30.05.2016
Erinnerungsarbeit und
Geschichtspolitik
Außerordentlicher
Bundeskongress der VVN-BdA tagte im Bochumer Jahrhunderthaus
Erinnerungsarbeit und
Geschichtspolitik - das war das Thema des a. o. Bundeskongresses der
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten vom
27.5. bis 29.5.2016. Das Einstiegsreferat hielt Dr. Ulrich Schneider.
Jochen Vogler fasste nach Abschluss der Beratungen zusammen: 71 Jahre
nach der Befreiung von Krieg und Faschismus, 26 Jahre nach dem Ende der
Blockkonfrontation und 17 Jahre nach Beginn der neuen deutschen
Kriegseinsätze ist und bleibt es notwendig, den Blick und die
Deutung der Geschichte aus der Perspektive des Widerstands gegen Krieg
und Faschismus zu bewahren und weiter zu entwickeln.
Die in der VVN-BdA vereinigte Generation der
Zeitzeugen des Widerstands lebt zumeist nicht mehr und kann uns ihre
Erfahrungen nicht mehr berichten.
Die Verantwortung dafür, dass das
historische Wissen nicht verloren geht - als Grundlage für das
antifaschistische Handeln in aktuellen Auseinandersetzungen, liegt
jetzt bei den Zeitzeugen der Zeitzeugen.
Dabei sind auch methodische Fragen der Vermittlung
zu klären.
Diese Konferenz widmete sich diesen Fragen auch
mit methodisch neuen Ansätzen.
In Arbeitsgruppen wurden Erfahrungen, Fragen und
Vorschläge zu 5 Themenbereichen bearbeitet und in Stichworten
festgehalten.
Ein "Markt der Möglichkeiten" stellte
anschaulich Projekte vor, die im Plenum erläutert wurden.
Die Konferenz endete mit dem gemeinsam gesungenen
"Lied der Moorsoldaten".
Das Einführungsreferat hatte am Freitag
Dr. Ulrich Schneider, VVN-BdA-Bundessprecher und
Generalsekretär der Internationalen Föderation des
Widerstandes FIR, gehalten.
Hier der Wortlaut:
Einstiegsreferat
a.o. Bundeskongress 2016 (Bochum)
Anforderungen
an antifaschistische Geschichtspolitik aus heutiger Perspektive
– erste Überlegungen
Rückblick
und Ist-Stand:
Ich möchte mit einer positiven Aussage
beginnen. Wir können festhalten, dass auch bei den heutigen
Generationen das Interesse an historischen Themen – bezogen
auf die NS-Zeit und den antifaschistischen Widerstand –
ungebrochen ist. Dies spiegelt sich in den Medien (Fernsehen bis zu
Internet-Präsentationen, z.T. auch auf dem Buchmarkt) deutlich
wider.
Unser „Alleinstellungsmerkmal“
als antifaschistischer Verband war in den vergangenen Jahrzehnten
dadurch geprägt, dass in unseren Reihen die Zeitzeugen des
antifaschistischen Kampfes, die diese Zeit politisch bewusst erlebt und
aufgearbeitet hatten, organisiert waren. Ihre Aufklärungs- und
Überzeugungsarbeit gegenüber den nachgeborenen
Generationen war das wichtigste Pfund unserer geschichtspolitischen
Arbeit.
Dr. Ulrich Schneider hält das Einstiegsreferat auf dem Bundeskongress 2016 in Bochum. Foto: jovofoto
Ohne zu ausführlich zu werden,
möchte ich einzelne Beispiele benennen:
Die sicherlich wichtigste Ebene der
Geschichtsvermittlung war die persönliche Begegnung und das
Gespräch mit den Zeitzeugen. Dabei war es überhaupt
nicht von Bedeutung, dass diese alle historischen Daten korrekt
wiedergeben konnten, es waren ihre persönlichen Erfahrungen
und Einschätzungen, der gezeigte Mut und die
Überzeugungstreue unter den extremen Bedingungen der
faschistischen Verfolgung oder im politischen Exil, die auf
nachgeborene Generationen den großen Eindruck
hinterließen und oftmals eine Motivation zum eigenen
Engagement wurde. Und sie vermittelten die Werte der
Solidarität und einer Zuversicht, dass Widerstand gegen als
ungerecht erkannte Zustände selbst unter den extremsten
Bedingungen faschistischer Verfolgung möglich ist –
das es dafür aber auch eines kollektiven Handelns bzw. einer
Organisation bedurfte, wie Peter Gingold es in seinen Erinnerungen
formulierte.
