26.01.2017
Von der Ruhrlade zum
Verfassungsschutz: Kapitalismuskritik wird kriminalisiert
Bis 1989 war der Kapitalismus
kein Begriff, mit dem sich die Bundesrepublik zieren mochte. Nach den
Erfahrungen mit dem Faschismus als einem der möglichen
Resultate kapitalistischer Entwicklung wandten die Wortführer
der vorherrschenden Gesellschaftspolitik in der BRD vorzugsweise den
Begriff „soziale Marktwirtschaft“ an, um ihr System
zu kennzeichnen. Die „freiheitliche demokratische
Grundordnung“' wie sie im Grundgesetz beschrieben wurde, galt
als Alternative zum Kapitalismus. Die Gewerkschaften machten diese
Sprachregelung lange Zeit nicht mit; sie sprachen von der
„Wiederherstellung der alten Besitz- und
Machtverhältnisse“ aus der Zeit der Weimarer
Republik, wenn sie den Kapitalismus kennzeichnen wollten, allerdings
herrsche darin die „Sozialpartnerschaft“.
Verächtlichmachung
des Begriffs Antifaschismus
Ab 1990 machte sich die Bundesregierung daran, die
DDR vollkommen zu delegitimieren. Jeglicher Sozialismus wurde
verunglimpft. Auch der Begriff des Antifaschismus sollte verschwinden -
in Ost und West. Sogenannte Berater des Verfassungsschutzes gingen nach
der Methode vor, „Rot ist schlimmer als braun, weil noch
wirksam“. Der Berater des Bundesamtes für
Verfassungsschutz und spätere Professor Eckard Jesse hat in
einem Grundsatzartikel in der „FAZ“ vom 28.8.1991
der Hoffnung der Ultrarechten Ausdruck gegeben: „Vielleicht
werden die frühen neunziger Jahre dereinst als eine
Inkubationszeit für den Beginn eines
‚Anti-Antifaschismus‘ gelten.“ Bald
danach wurde diesem Begriff von Neonazis mit terroristischen Methoden
Nachdruck verliehen. Es gab eine Broschüre zur
„Inneren Sicherheit“ mit dem Titel
„Bedeutung und Funktion des Antifaschismus“. Darin
wird im Vorwort des Ministeriums der angebliche Missbrauch des
Antifaschismus angeprangert: „Die Linksextremisten sehen in
ihm ein neues Schwerpunkt-Aktionsfeld für sich. (...) Sie
setzen auf die traditionelle Zugkraft des Antifaschismus, um so ihre
Bündnisfähigkeit
zurückzugewinnen.“ (hg. vom Bundesinnenministerium,
Oktober 1990)
Zentraldatei
des Geheimdienstes gegen die Antifaschisten
Fortan wurde auch der Kapitalismus ganz unbefangen
von der Regierung davon freigesprochen, geschichtlich belastet zu sein.
Kapitalismus und Demokratie wurden gleichgesetzt. Die Vereinigung der
Verfolgten des Naziregimes/ Bund der Antifaschisten lehne
„die kapitalistische“ mithin freiheitliche
demokratische Grundordnung ab“. So wird in einem
Grundsatzpapier fälschlich formuliert, welches das Land Hessen
in ein Verfahren einbrachte, mit dem sich das frühere
Berufsverbotsopfer Silvia Gingold gegen die andauernde Bespitzelung
wehrt. „Die VVN-BdA duldet Kommunisten in ihren
Reihen“, empört sich der hessische
Verfassungsschutz. Und weiter: „So führte der
Bundessprecher Ulrich Sander in seiner Rede auf dem UZ-Pressefest 2014
(...) der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) in Dortmund u. a. aus:
‚Viele Angehörige der Hinterbliebenen des deutschen
Widerstandes gehören der VVN-BdA an. Sie haben auf dem letzten
Pressefest hier in Wischlingen die neue Zeitzeugenorganisation
‚Kinder des Widerstandes‘ auf den Weg gebracht.
Auch von diesen Antifaschistinnen und Antifaschisten
grüße ich heute. Unter ihnen sind viele
Kommunistinnen und Kommunisten, denn die Arbeiterbewegung war besonders
aktiv im antifaschistischen Widerstandskampf.‘“
Da wird dem deutschen antifaschistischen
Widerstand, der weltweit, nur nicht hierzulande hochgeachtet ist, der
Vorwurf gemacht, sich überhaupt gegen die Nazis aufgelehnt zu
haben.
