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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

03.01.2017

Konserviertes Nazirecht

Studie belegt Kontinuitäten der NS-Zeit im bundesdeutschen Sozialrechtssystem

Nazirichter sind nach 1945 Teil des bundesdeutschen Justizsystems geblieben - mit ihren Ansprüchen, ihren Rechtsauffassungen und ihren Urteilen. Das zeigt eine Studie zur Sozialgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen, die im Neuen Deutschland vorgestellt wurde. Wir verbreiten den ND-Artikel dazu mit Genehmigung des Autors Uwe Kalbe und der Redaktion.

Von Uwe Kalbe

Deutschland verdankt seine Sozialgesetzgebung der Strategie Bismarcks im späten 19. Jahrhundert, nicht nur die Einigung des Reiches, sondern auch die soziale Befriedung des Landes »von oben« zu regeln. Wenigstens für Letzteres sind nicht zuletzt Linke ihm inzwischen einigermaßen dankbar. Dies und die Gewaltenteilung scheint bis heute bei aller Brüchigkeit einen Rest existenzieller Garantien zu verleihen. Jedoch bietet die Geschichte des Sozialrechts wie auch der Sozialgerichtsbarkeit in Deutschland genügend dunkle Seiten. Dazu zählt nicht etwa nur die Zeit zwischen 1933 und 1945 - in diesen Jahren wurden etwa politischen Gegnern sowie emigrierten oder deportierten Juden die Renten gestrichen, ganze Gruppen von Verfolgten wurden aus der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Auch die Zeit nach 1945 bietet Anlass für einen kritischen Blick, wie eine Untersuchung zur Sozialgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen belegt.

Ministerien, Landtage und selbst Institutionen wie der BND überbieten sich derzeit geradezu mit Forschungen, die der eigenen Geschichte in der Nazizeit nachgehen. Mit Ergebnissen, die eine jahrzehntelange Ignoranz von Schuld und Verantwortung belegen. Diesen Untersuchungen fügt die nun vorliegende Studie eine weitere Facette hinzu. Die umfangreiche Arbeit geht den personellen Kontinuitäten in den Berufsbiografien von Sozialrichtern nach dem Krieg auf den Grund. Das Ergebnis ist nicht überraschend, in seiner Beweisfülle trotzdem bemerkenswert.

In ihrem bekannten Braunbuch hatte die DDR schon Ende der 50er Jahre die Übernahme von hochrangigen Nazis in den Justizdienst der westdeutschen Behörden an Beispielen belegt, was in einigen Fällen auch zu ihrem freiwilligen oder erzwungenen Rücktritt führte. Marc von Miquel, Leiter der aktuellen Studie, kommt nun jedoch zum Schluss: Die Gesamtzahl der »belasteten« Richter in der nordrhein-westfälischen Sozialgerichtsbarkeit lag mit 29 Personen weitaus höher, als dies das Braunbuch der DDR zu den NS-»Blutrichtern« in Westdeutschland vermuten ließ: Dieses hatte lediglich sechs Personen benannt.

Zwölf leitende Richter, bis hin zum ersten Präsidenten des Landessozialgerichts, Erich Roehrbein, wiesen der Untersuchung zufolge eine belastete Vergangenheit auf. Als »belastet« klassifizierten die Historiker Richter, die »an NS-Unrecht in Justiz, Staat und Parteiorganisationen mitgewirkt haben, insbesondere an Handlungen, die Völkermord, Verfolgung politischer Gegner, Freiheitsentzug und schwere Repressionen gegen die ausländische Zivilbevölkerung umfassten«, wie de Miquel darlegt. Ermittelt wurden nach diesen Kriterien zehn ehemalige Richter an Sondergerichten und an Gerichten des NS- Besatzungsregimes, sieben Wehrmachtrichter und zwölf Personen, die im Dienst von Staat und NS-Organisationen standen.

