volks-Zeitung« ,
für die ich am 11. Mai in Essen als Reporter im Redaktions-VW
unterwegs war, am nächsten Tag nicht den ersten Platz ein. Sie
stellte den Protest gegen den Generalvertrag und den Kampf für
einen Friedensvertrag, wie er von Moskau vorgeschlagen worden war, in
den Vordergrund und wählte dafür die
fünfspaltige Schlagzeile: „30.000 Jugendliche gaben
das Beispiel“. Sie übernahm damit eine Zahl, die von
der Polizei in Umlauf gesetzt worden war. Die Veranstalter selbst
hatten – wie erwähnt – nur 20.000
Teilnehmer erwartet. Den Lesern wurde das Geschehen aufgrund meiner
Beobachtungen so geschildert: Als hunderte von bewaffneten Polizisten
versucht hätten, die Jugendlichen auseinander zu
knüppeln, hätten sich die tapferen
Friedenskämpfer, unter ihnen Pfadfinder, Falken, christliche
Jugendliche, junge Gewerkschafter und FDJler in unmittelbarer
Nähe der Gruga spontan zu einem mehrere hundert Meter
langen Demonstrationszug formiert. „Transparente wurden
entrollt, auf denen zu lesen stand: ›Wir fordern
Viermächteverhandlungen! Friedensvertrag statt
Generalvertrag!‹ Dabei kam es zu einem der ungeheuerlichsten
Ereignisse seit Kriegsende: Etwa 20 Polizeibeamte eröffneten
das Feuer auf die friedlich demonstrierende Jugend. Es gab mehrere
Verletzte. Dieses Massaker ist ein Alarmruf. Was sich gestern in Essen
ereignete, die Eröffnung des Feuers auf die deutsche Jugend,
mahnt zur Tat: Das sind die Vorboten des Generalvertrages, mit dem
über Westdeutschland ein Terror-Regime verhängt
werden soll.“ Das Wortgedröhn zeigt, wie
verbissen die politische Auseinandersetzung damals geführt
wurde. Als der Artikel in Satz ging, wusste die Redaktion noch nichts
von dem eigentlich wichtigen Ereignis, dem Tod Philipp
Müllers. In einem kleinen Kasten auf der ersten Seite
hieß es: „Kurz vor Redaktionsschluss erreicht uns
die Nachricht, dass der bei dem feigen Feuerüberfall der
Adenauerpolizei auf die Teilnehmer der Jugendkarawane in Essen durch
einen Schuss in den Rücken schwer verwundete
21-jährige junge Freiheitskämpfer Philipp
Müller aus München-Neuaubing im Krankenhaus an den
Folgen der Schussverletzung gestorben ist.“
Propagandistisch waren die Fronten damit
abgesteckt. Die einen behaupteten, als erste hätten
Demonstranten geschossen, die anderen erklärten, Polizisten
hätten das Feuer eröffnet. Was war wirklich
geschehen? Die Antwort auf diese Frage entschied nicht nur
über Schuld oder Unschuld, sondern auch über Sieg
oder Niederlage in einer Schlacht des Kalten Krieges. Aber es standen
noch andere Fragen im Raum. Von einem
»Schusswechsel“ vor den Toren der
»Gruga«“, bei dem Philipp Müller
getötet worden sei, war die Rede. Bei einem Schusswechsel
werden in rascher Folge von beiden Seiten Schüsse abgegeben.
Hat es einen solchen Feuerwechsel überhaupt gegeben und wo hat
er stattgefunden? Und schließlich: Wie starb Philipp
Müller wirklich? Von einem „Brustschuss“
sprach die „Neue Ruhrzeitung“, von einem
„Schuss in den Rücken“ die „Neue
Volks-Zeitung“. „Werden wir richtig
informiert“ fragte Karl Jaspers 1964. Obwohl keine staatliche
Zensur existiere, gebe es eine Ungewissheit und Unruhe bei Lesern,
Redakteuren und Schriftstellern, ob die Öffentlichkeit
erfahre, „was wir wissen sollten, nämlich die zur
Orientierung in unserer Situation und die für unsere
Willensbildung entscheidenden Tatsachen, Vorstellungen und
Gedanken“. Große Journalisten, fuhr Jaspers fort,
erzeugten die öffentliche Wahrhaftigkeit. „Wir
schmeicheln ihnen nicht, wenn wir ihren hohen Beruf preisen.“
Der Journalist habe auch über „ihm
unerwünschte Tatsachen“ zu berichten.
