15.08.2016
Der verordnete Atem
Ein
Text von Hermann Kant
Wir trauern gemeinsam mit
unzähligen Antifaschistinnen und Antifaschisten um Hermann
Kant, der jetzt im Alter von 90 Jahren gestorben ist. Der
größte DDR-Schriftsteller seit Bertolt Brecht hat
uns noch vor wenigen Tagen erlaubt, den folgenden Text auf unserer
Website abzudrucken.
Hermann
Kant Der verordnete Atem
Als das neue Jahr begann, tat ich, was man tut,
wenn neue Jahre beginnen. Ich nahm mir vor, Bisheriges nicht
fortzusetzen, sondern mich zu ändern. Weil aber schier
unübersehbar war, was der Wandlung harrte, suchte ich, Muster
ins Geröll zu bringen, nach einem System, und entschied mich
für jene hergebrachte Regulierung, die sich aus dem Alphabet
ergibt.
Die Folge war, dass ich gleich auf das Wort
Antifaschismus stieß, von dem man mir seit längerem
schon sagte, es bezeichne einen Wert, in dessen Besitz ich auf dem
Verordnungsweg gekommen sei. Im Zuge staatlicher Verordnungen. Als
Wirkung eines Staates, den es im Grunde nicht hätte geben
dürfen.
Gewillt, mich von Lasten zu befreien, die mir
aufgezwungen worden waren, fasste ich meinen Antifaschismus
prüfend ins Auge, und sah sehr bald, wie recht man
über ihn sprach. Es handelte sich tatsächlich um eine
verordnete Geisteshaltung. Wenngleich die DDR nicht allein die
Verordnerin gewesen ist. Vor ihr waren andere tätig, uns
Antifaschismus aufzuzwingen. Als tätigsten Haupttäter
machte ich den Faschismus aus.
Die zweisilbige Vorsilbe Anti- ist bekanntlich das
griechische Wort für das deutsche Wort Gegen-, und der
Gebrauch beider setzt voraus, dass etwas da sei, zu dem sich etwas
anderes konträr verhält. Mithin darf der
Antifaschismus schon aus Gründen der sprachlichen Logik vom
Faschismus sagen: Er hat aber angefangen! Auch wenn man es nicht in
diesem oftmals kindischen Sinne meint, hat er angefangen. In der
Geschichte, die ja aus Abfolgen und Folgen besteht, war der Faschismus
einfach vor dem Antifaschismus da.
Wer nach Verdiensten sucht, hier wäre
eines: Der Faschismus hat das historische Verdienst am Entstehen des
Antifaschismus. Der eine hat den anderen geradezu herbeigezwungen. Um
nicht zu sagen, verordnet. Da es zu den Zwängen der nunmehr
freien Welt gehört, dass man von DDR nicht reden darf, ohne zu
nennen, was alles sie entgegen ihren Behauptungen gewesen oder nicht
gewesen sei, will auch ich ihr am Zeuge flicken: Sie hat den
Antifaschismus weder erfunden, noch war sie dessen Erstverordnerin. Was
sich auch aus dem Umstand ergibt, dass sie unter antifaschistischen
Vorzeichen errichtet wurde. Unter Zeichen, die bereits vorhanden waren.
Danach erst konnte sie besagte Haltung mittels staatlicher Gewalt unter
die Leute bringen. Man könnte meinen, sie sei ohne den
Faschismus gar nicht ausgekommen. Und wollte man diesen schelten,
ließe sich zeigen, wie schuld am Zustandekommen der DDR er
doch war. Da hat man die viel berufene Komplizenschaft.
Ganz unvorbereitet freilich trafen uns die Dekrete
des Staates nicht, mit denen er seine Doktrin zu Umlauf und Wirkung
brachte. Denn Wörter und Bilder, Erfahrungen und Ahnungen
hatten sich unserer schon vorher angenommen, sprangen mit uns um,
zwangen uns, Farbe zu bekennen, pressten uns zu Einsichten hin und
ließen uns kaum eine Wahl.