Bis auf einen statistischen Restbestand sind damit zumindest für dieses Bundesland alle verfügbaren 169 Richterbiografien untersucht. Die Forscher berücksichtigten alle Jahrgänge bis zum Geburtsjahr 1924 und damit alle, die im sogenannten Dritten Reich alt genug für eine Karriere waren. Dass damit dennoch nur die Sozialgerichtsbarkeit und nur die eines Bundeslandes untersucht ist, auch wenn es sich um das bevölkerungsreichste in Deutschland handelt, zeigt, dass die Aufarbeitung zur westdeutschen Justiz insgesamt damit nur angerissen ist.

NRW-Justizminister Thomas Kutschaty hatte die Studie in der letzten Woche in Essen vorgestellt, die den Abschlussbericht eines von seinem Haus initiierten Forschungsprojekts darstellt; umgesetzt wurde sie von der Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger und der Forschungsstelle »Justiz und Nationalsozialismus« an der Justizakademie. Neben Historikern wirkten auch mehrere Richter der nordrhein-westfälischen Sozialgerichtsbarkeit mit. Einer von ihnen war Joachim Nieding, Präsident des Landessozialgerichts. Er empfindet die ermittelten personellen Kontinuitäten in der Richterschaft seines Bundeslandes nach eigenem Bekenntnis als »bedrückend«. Die Tatsache, dass in höchstem Maße belastete Richter eine neue juristische Aufgabe fanden, so konstatierte Minister Kutschaty, habe nicht ohne Auswirkungen auf die Rechtsprechung der Sozialgerichte bleiben können. Dass zudem Opfer des Regimes vor den Gerichten vielfach wieder auf die ehemaligen Täter trafen, lässt für die Betroffenen schwer verkraftbare Erlebnisse vermuten.

Es ging um Entschädigungen nach dem Bundesversorgungsgesetz, nicht zuletzt um die Kriegsopferversorgung auch von NS-Tätern. An den Sozialgerichten machten Rechtsstreitigkeiten zur Kriegsopferversorgung nach dem Krieg zeitweise fast die Hälfte der Spruchtätigkeit aus. Dabei sei es immer auch um die Frage gegangen, welche gesellschaftliche Anerkennung den körperlich und psychisch versehrten Kriegsopfern zusteht. Dass die Rechtsauffassung der Richter für diese Bewertung entscheidend war, liegt auf der Hand.

Ein Beispiel: Die Öffentlichkeit begegnete Deserteuren mit Misstrauen und Ablehnung, in der Justiz fand diese schreiende Ungerechtigkeit ihr normatives Fundament. Denn die Gerichtsbarkeit lehnte die Forderungen von Hinterbliebenen hingerichteter »Wehrkraftzersetzer« ab. Diese erhielten nach dem Bundesversorgungsgesetz in der Regel keine Bezüge, bis 1991 das Bundessozialgericht in einem Präzedenzurteil entschied, dass Todesurteile der Militärstrafjustiz während der NS-Zeit »offensichtliches Unrecht« seien und damit den Weg für Hinterbliebenenbezüge öffnete.

Thomas Kutschaty fasst im Vorwort zusammen: Es ergebe sich das Bild einer Justiz nach 1945, »der die Distanzierung von der NS-Vergangenheit erkennbar von außen aufgezwungen wurde und die auf eine weitgehende Reintegration auch schwerbelasteter Juristen drängte. Dies verband sich mit einer Rechtsprechung, die insbesondere im Bereich des Versorgungsrechts vielfach Apologien des NS-Unrechts betrieb und die in einem bisher kaum bekannten Maße Kriegsopfer von Leistungen ausschloss.«

Immer wieder holte die Vergangenheit die bundesdeutsche Sozialgerichtsbarkeit ein. So, als Ende der 90er Jahre die Versorgung baltischer SS-Veteranen nach dem Bundesversorgungsgesetz Schlagzeilen machte. Es kostete einige Jahre, bis eine Ausschlussklausel die Möglichkeit schuf, diese Praxis einzustellen. Wegen der hohen Hürden - darunter die, dass dem Betroffenen individuelle Kriegsverbrechen nachgewiesen werden müssen - hält sich die Zahl der Rentenempfänger, denen die Leistungen tatsächlich gestrichen wurden, allerdings in Grenzen.

