27.01.2017
Rede von Ulla Jelpke:
Hätten die heute Geehrten die Nazizeit überlebt, sie
hätten in der Bundesrepublik keine Entschädigung
erhalten
Im Bundestag fand heute die
Gedenkstunde für die NS-Opfer statt. Am Vorabend gab es die
erste Beratung eines Antrages der LINKEN, die Überlebenden
endlich anständig zu entschädigen und insbesondere
die Ausgrenzung bestimmter Opfergruppen zu beenden. Euthanasie-Opfer,
die im Bundestag am 27.01.2017 im Mittelpunkt der Gedenkfeier
stehen, waren – und sind – in Deutschland von den
Leistungen des Bundesentschädigungsgesetzes ausgeschlossen.
Ulla Jelpke prangert diese Heuchelei in ihrer – nur zu
Protokoll gegangenen – Rede an.
Die Rede im Wortlaut:
Es ist im Deutschen Bundestag eine gute Tradition,
dass am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer der
NS-Verfolgung, Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen
Opfergruppen sprechen. In diesem Jahr wird es der Schauspieler
Sebastian Urbanski sein, der das Down-Syndrom hat. Er wird aus einem
Brief von Ernst Putzki lesen, der von den Nazis wegen einer geistigen
Behinderung ermordet worden war.
Das sind durchaus würdige
Gedenkveranstaltungen. Die Wahrheit ist aber auch, und darum geht es im
Antrag der LINKEN: Hätte Ernst Putzki die Nazizeit
überlebt, er hätte in der Bundesrepublik keine
Entschädigung erhalten.
Denn im deutschen Entschädigungsrecht
gibt es bis heute gravierende Ungleichbehandlungen. Diese will unser
Antrag beseitigen: DIE LINKE fordert, dass alle, die von den Nazis
verfolgt worden sind, die gleichen Entschädigungsleistungen
erhalten.
Als in den 1950er und 1960er Jahren über
die Anträge nach dem Bundesentschädigungsgesetz
entschieden wurde, sind etliche Opfergruppen einfach ausgeschlossen
wurden. Für Homosexuelle, für Opfer der
Wehrmachtsjustiz, für verfolgte Sinti und Roma, für
Kommunistinnen und Kommunisten, für sog. Asoziale, und eben
auch für Zwangssterilisierte und
Euthanasie-Geschädigte gab es in aller Regel keine Leistungen.
Denn all diese Opfergruppen sind noch über Jahrzehnte hinweg
stigmatisiert und diskriminiert worden. Sie galten als
Verrückte, als Schädlinge, als Verräter,
denen unterstellt wurde, für ihr Verfolgungsschicksal selbst
verantwortlich gewesen zu sein. Ein augenfälliges Beispiel
dafür ist etwa, dass im Deutschen Bundestag zu einer
Anhörung im Jahr 1961 ausgerechnet drei Mediziner als
Sachverständige eingeladen worden sind, die direkt an
Verbrechen im Namen der „Rassenhygiene“ beteiligt
waren.
Erst in den letzten Jahren sind viele dieser
Opfergruppen endlich politisch und zum Teil auch juristisch
rehabilitiert worden. Es wurden Denkmäler gebaut, es gibt
nette Gedenkfeiern – aber Entschädigungsleistungen
erhalten sie noch immer nicht. Denn Anträge nach dem
Bundesentschädigungsgesetz können seit 1969 nicht
mehr gestellt werden.
Für all diese Opfergruppen, die ich eben
aufgezählt habe, gilt also: Erst hat man ihnen die
Entschädigung verweigert, und heute, wo sie endlich als
Nazi-Opfer anerkannt sind, wird ihnen gesagt, sie hätten die
Antragsfrist verpasst. Diese Logik ist ungeheuerlich zynisch.