Die Antwort des hessischen Verfassungsschutzes auf
Silvia Gingolds Klage gegen das Land Hessen (siehe den Bericht in der
UZ vom 13.1.) ist äußerst aufschlussreich.
So ist man überrascht, dass auch ein grün
mitregiertes Land wie Hessen sich verhält, als sei es das Land
Bayern. Es wird klar, dass die Nichtbehandlung der VVN-BdA in den
Verfassungsschutzberichten des Bundes und der allermeisten
Länder - außer Bayern - nur wenig bedeutet. Es
besteht, so wird bestätigt, ein zentraler
Verfassungsschutzverbund aller Ämter des Bundes und der
Länder, der mit einem großen einheitlichen Dossier
über die VVN- BdA arbeitet, bei dem sich alle Geheimdienste
bedienen können. Es wird mitgeteilt: Zwei Drittel der
Bundesländer und das Bundesamt für Verfassungsschutz
(BfV) bespitzeln und behindern die VVN-BdA. Lediglich in den
fünf Bundesländern Bremen, Mecklenburg-Vorpommern,
Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Sachsen stellt die VVN-BdA derzeit
offiziell kein Beobachtungsobjekt dar. Doch Sachsens Regierung
verhält sich in Sachen Antifaschismus durchaus konform; und
dass auch Thüringen die VVN-BdA bespitzelt, durfte nach
früheren Äußerungen von Bodo Ramelow nicht
einfach erwartet werden, na ja. Der einzige wirkliche aktuelle
„Beleg“ für die Verfassungsfeindlichkeit
großer Teile der VVN-BdA bzw. ihrer linksextremistischen
Beeinflussung ist laut Dokument die Duldung solcher Mitglieder wie
Silvia Gingold und Ulrich Sander in der Führung der VVN-BdA.
Die Verfassungsfeindlichkeit der DKP wird offenbar als bekannt und
erwiesen vorausgesetzt. Als Beispiele aus der Spitzeltätigkeit
werden Vorträge, Lesungen - zum Beispiel aus den Erinnerungen
Peter Gingolds - durch die Töchter von Peter Gingold
herangezogen.
Wenn
Kapitalismuskritik „verfassungsfeindlich“ wird
Ihre Verfassungsfeindlichkeit, so die VS-Zentrale,
äußere sich auch im Antikapitalismus der VVN-BdA,
denn jede nichtkommunistische Ordnung sei nur eine Vorstufe zum
Faschismus und werde von der VVN-BdA bekämpft: Dass es gelte,
den Faschismus mit seiner Wurzel zu beseitigen (Schwur von Buchenwald)
sei Ausdruck dafür, dass der Schwur ein kommunistische
Hervorbringung ist. Der Hinweis auf den großen Anteil der
Kommunistinnen und Kommunisten am Widerstand gegen den Nazismus wird
nicht etwa als entlastend angesehen. Es wird nahegelegt, dass der
antifaschistische Widerstand vor 1945 im Grunde genommen
verfassungsfeindlich war.
Hier fühle ich mich an die Rechtsprechung
des Kalten Krieges gegen Kommunisten erinnert, die unbelehrbar seien,
was man an der Wiederholung ihrer staatsfeindlichen Handlungen von vor
1945 erkennen könne. Jede Kritik an Geheimdiensten wie dem
Verfassungsschutz wird nicht etwa als legitime
Meinungsäußerung gewertet, sondern als Beleg
für die Richtigkeit der Äußerungen des
Verfassungsschutzes über die VVN-BdA und über Silvia
Gingold.
Geschichte der
Schwerindustrie mahnt uns
Der Eifer des Inlandsgeheimdienstes zur
Delegitimierung des Antifaschismus und zur Verteidigung des
Kapitalismus erfolgt in einer Zeit, da der Kapitalismus wieder
besonders autoritäre und verfassungsfeindliche Züge
annimmt. Dagegen gilt es Aufklärung zu setzen. Daher
erinnerten wir in einer Aktion am Sitz des Geheimbundes
„Ruhrlade“ an die Rolle dieser Organisation, die
von 1928 bis 1938 existierte. Es handelt sich dabei um eine kriminelle
geheime Vereinigung von Superreichen profaschistischen Charakters, wie
sie weltweit bis dahin unbekannt war. Anfang Januar wurde ein Antrag an
die Stadt Dortmund gestellt, den Tagungsort der Ruhrlade an der
Hainallee zu kennzeichnen und mit einer Mahntafel zu versehen.