BANKROTT DES JOURNALISTISCHEN ETHOS
Selten gab es mehr Grund zu
»Ungewissheit und Unruhe« als in den Tagen nach dem
11. Mai 1952, doch keiner der von Jaspers so bezeichneten
großen Journalisten hielt es damals für notwendig,
die von ihm angemahnte öffentliche Wahrhaftigkeit zu erzeugen.
Die Wahrheit »auch gegen die eigenen Interessen und
Vorurteile zu ermitteln und zu äußern«,
erfordere Mut, schrieb Walter Dirks Mitte der sechziger Jahre. Wie
verhielt es sich damit in den Tagen nach den dramatischen Ereignissen
in Essen am Muttertag des Jahres 1952? Das Nachrichtenmagazin
»Der Spiegel« erwähnte die
Zusammenstöße mit keiner Zeile. Drei Wochen
später tauchte der Name Philipp Müller zum ersten Mal
in dem sonst so akribisch recherchierenden Wochenblatt auf, und zwar in
einem Bericht über den III. Deutschen Schriftstellerkongress
in Ostberlin, auf dem Johannes R. Becher wegen eines
missglückten Gedichtes auf den Getöteten kritisiert
worden war. (Nr. 23/1952) Auch in der liberalen Wochenzeitung
»Die Zeit« kein einziges Wort. Im Archiv der
»Frankfurter Rundschau« wohl Meldungen, aber keine
kommentierende Zeile. Und bei der FAZ? „Es gab keinen
Kommentar“, ließ mich das Archiv wissen. Die
„Süddeutsche Zeitung“ biss sich am 14. Mai
an einem Beileidstelegramm des
„Sowjetzonenpräsidenten“ Wilhelm Pieck
fest, das dieser an den Zentralrat der FDJ geschickt hatte, und fragte,
ob es sich dabei um ein politisches Beileid gehandelt habe. Weiter
hieß es dann in einem „Streiflicht“ auf
der ersten Seite:
„In den kommunistischen Zeitungen findet
man das Bild eines jungen Menschen, der in Essen sein Leben auf der
Straße ließ: das Bild eines
Einundzwanzigjährigen, jung, verheiratet und Vater eines
Kindes von fünf Monaten. Wir zweifeln genau so wenig wie Herr
Pieck daran, dass dieser junge Mensch ein bedauernswertes Opfer unserer
Zeit ist. Eine Frage drängt sich uns freilich auf: die Frage
nach der Urheberschaft: Hier beginnen unsere Zweifel. Waren vielleicht
jene ‚Friedenskarawanen’, die plötzlich
mit Steinen und Schüssen ‚demonstrierten’,
waren sie vielleicht doch nicht ganz so friedlich wie ihr Name, und vor
allem – diese Frage geht Herrn Pieck persönlich an:
pflegen sich kommunistische Karawanen in Westdeutschland so spontan
zusammenzufinden, wie der Text des Beileidstelegramms vermuten lassen
könnte?
Es gibt, wie gesagt ein menschliches Mitleid und
es gibt ein politisches Beileid, das diesen Namen kaum mehr verdient.