Wörter wie Galgen und Ghetto, Fallbeil,
Rampe und Block; Orte wie Buchenwald, Moabit und Sachsenhausen, wie
Birkenau und Theresienstadt; Namen wie Eichmann, Mengele,
Höß und Freisler, ein Name wie Himmler, ein Name wie
Hitler; Plätze wie Lidice, Babi Jar und Oradour oder wie
Stalingrad, Leningrad, Coventry und Warschau oder wie Monte Cassino, El
Alamein, Kursker Bogen und Omaha Beach; Vokabeln wie Arisierung und
Gasmaske und Gaskammer und Marschbefehl und Rassenschande und
Fliegeralarm und Euthanasie und Fremdarbeiter und KAZETT; Partizipien
wie verschleppt, vermisst, verhungert, vergast,
verbotenverbotenverboten – all dies hat so sehr ein Geschrei
gemacht, dass es nicht aushaltbar war, und es empfahl uns den
Antifaschismus auf eine Weise, die man, wenn nicht Nötigung,
so doch Verordnung heißen könnte.
Abgefeimt, wie man sie kennt, sorgten Inhaber der
Macht, dass selbst an unschuldigsten Orten kein Entkommen war vor dem,
was Schuld geheißen wurde – Kindergärten
benannte man nach einer wohl hingerichteten Frau Niederkirchner,
Schulen nach einem wohl geköpften Herrn Guddorf, und wie
freundlich krumm und lindenbesäumt ein
Kleinstadtgässchen auch sein mochte – im Staate DDR
war es vor der Gefahr, eines Tages per Verwaltungsakt zur
Geschwister-Scholl-Straße ernannt zu werden, niemals sicher.
Und nie ganz sicher blieb unsereins vor der verordnenden Kraft von
Bildern, Tönen und Berichten.
Mich zum Beispiel haben ein paar Fotos geradezu in
den Antifaschismus hineingeprügelt. Jenes etwa, auf dem ein
Kerl mit Stahlhelm und Karabiner einen Zehnjährigen
über die brennende Straße treibt – der
Junge hebt die Hände wie ein Alter. Oder die Bilder der
Frauen, die nackt sind und gleich tot sein werden. Oder der Mann am
Rande der Grube, auf dessen dürren Nacken ein
gleichmütiger Henker vor uniformiertem Publikum zielt. Oder
diese ganz anderen Blicke aus Waggonluken, von Barackenpritschen und
durch Lagerzäune. Oder Ossietzky, den schwarzgewandete
Herablassung beglotzt. Thälmann beim Hofgang. Witzleben, der
sich vorm Volksgerichtshof an seine Kleider klammert. Oder vom
Volkssturm der weinende Bengel. Oder der Knabe, der seinen
ausgemergelten Arm zeigt, auf dem die Nummer kaum Platz gefunden hat.
Des Reichsministers vergiftete Kinder, ja doch, auch die. Oder das Kind
Anne Frank.
Gewalttätige Bilder allesamt, vor denen
ich Rettung im Antifaschismus fand. Aber vielleicht war ich zu
empfindlich. Ließ mich beeindrucken von Büchern, die
„Nackt unter Wölfen“ hießen oder
„Das siebte Kreuz“, von Filmen mit harmlosen Titeln
wie „Die Verlobte“ und „Mama, ich
lebe“. Ließ mich bedrängen vom
rücksichtslosen Cremer und vom einschneidenden Busch. Oder von
Brecht & Co. Ließ mir deren Antifaschismus andrehen
und übersah, dass Verlage und Plattenpressen, Filmfabriken wie
Bühnenbretter dem Staat gehörten und somit nur Mittel
zu dessen antifaschistischen Zwecken waren.
Auch ist in Anschlag zu bringen, dass dieser Staat
beim Verordnen auf eine gewisse Stimmigkeit zwischen seinen
Behauptungen und meinem Erleben achtete. Den Krieg beschrieb er, wie
ich ihn kannte. Und was er vom faschistischen Frieden wusste, wusste
ich längst. Mir hat der Staub von Warschaus Ghetto bis an die
Knöchel gereicht. Ich zog in Hütten ein, deren
Vorbewohner nach Majdanek verzogen waren. Weil es sich ans ganze
Deutschland nicht halten konnte, hielt sich Polen an mich als einen
Teil davon. Da musste mir später das halbe Deutschland nicht
mit Verordnungen kommen. Da soll man mir von verordnetem Antifaschismus
sowenig wie von verordnetem Atmen reden. Oder von unserer Geschichte,
wie mancher sie möchte. Sie fand als Antwort auf Geschichte
statt und war schon deshalb nicht gänzlich ohne Sinn.
Erstveröffentlichung:
Neues Deutschland, 18.01.1993, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung
des Autors.
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