09.05.2017
Zum 8. Mai – Tag der Mahnung
Der immense Reichtum Weniger zu Lasten der Mehrheit der Bevölkerung muss überwunden werden
Alice Czyborra von der Vereinigung der
Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten und der Gruppe
„Kinder des Widerstandes“ sprach auf der Kundgebung
„Bündnis6MaiBochum“. Sie sagte: „Am
kommenden Montag, dem 8. Mai, begehen wir den 72. Jahrestag der
Befreiung vom Faschismus, von den unvorstellbaren barbarischsten
Verbrechen des letzten Jahrhunderts. Die von der deutschen Wehrmacht
überfallenen und tyrannisierten Völker hatten diesen Tag
brennend ersehnt.“
Ebenso die
Überlebenden der Konzentrationslager und Zuchthäuser,
die Kriegsgefangenen, die Zwangsarbeiter, die ins Exil
Geflüchteten, zu denen meine Familie gehörte. Das
Ende von Faschismus, das Ende des Völkermords, der
industriellen Vernichtung von Millionen Jüdinnen und Juden, Sinti
und Roma, das Ende von Verwüstung und Zerstörung. Es brauchte
40 Jahre, bis Richard von Weizsäcker vom Tag der Befreiung
sprach. Die VVN-BdA fordert, und nicht nur wir, dass der 8. Mai, wie in
vielen europäischen Ländern, endlich zum gesetzlichen
Feiertag erklärt wird.
Doch heute noch wird der 8. Mai umschrieben als
„Ende des Krieges“, als Kapitulation, Zerschlagung,
Zusammenbruch, Niederlage. „Der Untergang“, so heißt
der Film über die letzten Tage Hitlers. Der Untergang Deutschlands
aber war 1933. Den Untergang Deutschlands hatten die mächtigsten
Banken und Industriellen Deutschlands, in unserer Region die
Ruhrbarone, zu verantworten, als sie Hitler an die Macht brachten. Der
Untergang Deutschlands begann mit der Zerschlagung der Arbeiterparteien
und Gewerkschaften. Tausende Gewerkschafter, Kommunisten,
Sozialdemokraten wurden verhaftet, in Gestapokellern gefoltert,
ermordet oder in Konzentrationslagern verschleppt,
Unsere Väter und Mütter der Gruppe Kinder des
Widerstandes, für die ich auch spreche, hatten bereits vor 1933
Widerstand geleistet gegen Regierungen der Weimarer Republik, die
im Interesse der wirtschaftlich Mächtigen alle Lasten der
Weltwirtschaftskrise auf die breite Masse der Bevölkerung
abwälzten, Tarifrechte und demokratische Rechte abbauten,
Notverordnungen erließen, Steuern zu Gunsten der Besitzenden
verlagerten. Es herrschte Armut, Elend und Verzweiflung, der
Nährboden für den aufkommenden Faschismus Die soziale
Erschütterung war eine der wichtigsten Ursache des Erfolgs der
NSDAP.
Grundgesetz als Gegenentwurf zum Faschismus
Als Gegenentwurf zu den schlimmsten Erfahrungen des
Faschismus wurde im Grundgesetz der Artikel 14 verankert:
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der
Allgemeinheit dienen.“ Und in der Landesverfassung von
Nordrhein-Westfalen heißt es: „Großbetriebe der
Grundstoffindustrie und Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen
Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum
überführt werden.“ Wie beliebig schon unter Adenauer
mit dem Grundgesetz umgegangen wurde, zeugt der Spruch seines
Innenministers Höcherl - wir Älteren erinnern uns noch:
„Die Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz
unter dem Arm herumlaufen.“
Wir sind heute erneut konfrontiert mit einer immer
größer werdenden Kluft zwischen arm und reich, mit
Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen, mit der
katastrophalen Zerstörung der Umwelt, der weiteren Privatisierung
der öffentlichen Dienste, z.B. dem Vorstoß von
Verkehrsminister Dobrindt zur Privatisierung der Autobahn. Immer mehr
Menschen leben in Zukunftsängsten. Ein Nährboden für die
AfD. Ähnlich wie damals, als die Juden schuld waren für alles
Übel, werden heute die Flüchtlinge, die Migranten, die
Muslime, verantwortlich gemacht für die sozialen Verwerfungen in
unserem Land statt die wahren Ursachen zu benennen: der immense
Reichtum Weniger zu Lasten der Mehrheit der Bevölkerung.
