04.07.2016
Erinnerung an Ruth Rewald – und Ehrung für Dirk Krüger
Die im KZ Auschwitz
ermordete Jüdin, die deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth
Rewald (1906-1942) und ihre Tochter Anja (1937-1944) lebten im Krieg
versteckt in der französischen Gemeinde Les Rosiers-sur-Loire
Unser Wuppertaler Kamerad Dr. Dirk
Krüger hat Manuskripte von Ruth Rewald gefunden, und
veröffentlicht und er hat über ihr Leben geforscht. Er wurde
nun mit der feierlichen Enthüllung einer Gedenktafel und mit einer
Ausstellung in Les Rosiers-sur-Loire geehrt. Er bekam eine
Ehrenmedaille des Bürgermeisters und des Stadtrates verliehen. Im
Roman „Exil der frechen Frauen“ von Robert Cohen wird
Dirk Krüger als einer jener Menschen genannt, „an denen die
Absicht der Nazis, selbst noch die Erinnerung an die Opfer aus dem
Gedächtnis der Menschheit auszulöschen, scheiterten“.
In einem ausführlichen Interview erläuterte
Dirk Krüger seine Forschungsarbeit und die Erinnerungsarbeit der
Gemeinde Les Rosiers-sur-Loire. Hier der Wortlaut:
Hommage à Ruth Rewald und eine Ehrenmedaille der Stadt Les Rosiers für Dirk Krüger
02.04.2016:
Dirk Krüger, Literaturwissenschaftler aus Wuppertal, hat 1990
über die die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin
Ruth Rewald promoviert. Ruth Rewald floh mit ihrem Mann Hans Schaul
nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 nach Paris. 1940
floh sie mit ihrer Familie vor den Nazis aus Paris in das Dorf Les
Rosiers-sur-Loire, wo sie am 17. Juli 1942 von der Gestapo verhaftet
und nach Auschwitz deportiert wurde. Im März dieses Jahres wurde
in Rosiers eine Ausstellung zu Ruth Rewald gezeigt und Dirk Krüger
von der Stadt mit der Ehrenmedaille (MEDAILLE D’HONNEUR) "Avec
les compliments du Maire et du Conseil Municipal“ ausgezeichnet.
Wie es dazu kam, erzählt Dirk Krüger im folgenden Interview.
Frage: Wie kam es dazu? Gibt es eine Vorgeschichte?
Dirk Krüger: Ja, eine längere. Im Jahre 1984
habe ich mit Prof. Thomas Koebner, dem Lehrstuhlinhaber für
Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Wuppertal,
eine Dissertation zur Literatur zum Spanischen Bürgerkrieg
besprochen. Wir einigten uns darauf, nicht die bekannte, umfangreiche
Literatur neu zu bewerten und zu interpretieren. Mein Ziel war es, nach
wenig oder gar nicht bekannten Arbeiten von solchen Exil-Autoren zu
forschen, die in der Wahrnehmung nicht mit der Literatur zum Spanischen
Bürgerkrieg in Verbindung gebracht wurden.
Frage: Können sie einige Namen nennen?
Dirk Krüger: Ja. Da war Paul Celan mit dem Gedicht
„Schibboleth“, René Schickeles „Die
Flaschenpost“, Remarques „Arc de Triomphe“ Ivan Golls
„Jean sans terre“ (dt. Johann ohne Land) und Gustav Reglers
„Juanita“. Ich habe auch die Werke von Armin T. Wegner und
Else Lasker-Schüler daraufhin untersucht, aber bei ihnen keine
literarische Äußerung zum Spanischen Bürgerkrieg
gefunden. Im Gegensatz dazu haben sich die beiden Wuppertaler
Arbeiterschriftsteller Peter Kast und Walter Gorrish in ihrem
literarischen Werk sehr umfangreich und intensiv zum Spanischen
Bürgerkrieg geäußert.
Frage: Sind sie in diesem Zusammenhang auf Ruth Rewald gestoßen?
Dirk Krüger: Ja. Ich bin beim Studium des Bandes 6
, „Exil in den Niederlanden und in Spanien“ des auf sieben
Bänden angelegten Werks „Kunst und Literatur im
antifaschistischen Exil 1933-1945“ in einer Fußnote auf sie
gestoßen.
Frage: Was genau haben sie erfahren?
Dirk Krüger: Dass ihr Nachlass im Zentralen
Staatsarchiv der DDR, in Potsdam, archiviert sei und dass sich darin
das unveröffentlichte Typoskript zu dem Kinder- und Jugendbuch
„Vier spanischen Jungen“ befinde.
Frage: Wie ging das weiter?
Dirk Krüger: Nun, ich habe 1986 die Erlaubnis
bekommen, den Nachlass in Potsdam einzusehen. Ich habe dann mehrere
Wochen im Archiv gearbeitet. Viele Teile musste ich handschriftlich
erfassen, weil damals die Kopiermöglichkeiten noch begrenzt waren.
Vom Typoskript und anderen Original-Dokumenten wurden Filme gemacht und
davon dann Kopien gezogen. Sie wurden dann Ende 1987 die Grundlage
für die Veröffentlichung des Buches „Vier spanische
Jungen“ in einem Kölner Verlag.
Frage: Gab es keine Schwierigkeiten?
Dirk Krüger: Nein. Ich habe alle nur mögliche
Unterstützung erfahren. Ich wurde auch darüber informiert,
wie der Nachlass nach Potsdam gekommen ist.
Frage: Und wie ist er?
Dirk Krüger: Das ist eine etwas längere
Geschichte. Ruth Rewald und ihr Mann, der jüdische Jurist, Hans
Schaul, sind 1933 vor den Nazis nach Paris geflohen. Dort hat sie mit
zahlreichen Gelegenheitsarbeiten die Familie „über Wasser
gehalten“. Und sie hat zwei Kinder- und Jugendbücher
geschrieben: „Janko – Der Junge aus Mexiko“ und
„Tsao und Jing Ling – Kinderleben in China“. Das hat
damals in der Exilpresse großes Aufsehen erregt. In der AIZ wurde
gar ein ganzes Kapitel aus dem „Janko“ abgedruckt.
Im Herbst 1936 ist Hans Schaul nach Spanien gegangen und
hat dort praktisch bis zum Ende des Krieges in den Internationalen
Brigaden gekämpft.
Frage: Und was machte seine Frau?
Dirk Krüger: Ruth Rewald blieb zunächst in Paris, wo am 16. Mai 1937 die Tochter Anja geboren wurde.
Als ihr Mann in einem Brief von den vier spanischen
Jungen berichtete, die am Nachmittag des 16. Juni 1937 aus der
Bergarbeiterstadt Penarroya zum „Bataillon der 21 Nationen -
Tschapaiew“ übergelaufen waren, wurde unter anderem von
Gustav Regler beschlossen, Ruth Rewald nach Spanien einzuladen.
Verbunden war das mit der klaren Absicht, dass sie ein Kinder- und
Jugendbuch dazu verfasst.
Frage: Wie hat sie reagiert?
Dirk Krüger: Sie hat, nachdem sie eine Betreuung
für ihr Kind gefunden hatte, dann um die Jahreswende 1937/38 drei
Monate in dem Kinderheim „Ernst Thälmann“, dass die
11. Internationale Brigade in einem verlassenen Schloss in der
Nähe von Madrid eingerichtet hatte, zusammen mit den spanischen
Kindern gewohnt und gelebt.
Nach ihrer Rückkehr hat sie das Buch „Vier
spanische Jungen“ geschrieben, Vorträge gehalten und
zahlreiche Reportagen verfasst, die teilweise in Zeitungen in der
Schweiz veröffentlicht wurden – und etwas Geld einbrachten.
Für das Buch aber fand sich kein Verleger.
Frage: Was passierte dann?
