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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

28.09.2016

„Diese Veränderung sollte uns wachrütteln“

Gedenken an die Opfer der Quandts

Gedenkrede von Dr. Axel Holz, Bundesvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten, gehalten am 10.09.2016 auf dem Friedhof in Mieste bei Gardelegen (Sachsen-Anhalt) anlässlich der Einweihung einer neuen Gedenkplatte vor ca. 100 Gästen, darunter drei Bürgermeister und die Mitglieder des Vereines zum Gedenken an die Verbrechen bei Mieste und in der Feldscheune Isenschnibbe sowie der Leiter der neuen vom Land eingerichteten Gedenkstätte in Isenschnibbe.

Dr. Axel Holz, Bundesvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten

Sehr geehrte Damen und Herren,

heute gedenken wir der ermordeten Häftlinge, die am 14. April 1945 und an den Vortagen am Bahnhof Mieste und in der Feldscheune Isenschnibbe ermordet wurden. Wir gedenken der Menschen, die auf dem Weg zu Feldscheune erschossen wurden oder bereits zuvor in den 54 Güterwaggons starben, die sich in Mieste an den zerstörten Bahnanlagen stauten. Darunter waren auch zahlreiche Häftlinge, die zuvor in einer Batteriefabrik des Unternehmers Quandt unter menschenunwürdigen Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Quandt entwickelte nach dem Krieg ein Firmenimperium, für das er auf der Basis der Sklavenarbeit der Häftlinge das Grundkapital gelegt hatte. 86 Opfer, die an der Bahnstrecke verscharrt wurden und 1.034 Opfer, die qualvoll in der Scheune verbrannten – das ist die Bilanz eines von tauenden Kriegsendphasenverbrechen, die Nazi-Deutschland zu verantworten hat und die von deutschen Truppen oder ihren Helfershelfern ausgeführt wurden.

Morgen ist der jährliche Tag der Erinnerung,  Mahnung und Begegnung für die Opfer des Nazi-Regimes, eines verbrecherischen Regimes, das Europa mit einen Eroberungs- und Vernichtungskrieg fast sechs Jahre überzogen hatte. 60 Millionen Opfer hatte dieser in der Menschheitsgeschichte einmalige Krieg gefordert, darunter Millionen Zivilisten in und außerhalb Deutschlands. Der Mord an sechs Millionen Juden steht als Symbol für fanatischen Rassismus und für die Millionen zivilen Opfer in ganz Europa und darüber hinaus.

Mahnen und Gedenken ist der Anlass, warum wir uns heute treffen. Die überlebenden Opfer des Nazi-Regimes und deren Angehörigen machten sich von 70 Jahren in der VVN den Schwur der befreiten Buchenwaldhäftlinge zum Leitspruch. “Die Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln, der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel”, heißt es in diesem Schwur. Sie wollten nicht ruhen, bis auch der letzte Schuldige sich vor der Weltgemeinschaft zu verantworten habe.

Im Nürnberger Prozess, zahlreichen Nachfolgeprozessen und im Auschwitz-Prozess wurden die Verbrechen der Nazis weltweit öffentlich. Auch die Verbrechen in der Feldscheune Isenschnibbe gingen als Beweismaterial mit in den Nürnberger Prozess ein. Wenige Kriegsverbrecher wurden in den ersten Prozessen rechtsstaatlich vor den Augen der Weltöffentlichkeit verurteilt, Tausende folgten in den Jahren darauf. Aber hunderttausende Täter wurden verschont, die Auseinandersetzung mit der Schuld und Mitschuld vieler Deutscher jahrzehntelang tabuisiert. Erst nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurden die Einseitigkeiten des Gedenksens in beiden Teilen Deutschlands und die Tabus in der Aufarbeitung des deutschen Faschismus langsam in Angriff genommen.