Der Himmel allein mag entscheiden, ob das Beileid des
Sowjetzonenpräsidenten noch einer dritten Kategorie
angehört, ob es das Beileid des großen
Funktionärs ist, der mit Tränen in den Augen die
Opfer der von ihm ferngelenkten ‚Friedenskarawane’
bedauert. Wir wissen es nicht. Dafür scheint Herr Pieck als
Funktionär eines totalitären Systems umso genauer zu
wissen, an wen er sich mit seinen Beileidsbekundungen jeweils zu wenden
hat. Das unterscheidet seine Lage abgrundtief von der eines Politikers
und überhaupt jedes menschlichen fühlenden Wesens in
der freien Welt. Hier weiß nämlich niemand zu sagen,
wem jenseits des Eisernen Vorhangs wir unser Mitleid zuerst aussprechen
sollten. An wen müssten wir wohl die vielen Hunderte von
Briefen adressieren, die wir täglich als Ausdruck unserer
Verbundenheit und unseres Mitleids mit den namenlosen Opfern eines
grausamen Regimes absenden möchten? Und selbst wenn
wir’s wüssten, würden wir uns doch
zurückhalten müssen – wohl wissend, dass
den Angehörigen, eben unseres Mitleids wegen, neues, noch
größeres Übel geschähe.“
Wie sah es wohl um den Wissensstand des Verfassers
aus, der den Lesern suggerierte, die Teilnehmer der Friedenskarawane
hätten „mit Steinen und Schüssen“
demonstriert? Offensichtlich nahm er für bare Münze,
was andere hinausposaunt hatten. Die eigene Zeitung hatte er
anscheinend nicht gelesen. Am 12. Mai veröffentlichte die
„Süddeutsche Zeitung“ auf der zweiten
Seite eine Meldung der Nachrichtenagentur AP, in der es am Schluss
hieß: „Die Polizei machte dabei
rücksichtslos von Gummiknüppel und Schlagstock und,
durch Steinwürfe herausgefordert, schließlich auch
von der Schusswaffe Gebrauch.“ Damit stellte die Agentur den
Sachverhalt so dar, wie Polizeibeamte ihn als Zeugen später
vor Gericht beschrieben, als das Lügengebäude
über den Hergang des Geschehens wie ein Kartenhaus in sich
zusammenbrach. Hätte das den Verfasser des
„Streiflichts“ nicht nachdenklich stimmen
müssen? Offensichtlich war er sich seiner Voreingenommenheit
gar nicht bewusst. Gegen Kommunisten musste nun mal hart durchgegriffen
werden. Deshalb funktionierte das Kartell des Schweigens und der
Desinformation wie von selbst.
SCHARFE SCHÜSSE ALS ANTWORT AUF STEINE
So wie einst Karl Kraus als einziger seine Stimme
erhob, als überforderte Polizisten in Wien ein Blutbad unter
demonstrierenden Arbeitern anrichteten, so durchbrach auch jetzt wieder
nur ein einziger mit Namen das Tabu, Ralph Giordano, der als
Demonstrant in Essen dabei war. In seinem Buch »Die Partei
hat immer recht« schilderte er in packenden Worten den
Ausbruch der Gewalt vor der Gruga: „Der Eingang war schwer
bewacht. Die Berittenen trugen lange Stahlruten und die zum
Zerreißen gespannte Atmosphäre teilte sich den
Tieren mit – sie tänzelten, warfen die
Köpfe hoch, schnaubten. Und dann, als, kurz angeleint, Hunde
erschienen, explodierte die Menge in furchtbarer Erregung –
Sprechchöre, Schreie, herabsausende Gummiknüppel,
stürzende Körper, durch die Luft geschleuderte
Tschakos. Der Kampf war, von einer Sekunde auf die andere, in vollem
Gange. Nach einiger Zeit wichen wir, noch zusammengeballt, vor der
bewaffneten Übermacht zurück. An ein
allmähliches Auslaufen des Zusammenstoßes war bei
der ungeheuren Erbitterung, die sich beider Seiten bemächtigt
hatte, nicht mehr zu denken. Auf einem freien Platz lockerte sich die
Masse der Demonstranten etwas auf. Es lag jetzt eine
größere Strecke zwischen der Polizeikette und uns.
Steine flogen. Und plötzlich knallte es, mehrere Male,
trocken, nicht anders, als wäre ein Tesching mit Platzpatronen
abgefeuert worden. Mit etlichen anderen lief ich auf ein
Gestrüpp zu, das einen tiefer liegenden Bahnkörper
säumte. Wir hockten da und warteten, dass die Polizisten
kommen würden, Aber sie kamen nicht. Nach einiger Zeit
erhoben wir uns. Der Platz war leer. Auf der Rückfahrt
hieß es, einer der Unseren sei bei der Schießerei
getroffen und getötet worden.«
Am nächsten Tag beantragten die
kommunistischen Abgeordneten im Düsseldorfer Landtag die
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Ihr Antrag wurde abgelehnt.
Auch der Bundestag lehnte es ab, sich mit den Vorgängen in
Essen zu beschäftigen. Das nordrhein-westfälische
Landesparlament beauftragte immerhin seinen Hauptausschuss, die
für die Klärung der Tatsachen »eventuell
erforderlichen weiteren Schritte« zu beschließen.