Zwar findet Kutschaty, dass gerade diese Studie das Verständnis dafür stärken könne, worin die Errungenschaften des demokratischen Sozialstaats liegen. Doch kann zumindest deren politische Praxis den Eindruck nicht tilgen, dass die Tendenz zur Relativierung der Naziverbrechen ihre Ausläufer bis heute hat, wenn man die distanzierte Duldsamkeit gegenüber der eigenen Geschichte mit der öffentlich zelebrierten Hysterie vergleicht, die etwa der Fall des Berliner Staatssekretärs Andrej Holm hervorruft, aus dessen Verpflichtung für die Stasi als 18-Jähriger nach fast drei Jahrzehnten eine politische Affäre gemacht wird.

Auch der 1956 mit dem KPD-Verbot erfolgte Ausschluss von Kommunisten aus dem Bundesentschädigungsgesetz ist bis heute nicht aufgehoben; die Begründungen, mit denen entsprechende Anträge der Linkspartei im Bundestag abgelehnt wurden, bedienten sich ebenfalls der üblichen und totalitarismustheoretisch begründeten Gleichsetzung vermeintlicher Extremisten von Rechts und Links, was erneut nicht nur einer politischen Relativierung der Verbrechen in der Nazizeit gleichkommt, sondern auch einer juristischen - schließlich handelte es sich um die Entscheidung des Gesetzgebers.

In der NRW-Studie, die auch gesellschaftliche Debatten zum Thema nachzeichnet, wird auf ein Argument verwiesen, dass der Grünen-Rechtsexperte Volker Beck anführte, als es im Bundestag um die Renten für SS- Veteranen im Baltikum ging. Wieso der Vertrauensschutz bei Kriegsverbrechern und SS-Leuten höher zu bewerten sei als bei den Opfern des Nationalsozialismus, »vermag mir nicht einzuleuchten«, wird Beck zitiert. Die Studie verweist auf einen anderen möglichen Vergleich: das nach der Vereinigung beschlossene Entschädigungsrentengesetz, das die Zahlung von Pensionen für NS-Verfolgte der DDR regelte und gleichermaßen eine Ausschlussklausel enthielt - nämlich für ehemalige SED-Funktionäre.

Bis 1954 dauerte es übrigens, bis mit der Gründung des Bundessozialgerichts die bundesdeutsche Sozialgerichtsbarkeit endgültig etabliert war. Zuvor war 1945 bereits mit einer Bismarckschen Hinterlassenschaft gebrochen worden, die in NS-Zeiten keine rechtssystematischen Probleme hervorgerufen hatte. Seit 1884 hatte ein Reichsversicherungsamt nämlich exekutive wie judikative Aufgaben gleichermaßen wahrgenommen, war also soziale Vollzugsbehörde wie Instanz für rechtliche Widersprüche gewesen. Die Gewaltenteilung verlangte bei der Neuordnung der westdeutschen Justiz auch hier eine Korrektur. Zu einer von den Besatzungsmächten gewünschten Vereinheitlichung der Sozialgerichtsbarkeit kam es nicht. Über eine Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialrecht war bis zuletzt heftig gestritten worden.

Als am 11. September 1954 in Kassel das Bundessozialgericht gegründet wurde, stand ihm mit Joseph Schneider als Präsident ein Richter vor, der in der Nazizeit dem Reichsversicherungsamt angehört hatte und später bis zum Kriegsende Abteilungsleiter im Ministerium Wirtschaft und Arbeit gewesen war. 1950 war er als Regierungsdirektor ins Bonner Arbeitsministerium berufen worden, wo er bis zu seinem Wechsel an die Spitze des Bundessozialgerichts der Abteilung für Allgemeine Verwaltung und Rechtsangelegenheiten vorstand.

Mit freundlicher Genehmigung des Neuen Deutschland vom 27. Dezember 2016.

Studie im Auftrag des NRW-Justizministeriums, erarbeitet im Rahmen einer 22-bändigen Ausgabe (als bisher letzter Band) von der Dokumentations- und Forschungsstelle „Justiz und Nationalsozialismus“ an der Justizakademie des Landes NRW und der Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger.