14.03.2017
„Aufgewachsen mit
der VVN“
Wortbeitrag
von Reinhard Junge am 10. Februar 2017 auf der Feier zum 70.
Gründungstag der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
(VVN) in Dortmund
In seinem Beitrag zum 70.
Gründungstag der VVN Dortmund erinnerte der in Bochum lebende
Krimiautor Reinhard Junge an die antifaschistischen Traditionen seiner
Familie sowie an sein eigenes Erwachsenwerden in der
Adenauer-Ära.
Seine Eltern Heinz und Lore Junge, hatten - wie
deren Eltern - von Anfang an aktiv im Kampf gegen den Faschismus
gestanden. So war Heinz Junge mit 18 wegen einer Aktion zum
Antikriegstag 1933 zum ersten Mal verhaftet, gefoltert und
ins KZ Börgermoor verschleppt worden. Es folgten 18
Monate im Bochumer Gefängnis und vier Jahre in der
holländischen Emigration, von wo aus Heinz Junge den
Widerstand Dortmunder Kommunisten unterstützte.
1940 wurde er nach dem faschistischen
Überfall auf Holland erneut verhaftet und war weitere
fünf Jahre in Sachsenhausen gefangen, wo er bald zum illegalen
Häftlingskomitee gehörte und half, besonders bedrohte
Gefangene zu schützen – was in viel zu wenigen
Fällen auch gelang. Im Mai 1945 wurde er aus dem KZ Mauthausen
befreit und kehrte in seine Heimatstadt zurück, wo er sich
sofort am Aufbau einer demokratischen Jugendbewegung beteiligte.
Wegen
„Staatsgefährdung“ verhaftet und angeklagt
wurden auch Großmutter Grete Junge und Großvater
Wilhelm Kröger. Während Grete Junge freigesprochen
werden musste, wurde Kröger für 2 ½ Jahre
ins Zuchthaus geschickt und anschließend ins
„Strafbataillon 999“, um in Griechenland Partisanen
zu jagen. „Hast du wirklich auf Partisanen
geschossen?“, fragte Enkel Reinhard viele Jahre
später. Mit listigem Lächeln antwortete der Opa:
„Das sollten wir. Aber wir haben seltsamer Weise immer nur
Spatzen getroffen.“
Junges Oma Grete war eine besonders mutige Frau.
Als sie 1933 die blutige Kleidung ihres Sohnes zum Waschen in der
„Steinwache“ abholte, marschierte sie damit ins
Büro des Polizeipräsidenten und hielt ihm die
Kleidungsstücke unter die Nase: „Foltert ihr jetzt
schon Kinder?“
Während der gesamten Nazi-Herrschaft
bewahrte sie die kunstvoll bestickte Fahne der KPD-Ortsgruppe
Hombruch-Barop auf – eingenäht in ein Kissen. Dieses
schob sie bei „Besuchen“ der Gestapo dem
Anführer des Trupps unter den Hintern: „Setzen Sie
sich doch, Herr Kommissar.“ Die Fahne wurde nie gefunden und
gehört heute zum Bestand der Gedenkstätte
„Steinwache“.
Wie vergiftet das Klima unter Adenauer war, zeige
ein anderes Ereignis. Anfang der 60er sollte der DDR-Schriftsteller
Bruno Apitz aus seinem Roman „Nackt unter
Wölfen“ lesen, in dem es um die Rettung eines
jüdischen Kindes im KZ Buchenwald geht. Die politische
Kriminalpolizei nahm Apitz fünf Minuten vor Beginn der
Veranstaltung fest und schob ihn in die DDR ab.
