10.05.2017
Über die geistigen Wurzeln des AfD-Nazifans Björn Höcke und über seine Verunglimpfung von Weizsäckers
Helmut Kellershohn vom DISS sprach zum 8. Mai in Bottrop
Helmut Kellershohn, Gründungsmitglied
des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung, hat zum
8. Mai in Bottrop gesprochen und enthüllende Textrecherchen
zur „Befreiungsthematik“ ausgebreitet. Er erinnerte an die
8. Mai-Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker und
was Höcke daraus macht. Auch im Grundgesetz Artikel 139 und im
Antrag auf Aufnahme der BRD in die UNO ist von der Befreiung des
deutschen Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus die Rede.
Höcke hatte die Rede des Bundespräsidenten für
„volksfeindlich“ erklärt und einen Wechsel der
Erinnerungsarbeit um 180 Grad verlangt. Weizsäckers
Äußerungen von 1985, so Höcke, seien „gegen das
eigene Volk gerichtet gewesen“.
Hier die Rede von Helmut Kellershohn:
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich möchte meine kleine Ansprache mit einer
Erinnerung beginnen: Es war der 8. Mai 1985. Der Bundestag war
zusammengekommen zu einer Gedenkveranstaltung - es war der vierzigste
Jahrestag der deutschen Kapitulation 1945. Die Rede zu diesem
Epocheneinschnitt hielt Bundespräsident Richard von
Weizsäcker. Es war zweifellos seine bedeutendste Rede. Der
damalige israelische Botschafter Jitzak Ben-Ari sprach von einer
„Sternstunde in der Geschichte der Bundesrepublik“.
Wir erinnern uns an die oftmals zitierte Sentenz in
dieser Rede: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns
alle befreit von dem menschenverachtenden System der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Der
Bundespräsident bezog mit dieser Position klar Stellung z.B. gegen
die Rede Ludwig Erhards zwanzig Jahre zuvor, in der dieser den
Befreiungscharakter des 8. Mai noch geleugnet hatte. Andererseits
versicherte der Bundespräsident: „Niemand wird um dieser
Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele
Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten." Der
subjektiven Erfahrung von Leid unter der deutschen Bevölkerung
versuchte er damit Rechnung zu tragen. Aber, so fuhr er fort:
„wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für
Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem
Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.
Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933
trennen.“
In seiner Rede gedachte v. Weizsäcker „der
sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet
wurden“, ferner „der ermordeten Sinti und Roma, der
getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der
Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen
Überzeugung willen sterben mussten“. Wichtig war ihm die
ausführliche Würdigung des Widerstands, auch des
kommunistischen, sodann die explizite Erwähnung der sowjetischen
und polnischen Kriegsopfer. Mit seiner Rede rückte der
Bundespräsident Opfergruppen ins Bewusstsein, die bis dahin im
offiziellen Gedenken kaum repräsentiert waren. Der Holocaust war
für v. Weizsäcker als Verbrechen singulär, und er wandte
sich in klaren Worten gegen Versuche, sich über das Argument des
Nichtwissens zu entschulden. Schuld war für nur individuell
zurechenbar; aber hinsichtlich der kollektiven Verantwortung und den
daraus erwachsenden Konsequenzen nahm er alle Deutschen in die Pflicht:
„Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen
die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von den Folgen betroffen und
für sie in Haftung genommen.“
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
an manchen Passagen der Weizsäcker Rede ist aus den
verschiedensten politischen Lagern Kritik geübt worden, zum Teil
mit bedenkenswerten Argumenten. Aber ihre enorme Wirkung bestand darin,
dass sie über alle damaligen politischen Lager hinweg einen
Minimalkonsens stiftete und die Erinnerungskultur der Bundesrepublik
Deutschland maßgeblich gefördert hat.
Zweiunddreißig Jahre später, am 17. Januar
2017, hält ein AfD-Politiker namens Björn Höcke in
Dresden eine Rede vor der Parteijugend der AfD. Es ist der Vorabend des
Tages, an dem vor 146 Jahren der preußische König im
besetzten Versailles zum deutschen Kaiser proklamiert worden war; und
es ist der Tag, an dem das Bundesverfassungsgericht die NPD für
verfassungsfeindlich erklärt, aber nicht verbietet. In dieser Rede
erklärt Höcke die Rede des Bundespräsidenten für
„volksfeindlich“, sie sei gegen das eigene Volk gerichtet
gewesen. Als Populist nahm er wie selbstverständlich ein
Alleinvertretungsrecht in Anspruch und kündigte den Konsens auf,
von dem ich vorhin gesprochen habe.
Aber auch Teile der Parteiführung werden von ihm
massiv angegriffen. Diese „Typen“ seien noch die
„Luckisten“ von gestern, unzuverlässige
‚Gestalten’, Höcke nennt sie die „Halben“.
