21.09.2016
Widerstandskämpfer
aus Russland in Deutschland nicht anerkannt
Der
Opfer der Leningrader Blockade vor 75 Jahren wurde in Berlin gedacht
In Berlin fand eine
Veranstaltung zur Erinnerung an die Opfer der Leningrader
Blockade statt, die rund einer Million Menschen das Leben kostete.
In 871 Tagen hatte Leningrad der deutschen Wehrmacht
widerstanden. Dieses unermessliche Leid wie auch der
große Widerstandswille der Menschen dort spielt im
Bewusstsein der heutigen Bundesrepublik kaum eine Rolle. In Deutschland
leben derzeit 300 Menschen, die die Blockade Leningrads überlebten.
Der deutsche Staat rechnet die Bezüge, die diesen Menschen
der russische Staat wegen ihrer Entbehrungen zahlt, aus der
Rente heraus. Doch seit Jahren zahlt die BRD Renten an
lettische SS-Leute und Kriegsverbrecher mit der von Hitler
verliehenen deutschen Staatsangehörigkeit aus.
Über diesen Skandal berichtete am 8. September 2016
die Zeitung „Neues Deutschland“. Hier der
Wortlaut:
Die Stiftung
Erinnerung Verantwortung Zukunft gedachte der Opfer der Leningrader
Blockade vor 75 Jahren
Helden in
Russland, in Deutschland nicht anerkannt
Von Karlen Vesper
Es war mehr als eine Geste. Sie kam von Herzen:
die Schweigeminute für die Opfer der deutsch-faschistischen
Blockade von Leningrad. Sie wurde begleitet von leisen Tönen
aus Dimitri Schostakowitschs 7. Sinfonie, genannt die Leningrader
Sinfonie.
Andreas Eberhardt, Vorstandsvorsitzender der
Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ), sprach zum Auftakt
einer Veranstaltung im Domizil seiner Institution in Berlin von einer
nach langen Jahren endlich fest in der deutschen Zivilgesellschaft
verankerten Erinnerungskultur. Der im westfälischen
Münster promovierte Politikwissenschaftler konzedierte indes
auch: »Der Blick nach Osten fällt uns aber bis heute
noch sehr schwer.« Und er wusste Unerhörtes
anzumerken. Am Tag nach der Rede des russischen Schriftstellers Daniil
Granin am 27. Januar 2014 im Deutschen Bundestag, der an die Leiden der
Leningrader in den Jahren 1941 bis 1944 erinnerte, kritisierte der
Berliner »Tagesspiegel«, das Gedenken an den
Holocaust sei hierdurch verwässert worden. Dummheit oder
Böswilligkeit? Gilt doch der 27. Januar hierzulande seit
nunmehr zehn Jahren als ein Tag des Gedenkens aller Opfer des
»Nationalsozialismus«. Eberhardt bedauerte zudem,
dass trotz der Wehrmachtsausstellung und in den letzten Jahren in der
Bundesrepublik erschienenen Publikationen über den
Vernichtungskrieg gegen die UdSSR die 27 Millionen sowjetischen Opfer,
in der Mehrzahl Zivilisten, im öffentlichen Bewusstsein der
Deutschen nach wie vor kaum präsent sind.
Tatsächlich klafften Welten in
Wahrnehmung und Wissen zwischen beiden deutschen Staaten und
Gesellschaften. In der DDR kannten schon Kinder die Geschichte von
Tanja, die heute wieder vergessen ist. Ihr nur aus wenigen Seiten
bestehendes Tagebuch berührte uns. Der erste Eintrag des
Leningrader Mädchens vermerkte: »Shenja starb am 28.
Dezember 1941, um 12 Uhr.« Ebenso akribisch notierte sie den
Tod weiterer Familienangehöriger: Großmutter, Onkel
Wasja und Onkel Ljoscha, Mutter … Zum Schluss
heißt es, alle Sawitsches seien nunmehr tot:
»Umerli wsje. Ostala odna Tanja.« - »Alle
sind gestorben. Tanja ist allein.«
Tanja Sawitschewa wurde nur 14 Jahre alt. Sie
erlag den Entbehrungen und Strapazen der Blockade. Warum wird an
deutschen Schulen über ihr Schicksal nicht mehr gesprochen? So
verdienstvoll eine Veranstaltung wie die der Stiftung EVZ am Vorabend
des 75. Jahrestages der deutschen Einkesselung von Leningrad ist
– hier trafen sich »nur« jene, die
bereits wissend sind und ihre Kenntnisse mit Erfahrungen aus dem Munde
von Zeitzeugen vertiefen wollten.