Dirk Krüger: Im Mai 1940 überfiel die deutsche
Wehrmacht Frankreich. Bereits am 14. Juni 1940 erfolgte die kampflose
Einnahme von Paris. Frankreich zerfiel in zwei Teile: Es entstand eine
„besetzte Zone“ und ein französische Restgebiet mit
dem Regierungssitz im Kurort Vichy und mit General Petain an der Spitze.
Hans Schaul, der aus Spanien zurückgekehrt war,
wurde zunächst im Lager Le Vernet und dann in dem Lager Djelfa in
Algerien interniert.
Er wurde von dort in die Sowjetunion eingeladen. Damit konnte er sein Leben retten.
Ruth
Rewald packte im Mai 1940 ihr gesamtes geschriebenes und gedrucktes Hab
und Gut in einen Koffer (deutsche Frauen mit Kindern waren noch von der
Internierung in Lagern ausgenommen) und floh zunächst nach Saint
Nazaire. Als die Stadt von den Nazis zu einem militärischen
Sperrgebiet erklärt wurde, floh sie weiter die Loire entlang und
gelangte am 29. November 1940 nach Les Rosiers-sur-Loire. Sie wurde
dort gut aufgenommen, bekam eine kleine Wohnung und konnte im Garten
Obst und Gemüse anpflanzen und damit zur
„Selbstversorgung“ beitragen. Ihre Tochter konnte ohne
Probleme die Schule besuchen.
Den zahlreichen Karten, die sie in dieser Zeit an ihren
Mann richtete und die dieser retten konnte, konnte ich viele
Informationen über ihre Lebensumstände und etliche Kommentare
und politische Einschätzungen, besonders nach dem Überfall
der Wehrmacht auf die Sowjetunion, entnehmen.
Frage: Können sie ein paar konkrete Fakten nennen?
Dirk Krüger: Ja, gerne. Sie waren, so würde
man es heute ausdrücken, außerordentlich beliebt und gut
integriert. Davon zeugen z.B. die Schulfeste an denen sich Anja und
ihre Mutter aktiv beteiligten und die Geburtstage Anjas, zu denen immer
viele Kinder kamen. In den Karten gibt es keinen Hinweis darauf, ob sie
sich schriftstellerisch betätigt hat. Auch im Nachlass habe ich
nichts dazu gefunden.
Am 22. Juni 1942 schreibt sie an ihren Mann:
„Ansonsten trage ich jetzt das Emblem meiner
‚Rasse‘“. Und sie fährt fort: „Das hat mir
viel Sympathie eingebracht und zwei Paar Schuhe in keinem schlechten
Zustand. Du weißt aber, dass ich mich darüber nicht
amüsiere.“
Ihre letzte Karte trägt das Datum 17. Juli 1942 und
das Poststempeldatum 18. Juli 1942. Sie schreibt: „Mein lieber
Hans! Es ist soweit. Ich fahre zur Erntearbeit, ich weiß noch
nicht wo…Ich glaube nicht, daß du so bald Nachricht
bekommst…Außer der Trennung von Anja wird mir nichts etwas
ausmachen…Dir alles Gute! Ruth“
Frage: Was geschah im Juli 1942 genau?
Dirk Krüger: Les Rosiers lag in der „ZONE
D’OCCUPATION ALLEMANDE“ in der besetzten Zone. Ruth Rewald
wurde am 17. Juli 1940 im Rahmen der Großrazzia „Rafle du
Vel‘ d’Hiv“, die Teil der „Operation vent
printanier“ und Teil der „Operation écume de
mer“ zur „ehebaldigsten restlosen Freimachung Frankreichs
von Juden“ von der Gestapo mit Unterstützung der
französischen Polizei verhaftet und ins Gefängnis von Angers
gebracht.
Am 18. und 19. Juli wurden von den Behörden die
Deportationslisten erstellt. Darauf waren die Namen von 824
Juden, darunter 430 Frauen, registriert. Ruth Rewald bekam die Nummer
68.
Am 20. Juli wurden die Gefangenen dann in Viehwaggons gesperrt und bekamen „Verpflegung für 14 Tage“.
Um 21.35 Uhr, verließ der Zug den Bahnhof von Angers st. Laud. Sein Ziel: Das KZ Auschwitz.