Der Ausdruck macht stutzig, schaut man ins Internet, entdeckt man
Erstaunliches:
Es handelt sich um eine Anspielung auf die in extrem
rechten Fußball-Fangruppen weit verbreitete Parole „Die
Halben hol’ der Teufel.“ Dazu schreibt die Lausitzer
Rundschau (28.08.2012) in einem Bericht über die Cottbusser
Fangruppe Inferno:
„Die scheinbar harmlose
Zeile stammt aus einem Zitat der Romanfigur Gilbert Wolzow, einem
Antihelden in dem antifaschistischen, im Osten früher
weitverbreiteten Roman ‚Die Abenteuer des Werner Holt’.
Wolzow hält eine flammende Durchhalte-Rede: ‚Wer …
Deutschland in seiner schwersten Stunde im Stich lässt, der ist
ein Schweinehund. Alles oder nichts. Die Halben hol’ der Teufel.
Wir stehen zum Führer’.“
Und schaut man beim ‚Führer’ selber
nach, findet man z.B. eine Rede Hitlers vom 20. Juli 1932, die er in
Stralsund in der Nacht gehalten hat. Dort heißt es:
„Heute in der dritten
Morgenstunde, da das ganze andere Deutschland schläft, sind wir
hier wach und werden wach bleiben, bis Deutschland frei ist. […]
Das Himmelreich und die Seligkeit gehören niemals Halben, sondern
Ganzen. Ich verspreche, daß wir unsere Fahne, unsere Ideale und
unsere Idee hochhalten und mit ihr ins Grab gehen werden.
Unzählige Blutzeugen sind in dieser Stunde im Geiste bei uns. Aus
dem Fanatismus und der gläubigen Inbrunst kommt eines Tages die
Kraft, die das Reich der Größe, Kraft und Stärke einer
wirklichen Herrlichkeit zimmert, das einmal das Vaterland für alle
sein wird. […]“
Dieser religiös aufgeladene Ton mit direkten
Anspielungen auf biblische und liturgische Texte findet sich auch bei
Höcke. Den begeisterten Zuhörern aus den Reihen der Jungen
Alternative präsentiert er sich als der neue
‚Führer’. Er sei der „Wegweiser“ auf einem
„langen und entbehrungsreichen Weg“ hin zum
„vollständigen Sieg“ der Partei. Die ‚jungen
Leute’ sollten nicht wie irgendwelche
„Parteifunktionszwerge […] den kürzesten Weg zu
irgendwelchen Pfründen“ zu suchen. Diese Zwei-Wege-Metapher
hat ihre Vorbilder: Man kennt sie aus der antiken Mythologie (Herakles
am Scheidewege) und von alt- und neutestamentlichen Textstellen. Mit
ihr stellt Höcke die Parteijugend vor eine moralische
Entscheidungssituation: Es geht um die Wahl zwischen dem (negativen)
Weg des karrieresüchtigen Berufspolitikers und dem (positiven) Weg
derjenigen, die tugendhaft für „unser Volk“ und
„dieses Land“ eintreten und sich hierin dem Bild des sich
„im Dienst“ verzehrenden „neue[n]
Preußen“ verpflichtet wissen. Höcke selbst stellt sich
als dieser „neue Preuße“ dar und glaubt sich
legitimiert, nach dem Muster der alttestamentlichen Weisheitslehrer den
richtigen, wenn auch steinigen Weg zu weisen (vgl. Spr 4,11) –
wenn nicht gar hier die messianische Botschaft mitschwingt „Ich
bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Folgerichtig
lässt Höcke die ‚jungen Leute’ auch nicht
alleine: Weil „dieses Land […] einen vollständigen
Sieg der AfD“ brauche, so das hochgesteckte Ziel, das an die
Goebbelsche Rede vom „totalen Sieg“ erinnert, werde er
„diesen Weg – und nur diesen Weg – mit Euch gehen,
liebe Freunde“ – auch diese Zusicherung verweist auf eine
messianische Formel: „Siehe, Ich bin bei Euch alle Tage bis an
der Welt Ende.“ (Mt 28, 19) Höcke erhebt also einen
religiös verbrämten Anspruch, mit dem er sich weit über
die „Parteifunktionszwerge“ des Bundesvorstandes der AfD
stellt: Ohne ihn und ohne die Nachfolge, die er einfordert, wird es, so
die Botschaft, keinen Sieg der AfD geben.
Dazu bedarf es aber auch einer Vision, die Höcke
gleich im Anschluss präsentiert, indem er eine „positive
Beziehung zu unserer Geschichte“ als Grundvoraussetzung für
die „innere Erneuerung“ des deutschen Volkes reklamiert.
Warum aber fehlt es an dieser Grundvoraussetzung?