Im Land, das Auschwitz schuf, muss es einen Aufschrei geben gegen Rassismus
Einen millionenfachen Aufschrei müsste es geben
gegen Rassismus in einem Land, in der die grausamsten Auswüchse
von Rassismus in Auschwitz und anderen Vernichtungslager stattgefunden
haben.. Wir erleben gegenwärtig eine Atmosphäre der Hetze und
der Gewalt gegenüber Andersaussehenden und Andersdenkenden, vor
allem gegen Asylsuchenden. In erschreckender Weise greifen die
Regierenden die Parolen der rechten Demagogen von der Gefahr vor
Überfremdung und Islamisierung unseres Landes auf, so jetzt die
Forderung nach deutscher Leitkultur von Thomas de
Maizière. Es schlägt sich nieder in der Verschärfung
des Asylgesetzes, der Abschottung und Abschiebung von Geflüchteten
in so genannte Drittstaaten, in angeblich sicheren
Herkunftsländern, sogar nach Afghanistan.
Schon Anfang 1993, als viele Asylsuchende nach
Deutschland kamen, löste die beabsichtigte Einschränkung des
Rechts auf Asyl mit einer entsprechenden Änderung des Artikels
16 Proteste aus. In einer Rede sprach damals mein Vater Peter
Gingold von den Flüchtlingen aus Deutschland, die in fremden
Ländern Asyl und solidarische Hilfe gefunden hatten, wie unsere
Familie in Frankreich. „Aus unserer Asylerfahrung“, so in
seiner Rede, „haben wir nach unserer Rückkehr aus dem
Exil leidenschaftlich darum gekämpft, dass das Grundrecht auf
Asyl, der Artikel 16, als unverzichtbares elementarstes Menschenrecht,
für immer und ewig verankert wird. Wenn gesagt wird, ja damals,
als der Artikel 16 beschlossen wurde, war nicht die große Zahl
von Asylbewerbern vorauszusehen … Selbstverständlich war
nie die Quantität von Flüchtlingen begrenzt, es wäre
himmelschreiend, ein Grundgesetz deshalb abzuschaffen, nur weil es von
angeblich zu vielen in Anspruch genommen wird und weil die Kosten zu
hoch sind…. Der Artikel 16 gilt als Zeichen eines humanen
Deutschlands, in dem alle Menschen, gleich welcher Herkunft,
gleichberechtigt leben, ein Deutschland, das mithilft, die Ursachen in
der Welt zu beseitigen, die Menschen zu Flüchtlingen
machen.“ Soweit Peter Gingold. Seine Worte sind so aktuell wie
vor 24 Jahren. Seitdem wurde das Recht auf Asyl noch weiter
eingeschränkt. Wir fordern, dass das Grundrecht auf Asyl, der
Artikel 16 in seiner ursprünglichen Fassung wieder hergestellt
wird.