Eine Million Leningrader starben während
der Blockade. Schätzungsweise. Ungezählt sind die
Zigtausenden vor den anrückenden Deutschen in die Stadt
geflohenen, unregistrierten Menschen. Unbekannt die Zahl der nach der
Evakuierung und Befreiung noch an den Folgen von Auszehrung und
Krankheiten sterbenden Frauen, Kindern und Männern. Die
Historikerin Andrea Zemskov-Züge informierte: Erhielten zu
Beginn der Blockade Fabrikarbeiter noch 600 Gramm Brot, Frauen und
Kinder 300, reduzierten sich die Rationen bald auf 250 und 125 Gramm.
»Dystrophie war die häufigste Todesursache, die
Menschen brachen auf der Straße zusammen, erschöpft
vom Stress der Beschießung, Kälte und
Hunger.«
Am 4. September 1941 hatte die deutsche Artillerie
begonnen, die Stadt an der Newa unter Beschuss zu nehmen, manche Tage
belferten sie 18 Stunden lang. Am 8. September war der Ring
geschlossen. Hitler und die Wehrmachtsführung hatten
beschlossen: Die Stadt, die den Namen des Begründers der
Sowjetunion trug, sollte ausgehungert werden, es werde keine
Kapitulation angenommen.
Zur Versorgung der Stadt blieb nur der Ladogasee,
ab Mitte November vereist. »Straße des
Lebens« nannten die Leningrader die Eispiste, über
die täglich 4000 Kraftfahrzeuge rollten, Frauen und Kinder
hinaus- und Lebensmittel hineinbringend. Im Januar ´43 begann
die Operation Iskra der Roten Armee, am 27. Januar ´44 war
die Stadt befreit – nach 871 Tagen unermesslichen Leidens.
Irina Burghardt, die vier Jahre alt war, als die
Blockade begann (und trotz schlimmer Erfahrungen 1968 einen Deutschen
heiratete, »aus der DDR«), berichtete über
den Hungerwinter 1941/42. Ihr Überleben verdanke sich dem
Geschick des Vaters, der die silberne Taschenuhr des
Großvaters rechtzeitig gegen einen Sack Kartoffeln umgerubelt
hatte. Und dank der Reizwäsche, die die Mutter von deren
Schwester dereinst geschenkt bekommen hatte. Als alles auf dem
Schwarzmarkt eingetauscht war, wurde aus Holzleim und Rindsleder Suppe
gekocht. Ab April 1942, erzählte die Zeitzeugin, habe es im
Detski Sad (so die wörtliche Übersetzung der
deutschen Erfindung »Kindergarten«) immerhin drei
Mal am Tag eine dünne Milchsuppe gegeben.
Irina und ihre Mutter hatten Glück, sie
kamen auf eine der heiß begehrten Evakuierungslisten und
strandeten im hunderte Kilometer entfernten Oblast Jaroslawl. Der
kriegsuntaugliche Vater blieb in Leningrad, arbeitete als Buchgrafiker
und half in einem Hospital aus. »Seine Beobachtungen bei
Operationen brachte er zu Papier. Sein >Handbuch des
Heilens< half vielen, auch an der Front«, berichtet
Irina Burghardt stolz, die seinerzeit mit dem Vater in brieflichem
Kontakt blieb. »Die Post funktionierte hervorragend, besser
als heute.«
Ein Trauma, das Irina Burghardt bis heute nicht
loslässt, ist der Tod des Bruders ihrer Mutter. »Er
war 26, als er im Februar 1942 zu uns kam. Sein junges Herz wollte
schlagen, er wollte leben, aber er war schon zu schwach und starb nach
einer Woche. Sein Leichnam lag einige Tage in unserem Flur, fest
eingewickelt in Tüchern. Wenn ich über den Flur lief,
hatte ich Angst, die leblose, dunkle Gestalt aus Versehen zu
berühren.«
Irina Burghardt, die in der DDR an der
Wissenschaftsakademie arbeitete, war 1988 Mitbegründerin der
Gruppe Dialog, einer Vereinigung von Veteranen, die heute von der
Stiftung EVZ unterstützt wird. Wie Projektleiterin Natalie
Roesler mitteilte, leben in Berlin noch etwa 60
»Blokadniki«, wie sich die Kinder der Leningrader
Blockade nennen, 300 in ganz Deutschland. »In Russland werden
sie als Helden des Krieges geehrte, in Deutschland sind sie als Opfer
des Holocaust nicht anerkannt.« Die Bezüge, die sie
vom russischen Staat wegen des durch Deutsche erlittenen Grauens
beziehen, rechnet der deutsche Staat ihnen wieder aus den Renten raus.
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