Vorgesehen ist die Inschrift:
„Hier
an der Ecke Eintrachtstraße/ Hainallee stand die Villa
Springorum. Es trafen sich darin am 7 Januar 1933 Franz v. Papen und
führende Ruhrindustrielle des Geheimbundes
‚Ruhrlade‘, um über die
Machtübertragung an Adolf Hitler und seine Partei zu
entscheiden. Sie erfolgte am 30. Januar 1933, und viele
Ruhrindustrielle unterstützten sie. Sie profitierten von
Rüstung und Krieg, von der Beseitigung der Demokratie und der
Gewerkschaften, von Antisemitismus, Holocaust und Zwangsarbeit und von
der Unterdrückung und Ausplünderung der
Völker Europas.“
Mitglieder der Ruhrlade waren u. a. Karl Haniel,
Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Ernst Poensgen, Paul Reusch,
Friedrich Springorum, Fritz Thyssen und Albert Vögler.
Ein Treffen am 4. Januar 1933 in Köln zur
Vorbereitung der Machtübertragung an Hitler und das Treffen am
7 Januar 1933 in Dortmund stehen in engem Zusammenhang. Doch die
wirkliche Entscheidung wurde in Dortmund von der geheimen
„Ruhrlade“ getroffen. Hier wurde Geld für
Hitler bereitgestellt, weil dieser versprach, die letzten Wahlen
durchzuführen und sie dann für immer abzuschaffen.
Wahlen werden
unwichtig - das große Geld entscheidet
Die politische Herrschaft der Reichen und
Superreichen wurde kürzlich wieder seitens der Regierung
eingestanden: „Regierung streicht heikle Passagen aus
Armutsbericht. (...) So fehlt zum Beispiel der Satz: ‚Die
Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist
wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von
einer großen Anzahl von Menschen mit höherem
Einkommen unterstützt wird‘“.
(„Süddeutsche Zeitung“, 15.12.2016)
Zudem droht der Schlussstrich und die
Aktenvernichtung bei der Justiz. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg
soll geschlossen werden, enthüllte die
„Jüdische Allgemeine“. Dabei wäre
noch viel zu tun. Die Erbauer von Auschwitz-Birkenau, die Banker und
IG-Farben-Manager bzw. ihre Institutionen sowie die Schwerindustriellen
der Ruhrlade wurden nicht belangt. Ihre strafweise Enteignung
unterblieb. Es gab umfassende Tätergruppen, die nie von
deutschen Gerichten belangt wurden. So die großen deutschen
Unternehmer. Ferner die Militärs, die nach 1945 von der
Wehrmacht in die Bundeswehr wechselten und an den Massakern in den von
Nazideutschland besetzten Gebieten beteiligt waren. Hunderte von ihnen
leben noch.
Alle Formen der kapitalistischen Herrschaft und
Eigentumsverhältnisse - so die konstitutionelle Monarchie, die
parlamentarische Republik und auch der Faschismus - sehen die
„Politikveränderung von einer großen
Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen“ vor; wer
arm ist, hat wenig Chancen auf Einflussnahme. 1933 wäre die
Machtübertragung an Hitler und seine Partei nicht
möglich gewesen ohne den Willen der ökonomischen
Eliten. Krieg, Holocaust, Millionen Tote, ein zerstörtes
Europa - all das wäre uns erspart geblieben, wenn die
„Räte der Götter“ oder die
„Ruhrlade“, vor deren früherem Sitz wir
bei einer Aufklärungsaktion am 27 Januar stehen werden, nicht
ihre Macht ausgeübt hätten.
Antifaschistische Kapitalismuskritik ist daher
dringend erforderlich. Seit 2008 arbeitet unsere Organisation an einer
Art Anklageschrift, wie sie nie ein Staatsanwalt im Lande geschrieben
hat - wie sie aber notwendig gewesen wäre. Wir stellen
Anträge und richten Eingaben an zuständige Stellen,
um die Tatorte der Täter des großen Geldes zu
kennzeichnen und ihre Taten zu beschreiben. Aktivisten der Vereinigung
der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten weisen vor Ort
die Schuld des großen Kapitals an der Vernichtung der
Demokratie, an Kriegsvorbereitung und Massenvernichtung von Menschen
nach. 1933 wurde der Staat umgekrempelt und jegliche Demokratie
beseitigt. Und dies auch an der betrieblichen Basis. Erstmals wird von
uns der Umsturz nicht nur im Reichsmaßstab, an der Spitze der
Pyramide dargestellt, sondern auch die Auswirkungen in den Betrieben
werden verdeutlicht.