Der Ministerpräsident äußerte sich laut
Kurzprotokoll am 13. Mai wie folgt: »Trotz mehrmaliger
Aufforderung der Polizei, sich zu zerstreuen, kamen die Demonstranten
der Aufforderung nicht nach, sondern gingen mit Steinen –
Straßenpflastersteinen und Schottersteinen –,
Flaschen und anderen Schlagwerkzeugen gegen die eingesetzten
Polizeikräfte vor. Da der Widerstand durch den Gebrauch des
Polizeischlagstockes nicht gebrochen werden konnte, mehrere Beamte
bereits erheblich verletzt waren und sich demnach in einer
gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben befanden,
musste von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden. Vor dem
Schusswaffengebrauch wurde die Menge dreimal durch Lautsprecherwagen
und durch den Einheitsführer aufgefordert, das Werfen
einzustellen, widrigenfalls von der Schusswaffe Gebrauch
gemacht werden würde. Da die Demonstranten dieser Aufforderung
nicht entsprachen, sondern sie im Gegenteil mit verstärktem
Steinhagel beantworteten, ordnete der Zugführer nach Abgabe
von drei Warnschüssen den Schusswaffengebrauch an.«
Der Schusswaffengebrauch sei »durch
Notwehr begründet und auch nach den
Waffengebrauchsbestimmungen berechtigt gewesen«.
Wie denn? Hatte es anfangs nicht
geheißen, die Polizei habe das Feuer eröffnen
müssen, weil sie von den Demonstranten beschossen worden sei?
War nicht von einem »Schusswechsel« die Rede
gewesen? Und nun dies? Die Behauptung von den schießenden
Demonstranten ließ sich nicht aufrechterhalten. Kleinlaut
bemerkte die konservative »Rheinische Post« am 15.
Mai zu dem Bericht des Ministerpräsidenten: »Nach
dieser Darstellung ist die Frage, wer zuerst geschossen hat –
die Demonstranten oder die Polizei – nur noch von
untergeordneter Bedeutung.« Alles geklärt?
Mitnichten. Unvermittelt kam der Ministerpräsident auf die
Ereignisse vor der ›Gruga‹ zurück und
sagte: »Nach dem Ergebnis der bisher in sehr ernster und
gewissenhafter Weise durchgeführten Ermittlung ist von den
Demonstranten zuerst geschossen worden. Nach der Meldung von zwei
Polizeibeamten, die zum Schutz des Aussichtsturms der Gruga eingesetzt
waren, wurden sie bei der Vorführung eines Festgenommen
beschossen. Sie hörten den Abschussknall, und das Geschoss
flog in drei Meter Entfernung in Kopfhöhe an ihnen vorbei. Sie
beobachteten den Einschlag dieses Geschosses in der zweiten Halle der
Gruga.« – Weh dem, der schlecht dabei denkt.
Für die weiteren Beratungen im
Hauptausschuss des Düsseldorfer Landtags verlangte der
SPD-Abgeordnete Menzel »einwandfreie
Zeugenaussagen«. Der KPD-Abgeordnete Karl Schabrod wies
darauf hin, dass bei den 283 Festgenommenen »nicht ein
einziger Revolver« gefunden worden sei. Am Schluss vermerkt
das Protokoll: »Der Polizeidirektor beantwortet noch einige
an ihn gerichtete Fragen.« Was das für Fragen waren
und wie sie beantwortet wurden, unterschlägt das Protokoll.
Der Abgeordnete Menzel beanstandete das in einem geharnischten Brief an
den Ausschussvorsitzenden, den Essener Oberbürgermeister Hans
Toussaint: »Das Kurzprotokoll der 26. Sitzung des
Hauptausschusses enthält auf Seite 13 leider nicht die
Erklärung des Polizeidirektors Herrn Knoche auf meine in der
Sitzung an ihn gestellte Frage. Zunächst habe ich Herrn Knoche
gefragt, aus welcher Entfernung der angeblich zuerst von den
Demonstranten abgegebene Schuss gefallen sei. Herr Knoche gab
diese Entfernung mit 6o m an. Meine weitere Frage ergab, dass die Kugel
nicht gefunden wurde, sondern trotz der Entfernung von 60 m noch durch
eine Holzwand hindurch gegangen sei. Die weitere Frage, aus welcher
Entfernung der getötete Demonstrant beschossen worden
wäre, beantwortete Herr Knoche mit ›etwa 25 bis 30
m‹. Ich bitte das Protokoll in soweit zu
vervollständigen, denn ich bin der Auffassung, dass diese
Feststellungen wesentlich sind.« Ein offensichtlicher
Versuch, wichtige Angaben zu unterschlagen, war gescheitert; die
Antworten des Essener Polizeichefs führten alle Behauptungen
über einen »Schusswechsel« ad
absurdum.