Das Urteil zugunsten der NPD traf uns wie ein Keulenschlag
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts, die NPD nicht zu verbieten, hat uns wie eine
Keule getroffen. Die Verfassungsrichter hatten der NPD
„Wesensverwandtschaft mit dem Nationalismus“ und ihre
Verfassungsfeindlichkeit bescheinigt. Ihr Urteil aber, die NPD trotzdem
nicht zu verbieten, begründen die Bundesverfassungsrichter mit der
gegenwärtigen Bedeutungslosigkeit dieser Partei. Ein fatales
Signal. Nazis und rechte Demagogen fühlen sich geradezu in ihrem
Treiben ermuntert, so Björn Höcke mit der
Verunglimpfung des Holocaust-Mahnmals und seine Forderung nach einer
erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad. Legitimiert nun durch
das Bundesverfassungsgericht konnten erneut am 1. Mai die NPD in
Essen und die Partei Die Rechte in Dortmund aufmarschieren, den
Tag der Arbeit für ihre Provokationen missbrauchen. Das Urteil ist
ein Affront gegenüber den Gewerkschaften, gegenüber allen
Demokraten.
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln
ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der
Freiheit ist unser Ziel.“ Das haben die Überlebenden des
Konzentrationslagers Buchenwald nach ihrer Selbstbefreiung im April
1945 geschworen. Wie weit entfernt sind wir gegenwärtig von diesem
Ziel! Noch nie gab es so viele Brandherde und einen solchen
Rüstungswahn. Für die damals Überlebenden nicht
vorstellbar, dass Deutschland als Auslöser von zwei barbarischen
Weltkriegen im letzten Jahrhundert, heute wieder direkt oder
indirekt beteiligt ist an Kriegen in dieser Welt und dass
deutsche Rüstungskonzerne erneut an Waffenproduktion und an ihren
Exporten höchste Profite einstreichen.
Vor
drei Wochen fanden im Rahmen des Ostermarsches an rund 100 Orten
Deutschlands Aktionen, Demonstrationen, Kundgebungen statt.
Dabei ging es gegen weitere Rüstungsprogramme,
gegen die von Trump geforderte und von Leyen begrüßte
Aufstockung auf zwei Prozent Rüstungsausgaben bis 2024,
berechnet auf das Bruttoinlandsprodukt. Dies würde fast eine
Verdoppelung der Rüstungsetats bedeuten, Milliarden die uns fehlen
für sozialen Wohnungsbau, Kita, Schulen, Verkehrsinfrastruktur
– die Liste ist unendlich.
„Kein Cent zusätzlich für die
Rüstung! NATO-Stützpunkte raus aus Deutschland. US-Atomwaffen
raus, denn Trump droht, sie einzusetzen! Die Bundeswehr hat
außerhalb Deutschlands nichts zu suchen – schon gar nicht
an der russischen Grenze,“ So heißt es in dem Aufruf
des Ostermarsches. Das militärische Vorgehen der letzten
Wochen durch die Trump-Regierung in Syrien, der Abwurf der so
genannten Mutter aller Bomben auf Afghanistan, die
Flugzeugträger in Richtung Korea, was für eine Eskalation!
Gegen die Ursachen des Leids angehen
Heute richten sich unsere Aktionen, unterstützt von
vielen Gewerkschaftern, gegen die Kriege im Nahen und Mittleren Osten
als wesentliche Ursache für millionenfache Flucht und menschliches
Elend.
Das Datum der heutigen Demonstration des
„Bündnis6MaiBochum“ zwischen dem 2. Mai, Jahrestag der
Zerschlagung der Gewerkschaften 1933, und dem 8. Mai veranlasst
uns Bezug zu nehmen auf unsere unsägliche deutsche Geschichte des
letzten Jahrhunderts. Sie ist Mahnung, rechtzeitig der weiteren
Militarisierung unserer Gesellschaft und den Kriegseinsätzen der
Bundeswehr Einhalt zu gebieten, der Rechtsentwicklung, der Spaltung der
Bevölkerung in Deutsche und Nichtdeutsche, dem Nationalismus
konsequent zu begegnen. Rechtzeitig aufstehen für Frieden,
für Umverteilung von oben nach unten, für internationale
Solidarität, das lehrt uns die Geschichte. Ich danke, dass ich
hier für die VVN-BdA sprechen konnte.
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