In diesem schweren Prozess, der in Ost und West sehr unterschiedlich in der Intensität und Tiefe begonnen hatte, können wir heute auf ein Land blicken, dass sich seiner Geschichte stellt und manch anderer Nation in dieser Frage ein Beispiel geben könnte. Ein Beispiel aber auch darin, was in der Gedenkarbeit immer noch vernachlässigt wird.  Erinnerung und Mahnung – selten werden diese Begriffe heute noch zusammen genannt. Dabei ist ganz klar, dass eine tiefgreifende Aufarbeitung der dunklen Kapitel in der eigenen Geschichte nur dann einen Sinn hat, wenn das Gedenken die Menschen heute und in Zukunft auch daran mahnt, wie Faschismus entstanden ist.  Wie konnte sich Faschismus in rasender Geschwindigkeit in großen Teilen der Bevölkerung festsetzen, wie konnten sich Menschen mit einer reichen humanistischen Tradition und Kultur von dieser ohne großen Widerstand abwenden?

Wir sind damit zugleich in der Gegenwart, denn menschenverachtende diskriminierende Einstellungen finden sich stabil in erheblichen Teilen der Bevölkerung, wie langjährige Studien der Friedrich-Ebertstiftung zeigen. Damit müssen wir uns als Gesellschaft auseinandersetzen, das ist der Sinn der Mahnung an die Nazi-Diktatur.

Nach der Studie „Die fragile Mitte“ ist in diesem Jahr die Studie „Die enthemmte Mitte“ veröffentlicht worden. In gewisser Weise hatte die Leipziger Studie bereits von zwei Jahren die rechtspopulistische Anfälligkeit großer Bevölkerungsteile vorausgesagt.

Die neue Studie zeigt nun keine wesentliche Zunahme rechtsextremer Einstellungen. Dazu gehören die Unterstützung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Sozialdarwinismus und die Verharmlosung des NS-Regimes. Die meisten Einstellungskriterien haben im einstelligen Bereich eine geringe Verbreitung, die Ausländerfeindlichkeit ist aber mit 22 Prozent ähnlich hoch wie der Chauvinismus mit 17 Prozent. Bezüglich des Vorurteils, dass Ausländer nur hierher kämen, um den Sozialstaat auszunützen, stimmen sogar 40 Prozent der Bevölkerung im Osten und 30 Prozent im Westen zu.

In den vergangenen Jahren wählten Menschen mit rechtsextremen Einstellungen überwiegend die großen Volksparteien CDU und SPD, selten die faschistische NPD. 2014 hatten Forscher die AfD als neuen politischen Anker für rechtsextremes Potential gesehen. Tatsächlich ist diese Prognose eingetreten. Besonders bei Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus findet sich eine große Anfälligkeit in der Wählerschaft der AfD. Das zeigt sich besonders bei der Betrachtung der Islamfeindschaft, die sich in großen Teilen der Bevölkerung findet, bei AfD-Wählern aber bei 86 Prozent liegt.

Wer Bücher verbrennt, verbrennt am Ende auch Menschen, hatte einst Heinrich Heine gewarnt. Heute brennen nicht Synagogen, wie vor fast 80 Jahren, sondern Flüchtlingsheime. Nur ein Bruchteil dieser Verbrechen wurde bisher aufgeklärt. Deren Täter kommen, wie einst, aus allen Schichten der Bevölkerung.

Nach dem Einzug der rechtspopulistischen AfD in den neunten Landtag müssen wir uns fragen, ob die Saat von neuem Rassismus, von Nationalismus und Chauvinismus, von Liebäugeln mit einer Diktatur, von antisemitischen und antiislamischen Vorurteilen wieder aufgeht.

Wir müssen uns auch fragen, warum von 94% der Bevölkerung, die in der Demokratie eine gute Idee sehen, nur 50 % der Menschen sie in Deutschland gut umgesetzt sehen.

Deutschland verändert sich gerade. Diese Veränderung sollte uns wachrütteln.