DAS SCHWEIGEN DES MINISTERS
Am 10. Juni 1952 kamen die Essener
Vorfälle abermals im Landtag zur Sprache. Tags zuvor war der
CDU-Politiker Franz Meyers als neuer Innenminister vereidigt worden.
Während der Debatte über dessen Etat
erklärte der SPD-Abgeordnete Menzel: „Wir sind heute
nicht mehr völlig davon überzeugt, dass von der
Leitung alles getan worden ist, um den Gebrauch der Schusswaffe zu
vermeiden. Daher erwarten wir alsbald den Bericht, der uns im
Hauptausschuss zugesagt worden ist. Der kommunistische Abgeordnete
Josef (Jupp) Angenfort sagte unter Hinweis auf die verletzten
Demonstranten und den tödlich getroffenen Philipp
Müller, alle diese Leute »haben die Wunden im
Rücken; sie sind von hinten angeschossen worden. Die
Untersuchung und Überprüfung der Kleider und
die Überprüfung der Betroffenen hat das
ergeben“. Am 25. Juni 1952 stand der zugesagte Bericht des
Innenministers auf der Tagesordnung einer Sitzung des Hauptausschusses,
aber der Innenminister war laut Protokoll „nicht in der Lage,
abschließend über die Vorgänge zu
berichten, da im Augenblick die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen
liefen und in schwebende Verfahren nicht eingegriffen werden
könne“. Zur Klärung der Vorwürfe
gegen die Polizei sei der Justizminister gebeten worden,
»unverzüglich ein Verfahren gegen Unbekannt
wegen Körperverletzung einzuleiten und
durchzuführen«. Der SPD-Abgeordnete Menzel war mit
der Stellungnahme des Ministers nicht zufrieden. Er formulierte
zusammen mit seinem Fraktionskollegen Heinz Kühn,
später selbst Ministerpräsident von
Nordrhein-Westfalen, eine Reihe von Fragen, „auf deren
Beantwortung Wert gelegt werden müsse“. Unter
anderem wollte er wissen, welche Beweise für die Behauptung
vorlägen, „dass von den Demonstranten zuerst
geschossen worden sei« und ob sich »die Wunden
der Verletzten bzw. die Einschüsse auf der Vorder- oder auf
der Rückseite der betreffenden Personen«
befänden. Der Ausschuss vertagte die Beratung »bis
zur Beantwortung der gestellten Fragen“.
Nachdem sieben Monate vergangen waren, ohne dass
der Innenminister die Fragen beantwortet hatte, erinnerte der
SPD-Abgeordnete Kühn im Landtag an die Zusage, die Regierung
werde über diese Fragen und die ganzen Hintergründe
Auskunft erteilen, wenn „die prozessuale Erledigung des
Falles gegeben sei. Am 20. Oktober ist das Urteil (gegen elf angeklagte
Demonstranten, d.V.) vor dem Landgericht gesprochen worden. Wir
glauben“, insistierte Kühn, „dass der
Bericht der Landesregierung nunmehr mehr als fällig
ist“. Das Protokoll über die Landtagssitzung vom 27.
Januar 1953 vermerkt an dieser Stelle den Zwischenruf des
Innenministers: „Erst kommt noch die
Revisionsinstanz!“ Am nächsten Tag
erläuterte Meyers, das Dortmunder Urteil sei noch nicht
rechtskräftig geworden, da die Angeklagten Revision eingelegt
hätten. „Nach Abschluss der Verhandlungen in dieser
Instanz werde ich dem Wunsche des Hohen Hauses entsprechend entweder
vor dem Hauptausschuss oder vor dem Plenum Rechenschaft über
die Vorgänge ablegen.“
Am 15. Mai 1954 verwarf der Bundesgerichtshof die
Revision gegen das Dortmunder Urteil, das damit rechtkräftig
wurde. (BGH Aktenzeichen 6 StR 19/54). Entgegen seiner Zusage kam der
Innenminister von Nordrhein-Westfalen auf die Essener Vorgänge
nie mehr zurück.
Meine Anfrage beim Presse- und Informationsamt der
Landesregierung rund 50 Jahre später landete bei der
Landeszentrale für politische Bildung und
schließlich beim Ministerium für Arbeit und
Soziales, Qualifikation und Technologie, das mein
„Anliegen“ an das Archiv des
nordrhein-westfälischen Landtages weiterleitete. Am 5. Juli
2001 antwortete der Präsident des Landtags: „Leider
muss ich Ihnen mitteilen, dass sich im Archiv des Landtags kein Hinweis
über eine abschließende Äußerung
der Landesregierung über die Vorgänge in Essen
auffinden lässt.“ Das Schweigen hatte seinen Grund.
Im Urteil des Dortmunder Landgerichts findet die Behauptung, die
Polizei habe das Feuer als Antwort auf Schüsse der
Demonstranten eröffnet, keine Stütze.
VERLADEN WIE EIN STÜCK VIEH
Was in jenen Minuten passierte, da Philipp
Müller auf dem Rüttenscheider Kirmesplatz von der
Kugel aus einer Polizeipistole tödlich getroffen wurde,
schildert das Urteil mit dem Aktenzeichen 18 KLs 3/52 so: „In
diesem Augenblick wurde der Zeuge Knobloch (Polizeikommissar und Leiter
einer Einsatzgruppe der Kölner Polizei, d.V.) von einem Stein
an der Schulter getroffen. Hierauf rief dieser nochmals den
Demonstranten laut zu, mit dem Werfen der Steine aufzuhören.
Gleichzeitig drohte er bei Nichtbefolgung seiner Aufforderung den
Gebrauch der Schusswaffe an. Die Demonstranten erwiderten jedoch mit
Gejohle und höhnischem Gelächter. Nunmehr gab der
Zeuge Knobloch mit seiner Pistole drei Warnschüsse in die Luft
ab. Hiervon waren die Demonstranten jedoch in keiner Weise beeindruckt.
Vielmehr wurden Rufe laut wie: ›Die schießen ja
doch nicht, die schießen ja nur in die Luft!‹
Weiterhin ertönte aus Richtung des zweiten Steinhaufens der
Kampfruf: ›Auf zum Kampf gegen die Bluthunde!‹
Als hierauf der Steinhagel noch stärker wurde, erteilte der
Zeuge Knobloch seiner Kölner Gruppe den Feuerbefehl, der in
beschränktem Umfang auch von der Essener Gruppe befolgt
wurde.“
Das Zitat stammt aus einem Brief des Essener
Oberstaatsanwalts vom 12. Februar 1953 an den Münchner
Rechtsanwalt Dr. Ewald R., der namens der Angehörigen Philipp
Müllers Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Mordes erstattet
hatte. Dem Anwalt wird darin mitgeteilt, dass nach den richterlichen
Feststellungen den beteiligten Polizeibeamten »keinerlei
Verschulden an der Tötung des Philipp Müller zur
Last« falle und das Verfahren daher eingestellt werde. Ob
überhaupt jemals gegen Polizeibeamte ermittelt worden ist, die
damals von der Schusswaffe Gebrauch gemacht oder den
Gummiknüppel zu Unrecht eingesetzt haben, erscheint
zweifelhaft. Am 20. Juli 2001 habe ich beim Düsseldorfer
Justizministerium nachgefragt, was aus der Bitte des damaligen
Innenministers Meyers an den Justizminister Rudolf Amelunxen geworden
sei, unverzüglich ein Verfahren gegen Unbekannt wegen
Körperverletzung einzuleiten. Das Ministerium leitete meinen
Brief an den Leitenden Oberstaatsanwalt in Essen weiter. Der antwortete
am 28. August 2001, nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen seien
keine Verfahrensregister mehr vorhanden, die konkret Aufschluss geben
könnten, aber er gehe aufgrund der landgerichtlichen
Feststellungen davon aus, dass eine solche Prüfung
tatsächlich stattgefunden haben müsse. Anklage wurde
gegen keinen einzigen Polizeibeamten erhoben.
Der Oberstaatsanwalt verwies mich zwecks weiterer
Nachforschungen auf „so genannte Festschriften« zum
Tode Philipp Müllers, die »über die DKP zu
beziehen wären“. Zu den Essener
Vorgängen selbst schrieb er – im Widerspruch zu den
gerichtlichen Feststellungen über die Feuereröffnung
durch die Polizei –, nachdem aus den Reihen der Demonstranten
»auch Schüsse in Richtung der Polizeibeamten
abgefeuert worden waren, machte die Polizei ihrerseits von der
Schusswaffe Gebrauch«. So hartnäckig halten sich
Lügen aus Zeiten des Kalten Krieges am Leben. Wenden wir uns
deshalb noch einmal dem Geschehen auf dem Rüttenscheider
Kirmesplatz zu. Warum enthält das Dortmunder Urteil nicht die
Aussage des Essener Polizeichefs, die Polizei habe aus einer Entfernung
von 25 bis 30 Metern auf die Demonstranten geschossen? Und was war mit
Philipp Müller? Hatte er sich als
Gewalttäter so hervorgetan, dass den Polizisten keine
andere Wahl blieb, als in Notwehr zur Pistole zu greifen und ihn zur
Strecke zu bringen? Nein, laut Urteil war er dadurch aufgefallen,
»dass er durch Armbewegungen und Zurufe die anderen
Demonstranten einsatzmäßig zu lenken und
mitzureißen versuchte«. Deswegen musste er sterben?
Merkwürdig mutet auch die Formulierung an: „Der
tödliche verletzte Philipp Müller wurde
sorgfältig von Polizeibeamten in ein Polizeifahrzeug geladen
und in ein Krankenhaus gebracht.“ Warum die Betonung der
Sorgfalt beim Einladen des tödlich Verletzten? Gab es da
Zweifel? Herr Freud lässt grüßen! Wie ein
„Stück Vieh“, berichteten Augenzeugen,
hätten Polizisten den Jungen gepackt und in ein Polizeiauto
geworfen.
Der Münchner Rechtsanwalt Ewald R.
monierte in seiner Strafanzeige gegen Unbekannt, Polizeibeamte
hätten den Schwerverletzten
„unsachgemäß“ abtransportiert
und sich dadurch der fahrlässigen Tötung schuldig
gemacht. Statt einen Arzt oder einen Sanitätswagen
anzufordern, um dem Schwerverletzten an Ort und Stelle
sachgemäß erste Hilfe zu leisten, sei er brutal an
Händen und Beinen gepackt und auf ein Polizeifahrzeug geworfen
worden. In Abwesenheit eines Vertreters der Angehörigen wurde
die von der Polizei beschlagnahmte Leiche Philipp Müllers auf
dem Südwest-Friedhof in Essen-Haarzopf geöffnet. Die
Ärzte erklärten – übereinstimmend
mit den vorausgegangenen polizeilichen Angaben – der
21Jährige sei von vorn getroffen worden. Nach ihren Angaben
war der Tod auf der Stelle eingetreten. Beteiligte an dem Geschehen
äußerten sich ganz anders. Sie sagten, Philipp
Müller habe noch gelebt, als er weggeschafft wurde. So hatte
ein Polizeibeamter beobachtet, dass der Verletzte röchelte und
bewusstlos gewesen sei. Ein anderer sagte aus, er habe den
Lautsprecherwagen rufen lassen, damit der Verletzte schnellstens in
ärztliche Behandlung komme. Im Gegensatz zu diesen Angaben
behauptete der Chef der Essener Polizei, Philipp Müller sei in
einem Krankenwagen der Städtischen Berufsfeuerwehr zu den
Kruppschen Krankenanstalten gebracht worden. Auf dem Transport sei er
verstorben. Zu diesen Ungereimtheiten passt auch eine Ungereimtheit im
Dortmunder Urteil. Dort heißt es an einer Stelle:
„Als die beiden Gruppen Wolter und Knobloch gemeinsam den
Kirmesplatz zu räumen versuchten, und zwar unter
ständigem Steinhagel, fielen aus den Reihen der Demonstranten
in Richtung auf die Polizei Schüsse.“ Wie wir
wissen, gab Polizeikommissar Knobloch auf dem Kirmesplatz den
Feuerbefehl nicht als Antwort auf Schüsse aus den Reihen der
Demonstranten, sondern als „der Steinhagel noch
stärker“ wurde. An der Gruga, wo nach der
Schilderung des Ministerpräsidenten Arnold bereits zuvor auf
zwei Polizeibeamte geschossen worden sein soll, hat die Polizei keinen
einzigen Schuss abgefeuert. Sie unternahm auch nichts, um etwaige
Täter unter den Demonstranten ausfindig zu machen, jedenfalls
fehlt darüber jeglicher Nachweis.
„UNHEIMLICHES PHÄNOMEN DER
ZEITGESCHICHTE“
Keiner der später festgenommenen
Demonstranten hatte eine Schusswaffe bei sich, und es wurde –
nach allem, was bekannt ist – auch bei keinem nach
Schmauchspuren gesucht.