Ruth Rewald wurde nur 36 Jahre alt. Ich habe mich
oft gefragt, was sie nicht alles hätte schaffen können, wenn
sie überlebt hätte. Ihre Bücher waren Beweise ihrer
großartigen Fähigkeit Bücher für Kinder und
Jugendliche zuschreiben.
Frage: Was geschah mit Anja und dem Koffer mit ihrem Hab und Gut?
Dirk Krüger: Das Mädchen wurde zunächst von der Nachbarin und später von der Lehrerin betreut.
Der Koffer mit all ihren Unterlagen wurde beschlagnahmt
und in das Gestapo-Hauptquartier nach Berlin gebracht. Dort wurde er
nach der Befreiung Berlins von den Soldaten der Roten Armee gefunden
und nach Moskau gebracht.
1957 wurde er dann in einem „Staatsakt“ der
DDR übergeben, die ihn im Zentralen Staatsarchiv in Potsdam
archivierte.
Er schlummerte danach unentdeckt und unbeachtet vor sich
hin, selbst ihr Mann wusste davon nichts, und wurde erst 1979 durch die
Wissenschaftlerin Silvia Schlenstedt entdeckt. Und so kam es 1981 zu
dem Hinweis in dem schon erwähnten Buch.
Frage: War das Zentrale Staatsarchiv die einzige Quelle für ihre Forschungen?
Dirk Krüger: Nein. Ich war zunächst einfach
nur überwältigt. Hier war eine vollständig in
Vergessenheit geratene Kinder- und Jugendbuchautorin wieder
„auferstanden“!
Die Nazis wollten die Erinnerung an sie für immer
auslöschen. Mit ihrem Hang zur Bürokratie durchkreuzten sie
selbst ihre Absicht. Ich wollte unbedingt weiter forschen. Ich wollte
alles wissen, was mit diesen Menschen geschehen war.
Frage: Wie sollte das geschehen? Was wollten sie weiter unternehmen?
Dirk Krüger: Ich hatte inzwischen erfahren, das ihr
Ehemann, Hans Schaul, noch in der DDR lebte. Ich bekam die Gelegenheit
mit ihm und seiner zweiten Ehefrau, Dora, lange Gespräche zu
führen. Hans hat mir dabei viele Informationen über seine
Rettung, über ihre gemeinsame Zeit in Paris gegeben, über
seine Zeit in Spanien, Einzelheiten zu den „Vier spanischen
Jungen“, die er fotografiert hatte, über die
weltanschaulichen Positionen seiner Frau. Und er hat mir alle 42 Karten
gegeben, die er in der Zeit vom April 1941 bis Juli 1942 von Ruth
bekommen hat – darunter auch die letzte vom 17. Juli 1942. Es ist
das letzte Lebenszeichen von Ruth Rewald.
Frage: Haben sie nicht auch in Les Rosiers geforscht?
Dirk Krüger: Ja. Es war ein emotional sehr
bewegender Besuch. Ich war im Sommer 1988 in Les Rosiers. Im Rathaus
zeigte man mir das noch erhaltene große Buch mit den
Registrierungen, welche Ausländer, wann in Les Rosiers angekommen
sind. Darin fand ich den genauen Ankunftstag von Ruth Rewald und ihrer
Tochter Anja – es war der 29. November 1940.
Ich besuchte auch die Tochter des damaligen
Bürgermeisters, Josette Geffard, die als 14jährige die Zeit
erlebt hatte und viele Einzelheiten berichten konnte. Auch übergab
sie mir etliche Fotos von Anja, mit der sie befreundet war. Von ihr
habe ich viel über das Leben in der Zeit der Besetzung erfahren.
Sie hat mir das Haus gezeigt in dem Ruth und ihre Tochter gewohnt haben
und die Schule in die Anja gegangen ist. Ganz wichtig war, dass sie mir
die Adresse der Lehrerin von Anja geben konnte. Dadurch konnte ich ihr
einen Brief mit vielen Fragen und Bitten schreiben. Sie hat ganz
detailliert und mit großem Schmerz und Trauer über ihre
Bemühungen berichtet, das Kind zu retten, es zu adoptieren. Aber
die Nazi-Barbaren hätten das weinende Kind „am Morgen des
25. Januar 1944“ brutal aus der Klasse geholt. Es wurde nach
Drancy und von dort, wie ihre Mutter, nach Auschwitz deportiert und
ermordet. Sie hat die ersten kleinen Briefe und Zeichnungen von Anja an
ihren Vater und an den Weihnachtsmann hinzugefügt.
Frage: Was haben sie mit all den Informationen gemacht?
Dirk Krüger: Ich kombinierte sofort nach meinen
Forschungen in Potsdam einen Zusammenhang zwischen dem Nachlass und dem
kleinen Hinweis auf die schwierige Lage der Kinder- und
Jugendbuchtautoreninnen und Autoren im Exil in Weiskopfs Buch
„Unter fremden Himmeln“. Darin lautet der
Kern-Schluss-Satz: „Aber auch die in Deutsch weiterschreibenden
Jugendschriftsteller stehen am Ende der Exilzeit keineswegs mit leeren
Händen da.“ Mir war sofort klar, das traf, auch wenn sie
nicht genannt wurde, auf Ruth Rewald zu.
Und so beschloss ich mit Zustimmung von Prof. Koebner,
die Anlage und das Thema der Dissertation zu ändern. Wir
gaben ihr den Titel „Die deutsch-jüdische Kinder- und
Jugendbuchautorin Ruth Rewald und die Kinder- und Jugendliteratur
im Exil 1933-1945“. Ich habe die Arbeiten mit der
Veröffentlichung des Buches „Vier spanische Jungen“
1987, der Veröffentlichung der Dissertation im dipa-Verlag 1990,
der mündlichen Prüfung am 17.10.1989 und mit der
Übergabe der Promotionsurkunde am 28. 2.1990 abgeschlossen.
Frage: Was geschah mit den Ergebnissen ihrer Arbeit?
Dirk Krüger: Es setzte ein richtiger Hype ein.
Lexika mussten ergänzt werden, in Aufsätzen wurde auf ihr
Werk und ihr Schicksal hingewiesen, es erschienen zahlreiche
Beiträge in wissenschaftlichen Publikationen, es entstanden
Examensarbeiten, Radiosendungen, Vorträge und Seminare an
Universitäten, Ausstellungen. Der Leiter der Hamburger
Arbeitsstelle für Deutsche Exilliteratur, Frithjof Trapp,
urteilte: „Das ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter,
aufregender Fund!“
Mitte der neunziger Jahre flaute das Interesse ab. Es wurde ruhig um das Thema Ruth Rewald.
Frage: Und, ist es weiter ruhig?
Dirk Krüger: Es klingt komisch, aber in den letzten zwei bis drei Jahren gibt es wieder ein gesteigertes Interesse.
Frage: Wie das?
Dirk Krüger: Es erreichten mich Anfragen und Bitten
um Mitarbeit aus Israel, Österreich und der Schweiz. In dem
umfangreichen Roman „Exil der frechen Frauen“ ist sie eine
der drei Hauptfiguren. Im „Argonautenschiff“ dem Jahrbuch
der Anna Seghers-Gesellschaft 2012 wurde mein Beitrag zu Rewalds Buch
„Tsao und Jing Ling – Kinderleben in China“
publiziert. Sehr wichtig wurden Beiträge in der „Geschichte
der deutschen Kinder- und Jugendliteratur“ und im „Handbuch
der deutschsprachigen Emigration 1933-1945“. Auch in der
DDR gab es einige Artikel.
In diesen Tagen erreichte mich die Nachricht, dass ihr
Buch „Vier spanische Jungen“ in die spanische Sprache
übersetzt vorliege und dass die Gemeinde Penerroya die
Finanzierung der Herausgabe des Buches in einem spanischen Verlag
übernehmen wird. Auch der Herausgeber des Buches
„Erzählungen und Berichte aus dem Spanischen
Bürgerkrieg“, Erich Hackel, hat einen Beitrag von Rewald
aufgenommen.
Frage: Hatte/hat das alles etwas zu tun mit der
Einladung und den Aktivitäten in Les Rosiers-sur-Loire am 17.
März 2016?
Dirk Krüger: Ja und Nein. Es gab in diesem Ort zwei
Etappen. Die erste kann so zusammengefasst werden. Daniel Queyroi,
Kulturdezernent von Les Rosiers, hat als Grundschullehrer mit seiner
dritten Klasse 1997 Befragungen unter den Einwohnern von Les Rosiers
durchgeführt. Das Projekt stand unter dem Titel „Als der
Krieg nach Les Rosiers kam“. Es ging dabei um Erinnerungen an die
Zeit der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht. Dabei sind sie
auch auf das Schicksal von Ruth Rewald und ihrer Tochter Anja
gestoßen.
Ihr Schicksal fand so Eingang in eine Dokumentation zum
Projekt und in das umfangreiche Buch „Les Rosiers, entre Loire et
Authion“. Es trägt den Untertitel „Wie uns die Archive
und die Menschen die Geschichte erzählen“.
Ein weiteres Ergebnis des Projekts war die Anbringung
einer Gedenktafel an dem Kriegerdenkmal („Monument du
morts“) für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs
im Garten vor dem Rathaus, die an die Deportation von Ruth
Rewald-Schaul und ihrer Tochter, Anja, erinnert.
Das Ergebnis der Arbeit von Franck Marché
„et son travail sur la déportation des Juifs en
Saumur“ war eine große Tafel mit den Namen aller 824
deportierten Juden vom 20. Juli 1942. Damit schien das Thema
abgearbeitet.
Frage: Und war es das?
Antwort: Nein. Es gab plötzlich und gänzlich
unerwartet einen aktuellen Anlass, sich erneut mit dem Schicksal von
Ruth Rewald und ihrer Tochter, Anja, zu beschäftigen.
Im Februar 2015, erreichte den Bürgermeister von
Les Rosiers die „ACTE DE DÉCÈS“
(Sterbeurkunde) des „ONAC-Office National des Anciens Combattants
et Victimes de Guerre“. Darin wird unter Berufung auf einen
Erlass vom 30. Oktober 1945, Artikel 3, mitgeteilt, dass Anja Schaul am
15. Februar 1944 in Auschwitz (Pologne) gestorben sei. Sie sei am
16.Mai 1937 in Paris geboren und damit Französin und
„Victime de Guerre“.
Frage: War das denn wirklich ihr Todestag?
Dirk Krüger: Das Datum kann nicht das
tatsächliche Todesdatum sein. Sie wurde nach Auskunft der Lehrerin
am 25. Januar 1944 aus der Klasse geholt und in das Massensammellager
Drancy bei Paris gebracht.
Von dort wurde sie nach Auschwitz deportiert.
Wahrscheinlich ist, dass der 15. Februar 1944 der Tag
war, an dem sie von Drancy nach Auschwitz deportiert wurde und man
dieses Datum als Todesdatum festgelegt hat. Denn es ist sicher, dass
die Nazis auch für diesen Transport Listen angefertigt haben, auf
denen Anjas Name verzeichnet war,
In der DDR wurde als Todestag für Anja und für ihre Mutter der 8. Mai 1945 festgelegt.
Frage: Was folgte auf diesen Brief? Welche Reaktionen löste er aus`
Dirk Krüger: Dieser Brief motivierte Daniel
Queyroi, den Kulturdezernent von Les Rosiers, die Lehrerinnen und
Lehrern („professeurs“) des „Collège Paul
Eluard, Gennes Val de Loire“ Christiane Armendinger, Olivier
Godart, Boris Battais, Laurence Delacroix, Burki Bialas und Laure
Hillairet, die„élèves de 3ème D et
3ème F“ und die „Commune des
Rosiers-sur-Loire“ die Nachforschungen zu Ruth Rewald
wieder aufzunehmen.