Höcke greift hier auf ein in der gesamten Rechten
verbreitetes Argumentationsmuster zurück: Innerhalb der extremen
Rechten ist vom ‚Schuld-Kult’ die Rede, um die kritische
Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit
abzuwerten. Die mit dem Begriff ‚Schuld-Kult’ verbundene
Kernaussage lautet, ‚die Deutschen’ seien nach dem Kriege
in eine Kollektivhaftung genommen worden und müssten bis heute
für die NS-Verbrechen ‚büßen’. Von
„Umerziehung“ ist die Rede, was auch Höcke betont.
Weil sich unter diesen Bedingungen kein positiver Bezug auf Volk und
Volksgemeinschaft habe entwickeln können, sei an die so
entstandene Leerstelle eine irrationale
‚Negativ-Identität’ getreten. Ein
quasi-religiöses Gedenken an die deutschen Verbrechen
‚verewige’ diese Schuld und mache sie zu einer
„gesamtgesellschaftlichen Daueraufgabe“. Höcke
moniert: „Bis jetzt ist unsere Geistesverfassung, unser
Gemütszustand, immer noch der eines total besiegten Volkes.“
Symbolischer Ausdruck dieser „Geistesverfassung“ ist
für Höcke das Holocaust-Mahnmal in Berlin: „Wir
Deutschen (…), wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige
Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner
Hauptstadt gepflanzt hat.“ Wie dies gemeint ist, wird deutlich,
wenn Höcke von einer „dämliche[n]
Bewältigungspolitik“ spricht, die das Volk lähme. Das
seien doch alles „tote Riten“ und „hohle
Phrasen“, eine „erinnerungspolitische Wende um 180
Grad“ müsse endlich her. Wir bräuchten „eine
lebendige Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst
mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung
bringt.“ Das ist also die Alternative: Höcke propagiert
einen Heroenkult als Inbegriff einer nationalidentitären
Sinnstiftung von Geschichte: große Wohltäter, weltbewegende
Philosophen, Musiker, geniale Entdecker und Erfinder. Alles
Männer, kein Wort über die Geschichte des Volkes.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
der geschichtspolitische Teil der Rede ist nicht der
eigentliche Skandal der Rede. In der Tat, dieser Teil gehört zum
Allgemeingut der deutschen Rechten. Deren Geschichtsrevisionismus,
sieht man einmal von der offenen Holocaust-Leugnung ab, hat sich zweier
Argumentationsstränge bedient: Der eine Strang fordert, einen
‚Schlussstrich’ unter die Auseinandersetzung mit dem NS zu
ziehen, schließlich sei bereits alles gesagt worden, man
müsse endlich einmal zur ‚Normalität’
übergehen. Der andere Strang zweifelt nicht den
gewaltförmigen Charakter des NS an, dafür wird die Bedeutung
des NS für eine verantwortliche und moralisch verpflichtende
Politik der nachfolgenden Generationen entschieden relativiert. Nicht
Auschwitz selbst, sondern die historische und moralische Bedeutung
dieses Verbrechens wird infragegestellt. Jede Form
erinnerungskultureller Aufarbeitung wird so als übertriebene bis
antinationale Handlung dargestellt. Im AfD-Programm wird die
„aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit
des Nationalsozialismus“ beklagt. Die Rede Höckes von der
„dämlichen Bewältigungspolitik“ greift diese
Klage auf und spitzt sie in zynischer Weise zu, wenn er in bewusst
vieldeutiger Weise vom „Denkmal der Schande“ spricht.
Deutlicher als sonst wird bei ihm der völkische Kern dieser Art
Geschichtspolitik. Die „innere Erneuerung“ des deutschen
Volkes mit dem Anspruch ethnischer Exklusivität ist nichts anderes
als die alte Parole der völkischen Bewegung von der
„Wiedergeburt“ des Volkes: nicht verstanden als demos, als
Gesamtheit der freien und gleichen Staatsbürger und
Staatsbürgerinnen, sondern als ethnos, als ethnisch homogene
Abstammungsgemeinschaft.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was Höcke mit
dem „vollständigen Sieg“ der AfD meint: Es geht ihm
nicht primär um die 51%, wie es an einer Stelle der Rede
heißt, also um die absolute Mehrheit, wie sie jede Partei
anstrebt. Vielmehr geht es um die Durchsetzung einer
Gesellschaftsordnung auf der Basis eines völkischen
Nationsverständnisses jenseits einer pluralistisch und
demokratisch verfassten Gesellschaftsordnung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die Rede Höckes kommt im Vorfeld der Landtagswahlen
in NRW und der Bundestagswahlen zur rechten Zeit. Sie macht kenntlich,
welche Kräfte in der AfD wirken und in letzter Zeit an Bedeutung
gewonnen haben. Die Höckes und Poggenburgs wollen die Öffnung
nach rechtsaußen, sie wollen eine neue völkische Bewegung,
eine Volksfront von rechts.
Angesichts dessen gilt wie eh und je der alte antifaschistische Leitsatz: „Wehret den Anfängen!“
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