In seiner Kinder- und Jugendzeit hat Reinhard
Junge, anders als manche Klassenkameraden, nie schweigen
müssen, wenn die Nazizeit thematisiert wurde. Im Gegenteil:
Während in anderen Familien die Vergangenheit schön
geredet oder ganz verschwiegen wurde, war diese Zeit bei Junges und
Krögers nie ein Tabu: „Bei uns ging es immer um
Politik: um Adenauers Amnestierung alter Nazis, den Kampf um die
Einheit Deutschlands (in den ersten Jahren der Ära Adenauer
strafbar!), die Aktionen gegen die Wiederbewaffnung, gegen das
KPD-Verbot, später gegen die NPD und andere
Neonazis.“
„Als Kind habe ich sogar von den
Kämpfen und Leiden meiner Angehörigen profitiert. Die
Internationale Föderation der Widerstandskämpfer FIR
organisierte viele Jahre lang Ferienlager für die Kinder der
„Veteranen“, u.a. in Rumänien, Frankreich
und Ungarn – auf dieser letzten Fahrt (1959) betreute uns die
heutige Ehrenvorsitzende der Dortmunder VVN, Agnes Vedder. Das waren
unvergessliche Erlebnisse.“
Während der Studienzeit in Bochum fiel
Junge auf, dass in der Nachbarstadt der Widerstand gegen die Nazis
lange Jahre kaum geschätzt wurde. Schon 1955 oder 1956
verschwand vor dem Hauptfriedhof spurlos ein Denkmal, das sowjetische
Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter 1945 errichtet hatten – in
Dortmund steht ein ähnliches Denkmal noch, wenn auch an einem
anderen Platz. Während am „Volkstrauertag“
Antifaschisten an den Gräbern ermordeter Kommunisten
Kränze niederlegten, zog es die alte Bochumer
Führungsrade zum Bund der Vertriebenen. Das hat sich erst nach
Jahr 2000 geändert – unter der
Oberbürgermeisterin Scholz, die der VVN sogar zum 60.
Jahrestag ihrer Gründung gratulierte. Wesentlichen Anteil an
dieser Wandlung hatte der unvergessener Vorsitzende Klaus Kunold, der
viel Eis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zum Schmelzen
brachte.
In Dortmund war das Klima selbst im Kalten Krieg
immer anders. Zeugnis dafür sei nicht nur das Denkmal in der
Bittermark. Eine der Ursachen lag darin, dass noch im KZ Sachsenhausen
kommunistische Häftlinge wie sein Vater mit dem Mitgefangenen
Fritz Henßler und anderen SPD-Männern
darüber diskutiert hatten, wie Deutschland nach Hitler
aussehen sollte und welche Lehren SPD und KPD zu ziehen hätten.
So war es nicht verwunderlich, dass Anfang der
1970er Jahre bei der Umwandlung des Gefängnisses Steinwache in
eine Gedenkstätte in Dortmund ein Kuratorium gebildet wurde,
in dem nicht nur Vertreter der SPD, CDU und FDP saßen,
sondern auch Mitglieder der Verfolgtenverbände und der DKP.
Auch bei Aktionen gegen die NPD, die 1969 nur
knapp an der Wahl in den Bundestag scheiterte, kam es in Dortmund zu
einheitlichen Aktionen. So wurde auf dem Alten Markt ein stilisiertes
KZ aufgebaut, um die Traditionen der Neonazis zu verdeutlichen. Und an
einem Samstag vor der Wahl zog rund um den Wall ein Demonstrationszug:
Pfarrer in Soutane und Stahlarbeiter mit Schutzhelm halfen,
sämtliche NPD-Plakate zu entfernen – ohne dass die
Polizei sich sehen ließ. Zahlreiche Naziversammlungen wurden
verhindert, weil die Säle rechtzeitig von Antifaschisten
besetzt wurden – so auch im heutigen Cabaret Queue in
Hörde, wo sich auch viele Sozialdemokraten (u.a. der
spätere Westfalenhallenchef Heinemann) zum Protest einfanden.
Junge erinnerte auch an seine Mutter Lore, die
viele Jahre recherchiert und – schon als Rentnerin - zwei
Bücher über die Rolle Dortmunder Frauen im Widerstand
und eine Dokumentation über die Mordaktion der Dortmunder
Gestapo in den Tagen vor Ostern 1945 geschrieben hat. (Kein Zufall
also, dass bei der Trauerfeier für sie einträchtig
Kränze von SPD und DKP vor ihrem Sarg standen.)
Abschließend kommentierte Reinhard Junge
die geplante Umgestaltung der Gedenkstätte
„Steinwache“. Der Einsatz moderner
Museumspädagogik sei unbedingt notwendig – aber es
müsse verhindert werden, dass die Rolle der
Großindustrie, die Hitler gefördert und
anschließend davon profitiert habe, demnächst
verschwiegen oder relativiert werde.
Fotos: Detlef Bay.
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