Man bemühte nun das Internet und stieß auf
umfangreiche Informationen und auf die umfangreichen Ergebnisse meiner
Forschungen, die in der Dissertation zusammengefasst und im dipa-Verlag
als Buch veröffentlicht sind.
Christiane Armendinger schrieb einen langen Brief an
mich – aber leider an meine Adresse aus dem Jahr 1988. Der Brief
kam zurück. Der Deutschlehrer Burki Bialas ermittelte dann
über die Homepage der Stadt Wuppertal meine Adresse und
Telefon-Nummer.
Und so erreichten mich im November sein Anruf und die
Information, dass ich am 17. März zu den Aktivitäten in Les
Rosiers eingeladen sei. Man wolle eine von den Schülern
erarbeitete Ausstellung zeigen und an dem Haus, in dem Ruth Rewald
gewohnt hat, eine Gedenktafel anbringen. Man bat mich, meine
umfangreiche Sammlung von Originaldokumenten für die Ausstellung
zur Verfügung zu stellen.
Frage: Was geschah dann am 17. März?
Dirk
Krüger: Nach einem offiziellen Mittagessen der Gemeinde wurde um
17.00 Uhr, gemeinsam vom Bürgermeister und mir feierlich die
Gedenktafel am Haus, in dem Ruth Rewald und ihre Tochter gewohnt haben,
enthüllt. Über einhundert Schülerinnen und Schüler,
Lehrerinnen und Lehrer des Collège waren dabei. Besonders
beeindruckend und anrührend war die Anwesenheit des stolzen
Hausbesitzers und zahlreicher Bürgerinnen und Bürgern,
darunter waren etliche, die die Zeit bewusst erlebt und Ruth und Anja
gekannt haben und sich an sie erinnerten.
Der Bürgermeister, Denis Sauleau, danke in seiner
Ansprache allen Beteiligten an den Aktivitäten und appellierte an
die junge Generation so etwas, was Ruth und ihrer Tochter passiert sei,
nie wieder zuzulassen. Er betonte, seit 60 Jahren seien
Deutschland und Frankreich versöhnt und es sei ihre wichtigste
Aufgabe, den Frieden in Europa zu sichern.
Auch ich bekam die Gelegenheit, allen Beteiligten zu
danken und ihnen zu versichern, dass ich mit meinen Freundinnen und
Freunden in Deutschland weiter aktiv bleiben werde im Kampf gegen alle
Formen des Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus. Ich nähme
die Motivation und Gewissheit mit, dass die Erinnerung an Ruth und
Anja, die ihre letzten Lebensjahre hier in diesem Ort verbrachten, in
Les Rosiers als Mahnung und Aufforderung nie vergessen
werde.
Um dazu aufzurütteln, die Situation aller Kinder,
Frauen und Männer nicht zu vergessen, die heute in einer
vergleichbaren Situation wie Ruth und ihre Tochter sind, trugen die
Schülerinnen und Schüler des Collège einige Strophen
des Liedes „Göttingen“ von Barbara vor.
Anschließend ertönte das Lied „Nuit et
Brouillard“ von Jean Ferrat. Eine Schweigeminute beendete die
bewegende Zeremonie.
Frage: Wie war das mit der Ausstellung? Wie ist die Eröffnung abgelaufen?
Dirk Krüger: Sie wurde in Anwesenheit vieler
Menschen, darunter erneut viele Schülerinnen, Schüler,
Lehrerinnen, Lehrer und Einwohner, um 18.00 Uhr im Gemeindesaal
„Espace les Ponts“ direkt vor der mächtigen,
zweiteiligen Brücke über die Loire von Daniel Queyroi
eröffnet.
Danach bekam ich die Gelegenheit, über meine
Forschungen, die Quellen, die Begegnungen, die Erschütterungen,
die Wut, die Arbeit, die Freude und die Reaktionen zu berichten. Und
meine Dankbarkeit all denen gegenüber auszudrücken, die diese
bewegenden Ereignissen ermöglich haben.