Straffreiheit
für das Große Kapital
Die Alliierten haben in Nürnberg einige
wenige Industrielle angeklagt, die deutschen Behörden haben
sie dann wieder freigelassen und ihnen ihren Besitz
zurückgegeben. Auch von den ganz Großen wurden nur
sehr wenige belangt, so z. B. gingen die Quandts unbehelligt durch die
deutsche Nachkriegsgeschichte und gehören damals wie heute zu
den Reichsten und Mächtigsten.
Die etablierten Historiker der
Drittmittelforschung haben sich darauf geeinigt; das Ansehen des
großen Geldes nicht zu beschädigen. Der Historiker
aus den USA Henry Ashby Turners legte 1985 dafür den Grundsatz
fest: „Entspricht die weit verbreitete Ansicht, dass der
Faschismus ein Produkt des modernen Kapitalismus ist, den Tatsachen,
dann ist dieses System kaum zu verteidigen.“
Ja, es soll schöngeredet werden. Die
Stadt Dortmund, heimlicher Sitz der Ruhrlade, hat sich in den
bisherigen Antworten an uns auf die den Kapitalismus pauschal
rechtfertigenden Thesen gestützt, die von Mr. Turner stammen.
Das vergessene
Ahlener CDU-Programm
Das widerspricht den bisherigen Aussagen der
Gedenkstätte Steinwache - siehe die dortige Information
über die Industrielleneingabe vom November 1932. Und es
widerspricht den Erkenntnissen aller demokratischen Kräfte
nach 1945. Nach 1945 war allgemein die Gewissheit verbreitet und
akzeptiert, dass die kapitalistischen Unternehmen und ihre
Führungen nie wieder so viel Macht erlangen dürften
wie 1933. Im Ahlener Programm der CDU von 1947 hieß es:
„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen
und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht
geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik
kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser
sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das
kapitalistische Wirtschafts- und Machtstreben, sondern nur das
Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche
Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung
erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen
entspricht.“
Es ist anders gekommen. Doch es gibt noch immer
die Möglichkeiten, an die Erkenntnisse von 1947
anzuknüpfen. Das Grundgesetz und die
Länderverfassungen kennen Sozialisierungsartikel. Das
Bundesverfassungsgericht entschied in einem Grundsatzurteil im Jahre
1954: „Die gegenwärtige Wirtschafts- und
Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche
Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche.“ Das
Urteil gilt bis heute.
Dennoch verhalten sich viele Gerichte und
Ämter für Verfassungsschutz so, als wäre der
Kapitalismus gleichzusetzen mit der Verfassung. Kapitalismuskritik gilt
als verfassungsfeindlich. Doch damit finden wir uns nicht ab. Wir
sagen: Ihr wollt Kapitalismus ohne Demokratie - wir wollen Demokratie
möglichst ohne kapitalistische Herrschaft. Überall
schreiten die rechten Bewegungen voran, die die Kapitalherrschaft
begünstigen, auch wenn sie sich bisweilen kapitalkritisch
geben. Viele Millionen Spendengelder und Steuergelder gingen an die AfD
und NPD. Viele beträchtliche Beiträge spendete die
deutsche Industrie für Donald Trump. Lassen wir nicht zu, dass
der faschistische Saatboden, wie Habermas die AfD nennt, wieder reich
gedüngt wird.
Im Jubiläumsheft 2016 der
„Blätter für deutsche und internationale
Politik“ schreibt Jürgen Habermas:
„Parteien, die dem Rechtspopulismus Aufmerksamkeit statt
Verachtung widmen, dürfen von der Zivilgesellschaft nicht
erwarten, dass sie rechte Parolen und rechte Gewalt
ächtet.“ Und so tragen sie dazu bei, dass die AfD
von Erfolg zu Erfolg eilt. Statt um die Petrys, Höckes und
Gaulands „herumzutanzen“, fordert Habermas, sie
„kurz und trocken als das“ zu bezeichnen,
„was sie sind - der Saatboden für einen neuen
Faschismus“.
Es gilt, diesen Saatboden zu beseitigen. Die
Geschichte mahnt uns.
Ulrich
Sander
Mit freundlicher Genehmigung von http://www.unsere-zeit.de/
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