Wenn sie Glück haben, werden sie mit
Einmalzahlungen nach den Härterichtlinien des Allgemeinen
Kriegsfolgengesetzes abgespeist. Nur eine Handvoll Opfer
erhält monatliche Zahlungen. Das sind aber
ausdrücklich nur Härteleistungen, die wesentlich
geringer sind als Leistungen nach dem
Bundesentschädigungsgesetz. Nur zum Vergleich:
Während die durchschnittliche Rente nach dem
Bundesentschädigungsgesetz 651 Euro beträgt, belief
sich die Einmalzahlung nach den Härterichtlinien auf 2500
Euro. Die Entschädigung für erlittene Verfolgung,
für die Ermordung von Angehörigen, für den
Verlust von Lebensperspektiven oder materiellen Gütern wird
diesen Überlebenden nach wie vor verweigert. Nachdem man sie
jahrzehntelang nicht einmal als Opfer anerkannte, werden sie heute als
Opfer zweiter Klasse diskriminiert.
Wir haben die Bundesregierung in den vergangenen
Jahren wiederholt auf diese Ungerechtigkeiten hingewiesen. Wir haben
gefragt: Mit welcher Begründung werden die einen NS-Opfer
schlechter behandelt als andere NS-Opfer?
Die Antwort der Bundesregierung war immer die
gleiche: Die Entschädigungsfrage sei schon längst
„erfolgreich“ gelöst.
Das ist eine dreiste Lüge, mit der die
Bundesregierung den Überlebenden direkt ins Gesicht
schlägt. Denn die jahrzehntelange Ungleichbehandlung, und die
bis heute andauernde Ignoranz gegenüber dieser Problematik
werden von vielen Überlebenden als weitere Diskriminierung,
als Nichtanerkennung ihrer Verfolgung und des faschistischen Unrechts
wahrgenommen. Und das völlig zu Recht, auch DIE LINKE
hält diese Praxis für empörend.
Überfällig ist schon
längst, dass endlich die Betroffenen der sog.
Zwangsgermanisierung entschädigt werden. Zehntausende von
Kindern –die genaue Zahl ist nicht bekannt - sind aus den
besetzten Gebieten entführt worden, weil die Nazis sie
für ausreichend „arisch“ hielten. Sie
wurden ihren Eltern geraubt oder aus Kinderheimen verschleppt und
verbrachten ihre Kindheit bei Nazi-Eltern oder in Heimen des
Lebensborns. Etliche der Betroffenen berichten über erlittene
Misshandlungen, wenn sie nicht den Vorstellungen ihrer faschistischen
Kidnapper entsprachen: Es wurde ihnen Essen entzogen, sie wurden im
Schnee ausgesetzt, geschlagen. Karl Vitovec de Gereben, der als
Achtjähriger ins Reichsgebiet verschleppt worden war, und mit
dem ich seit Jahren in Verbindung stehe, berichtet, man habe ihn
misshandelt, wenn er nicht wusste, wann Hitler Geburtstag hatte.
Ich hoffe, alle hier im Haus haben
genügend Empathie, um sich wenigstens annähernd
vorzustellen, welche Traumatisierungen die Betroffenen bis heute
quälen. Diese Menschen wurden aufgrund der rassistischen
Vorstellungen der Nazis entführt und misshandelt. Aber die
Entschädigungsgesetze berücksichtigen sie nicht, und
die Bundesregierung zuckt mit den Schultern. Darin verbirgt sich eine
solche Kälte, eine solche Ignoranz gegenüber den
Nazi-Opfern, dass es einen schaudern lässt.
Ich meine: Deutschland ist es den Nazi-Opfern
schuldig, sie anständig zu behandeln – und zwar alle!
Man kann nicht Gedenkveranstaltungen für
die Toten durchführen und den Überlebenden die kalte
Schulter zeigen. Man darf auch nicht die einen Nazi-Opfer gegen die
anderen ausspielen. Deswegen beantragt DIE LINKE, dass alle Nazi-Opfer,
auch die sog. Zwangsgermanisierten, genau die gleichen
Entschädigungsleistungen erhalten, wie sie auch jenen
zugestanden wurden, die Leistungen nach dem
Bundesentschädigungsgesetz beziehen.
Wenn sich die Regierungsfraktionen dieser
moralischen Pflicht entziehen, degradieren sie damit die
Gedenkveranstaltungen zur reinen Heuchelei.
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