Handelte es sich bei dem Verweis auf
Schüsse aus den Reihen der Demonstranten um eine
Schutzbehauptung, um das Verhalten der Polizei zu rechtfertigen? War am
Ende ein V-Mann als agent provocateur am Werk, der den Protest gegen
die Wiederbewaffnung in Misskredit bringen sollte? Die Antwort wird
wohl, wie so vieles andere, für immer im Dunkel bleiben. Alle
Verfahrensakten des Dortmunder Prozesses um die Vorgänge in
Essen wurden, wie mir die zuständige Staatsanwaltschaft
mitteilte, vernichtet. In seinem Buch „Anwalt im Kalten
Krieg“ nennt Diether Posser das Ausweichen vor dem Konkreten
eines der »unheimlichsten Phänomene der
Zeitgeschichte“. In einem Prozess vor der Staatsschutzkammer
des Landgerichts Dortmund gegen einen ehemaligen
FDJ-Angehörigen aus dem Jahr 1956 hätten sich sieben
Zeugen als Lockspitzel der Polizei entpuppt. „Diese
Lockspitzel blieben als ›agents provocateurs‹
straffrei, während die von ihnen angeleiteten
Mitläufer sich verantworten mussten.“ Alexander von
Brünneck schreibt in seinem Buch „Politische Justiz
gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949
-1968“, den Ermittlungsbehörden sei es gelungen, die
kommunistischen Organisationen weitgehend durch
„Gewährsleute“ zu unterwandern. Bei den
V-Leuten habe es sich nicht immer um besonders seriöse
Personen gehandelt, aber sie seien ein zentrales Element in den
Ermittlungen gegen Kommunisten gewesen. Auch als Zeugen vom
Hörensagen hätten sie gedient. Als
Angehörige des Verfassungsschutzes oder der Politischen
Polizei sagten sie (zuweilen unter einem Decknamen) vor Gericht aus,
sie hätten von einer dritten zuverlässigen Person
gehört, dass dieses oder jenes geschehen sei. Über
den Gewährsmann selbst brauchte dieser Zeuge keine genauere
Auskunft geben. Brünneck zitiert Generalbundessanwalt Ludwig
Martin mit den Worten, die Nichtzulassung des Zeugen vom
Hörensagen hätte „eine Lähmung
unseres gesamten Staatsschutzes“ bedeuten müssen.
Elf Teilnehmer der verbotenen Jugendkarawane
wurden wegen Aufruhrs in Tateinheit mit Landfriedensbruch zu insgesamt
76 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte
36 Belastungszeugen aufgeboten, 26 davon waren Polizeibeamte. Bei der
Begründung des Urteils meinte der Vorsitzende Richter Anton
Rheinländer, es sei notwendig gewesen,
„fühlbare Strafen zu verhängen, um in
genügendem Maße abschreckend zu wirken.“
Derselbe Bundesgerichtshof, der dieses Urteil 1954 abgesegnet hat,
äußerte 40 Jahre später sein Erstaunen
darüber, dass in der Periode des Kalten Krieges auf beiden
Seiten „eine ›politische Justiz‹ mit
einer aus heutiger Sicht nicht immer nachvollziehbaren Intensität“
betrieben worden sei (Urteil vom 16. November 1994, 5StR 747/94). Zwei
Wochen nach dem Desaster vom 11. Mai 1952 genehmigte das Ordnungsamt
der Stadt Essen eine Kundgebung der Jugendkarawane mit
gleicher Zielsetzung und gleichen Veranstaltern. Sie verlief
reibungslos. Allerdings - so zitiert das Kurzprotokoll über
die Sitzung des Landtags-Hauptausschusses vom 25. Juni 1952 den
Abgeordneten Schabrod – allerdings habe sich die Polizei im
Gegensatz zum 11. Mai größter
Zurückhaltung befleißigt.
Bin ich der Wahrheit ein Stück
näher gekommen oder muss ich mich der These unterwerfen, es
sei unmöglich, die Wahrheit selbst über ein
„aufs Genaueste beobachtetes Ereignis
festzustellen“, wie der französische Diplomat
Georges d’Harcourt über die Schlacht von
Solferino räsonierte? Wenn es ernst wird, stirbt die Wahrheit
zuerst. Das wusste schon Carl von Clausewitz: »Die meisten
Nachrichten sind falsch, und die Furchtsamkeit der Menschen wird zu
einer neuen Kraft der Lüge und Unwahrheit.“
(Aus: Conrad Taler, Gegen den Wind, Geschichten
und Texte zum Zeitgeschehen 1927 – 2017, PapyRossa-Verlag,
Köln 2017)
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