Meinen besonderen Dank richtete ich an die
Schülerinnen und Schülern. Ich ermutigte sie, weiter zu
arbeiten, weiter aktiv zu bleiben für eine Welt ohne Rassismus,
ohne Faschismus und ohne Krieg.
Danach hatten die Schülerinnen und Schüler des
„Collège Paul Eluard, Gennes Val de Loire“ die
Gelegenheit, ihre Arbeit vorzustellen und darüber zu berichten.
Dann
wurde ich mit der Ehrenmedaille (MEDAILLE D’HONNEUR) "Avec
les compliments du Maire et du Conseil Municipal“ ausgezeichnet.
Und mir wurde der umfangreiche Text-Bild-Band zu/über Les Rosiers
mit einer Widmung des Kulturdezernenten, Daniel Queyroi,
überreicht.
Ein Rundgang durch die Ausstellung und zahlreiche
Gespräche und Begegnungen rundeten die Eröffnung ab. Es war
bewundernswert, wie viele ältere Besucher ihre Deutschkenntnisse
in den Gesprächen und Fragen bemühten.
Besonders bewegt hat mich eine Wiederbegegnung mit der
88jährigen Josette Geffard, die sich noch an alle Einzelheiten
während meines Besuches bei ihr im Jahr 1988 erinnerte.
In einem Gespräch mit dem Germanistik-Professor der
Universität von Angers entstand die Anregung einer
Übersetzung des Buches „Vier spanische Jungen“ in die
französische Sprache durch seine Studenten als Examensarbeit.
Frage: Wie ist die Ausstellung angeordnet?
Dirk Krüger: Die Ausstellung ist in drei Teile gegliedert.
Im
ersten Teil werden die Ergebnisse der Forschungen von Daniel Queyroi
und Franck Marché in Les Rosiers-sur-Loire im Jahr 1997
dargestellt. Ich habe schon darüber gesprochen.
Im zweiten Teil werden in 27 thematisch gegliederten
Mappen meine Originaldokumente gezeigt, darunter die Karten. Auf
besonderes Interesse stieß dabei natürlich ihre letzte
Karte, ihr letztes Lebenszeichen. Aber auch die Karten und Zeichnungen
der kleinen Anja waren ständig umlagert. Rührende und bewegte
Kommentare waren zu vernehmen. Die Schülerinnen und Schüler
waren besonders an allen Dokumenten im Zusammenhang mit dem Buch
„Vier spanische Jungen“ interessiert, weil sie darauf ihren
Forschungsschwerpunkt gelegt hatten. Auch die zahlreiche
Sekundärliteratur war ständig umlagert.
Im dritten Teil werden auf großen Tafeln die
beeindruckenden Forschungsergebnisse der Schülerinnen und
Schüler dokumentiert. Sie zeigen die mehrmonatige
Forschungsarbeit, die sie nach bestimmten Gesichtspunkten
zusammengetragen und festgehalten haben.
Frage: Wie lange wird die Ausstellung zu sehen sein?
Dirk Krüger: Bis Ende März.
Frage: Gibt es schon etwas zu den Besuchern zu sagen?
Dirk
Krüger: Ja, Erfreuliches. Täglich kommen Gruppen und
Einzelpersonen, Allein am Sonntag, zwei Tage nach der Eröffnung,
wurden 102 Besucher gezählt. Auffallend war, dass viele
Besucherinnen und Besucher Ruth und ihre Tochter gekannt haben, sich an
sie und an viele Einzelheiten erinnerten. Einige haben die Verhaftungen
von Ruth und besonders die von ihrer Tochter konkret miterlebt und
geschildert.
Zur Soirée littéraire „Hommage
à Ruth Rewald“ am 25. März mit Mathilde
Léveque (maitre de conférences à
l’université Paris 13) kamen 82 Besucherinnen und Besucher.
Ein Grund dafür ist sicherlich auch die
beispielhafte, außerordentlich breite und informative
Berichterstattung in den Zeitungen.
Quelle: http://www.kommunisten.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6157&Itemid=256
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