Diese unsere Zeitzeugen bewährten sich
auch in den Zeiten des „Kalten Krieges“ und der
politischen Restauration in der BRD. Gegen das gesellschaftliche
Vergessen und Verdrängen begannen sie teilweise schon Ende der
40er Jahre, ihre Erinnerungen zu verschriftlichen und –
zusammen mit Dokumenten – zu publizieren, lange bevor sich
die akademischen Kreise mit dem Thema beschäftigten. Da sie
selten Verlage dafür fanden, entstand so eine umfangreiche
„graue Literatur“. Dabei wurden
– insbesondere regionale und biographische –
Veröffentlichungen vorgelegt, die bis heute
„Standardwerke“ geblieben sind.
Die Zeitzeugen arbeiteten – gemeinsam
mit jungen Leuten – an Konzepten der
„Verortung“ von Geschichte durch antifaschistische
Stadtrundgänge, Rundfahrten auf den Spuren der Verfolgung und
des Widerstandes oder anderen Formen der Sichtbarmachung von
historischen Ereignissen. Ausgehend von solchen
„Verortungen“ begannen die Bemühungen, die
teilweise mit massiven politischen Auseinandersetzungen verbunden
waren, durch Gedenktafeln Orte von historischer Bedeutung sichtbar zu
machen. Solche Gedenktafeln sind bis heute Ansatzpunkte zur
selbstständigen Beschäftigung mit Geschichte
für heutige Generationen.
Die Zeitzeugen hatten eine weitere – und
für unsere Geschichtsarbeit entscheidende –
Kompetenz: Sie waren eine moralische Autorität in der
Auseinandersetzung mit allen Formen von Geschichtsrevisionismus und
Verfälschung der Geschichte des antifaschistischen
Widerstandes. Viele von uns werden sich an die verschiedenen
Vorstöße des Geschichtsrevisionismus erinnern, den
Historikerstreit Mitte der 80er Jahre, der sich zwar vor allem im
akademischen Milieu und in der Publizistik abspielte, bei dem aber die
Stimmen der Widerstandskämpfer gegen die Geschichtsrevision
ein nicht unbedeutendes Gewicht hatten.
Am besten wird diese Bedeutung aber am Streit um
die Gedenkstätte Buchenwald deutlich, als Prof. Niethammer und
Leonie Wannemacher ihre unsägliche Schrift über die
„roten Kapos“ unter dem Titel „Geheimakte
Buchenwald“ publizierten. Hier waren es antifaschistisch
orientierte Wissenschaftler, aber insbesondere überlebende
Häftlinge des KZ Buchenwald, die diesen geschichtspolitischen
Generalangriff auf den antifaschistischen Gehalt dieses Gedenkortes mit
Erfolg zurückweisen konnten. Sie konnten sogar erreichen, dass
die letzte Ausstellung in der Zeit ihres Bestehens den Forderungen der
Überlebenden angepasst wurde. Und manche veränderte
Positionen der Gedenkstätten-Leitung zu inhaltlichen Fragen
der Lagergeschichte ergaben sich erst durch das intensive Wirken der
Überlebenden.
Dass solche geschichtspolitischen Terraingewinne
nicht auf Dauer sicher sind, zeigt sich an der in diesem Jahr neu
gestalteten Dauerausstellung in Buchenwald. Da die Zahl der aktiven
Zeitzeugen deutlich gesunken ist, wird es jetzt sicherlich schwerer,
mit dem moralischen Gewicht der ehemaligen Häftlinge aus
unserer Sicht notwendige Änderungen zu erreichen.
Wenn wir uns die aktuelle geschichtspolitische
Landschaft in unserem Land anschauen, dann können wir
eigentlich zufrieden hervorheben, dass wir in der geschichtspolitischen
Arbeit schon lange keine „Einzelkämpfer“
mehr sind, dass es recht viele – zumeist regionale
– Initiativen, Geschichtswerkstätten und andere
gesellschaftliche Gruppen gibt, die sich der Erinnerung an die
Verfolgten des Faschismus widmen, auch und gerade der lange
verdrängten Opfergruppen und Persönlichkeiten aus der
Region. Ich möchte hier nur die breite
„Stolperstein“-Bewegung“
erwähnen. Auch dort haben wir als VVN-BdA schon lange kein
„Alleinstellungsmerkmal“ mehr.
Wo wir aber weiterhin
„einzigartig“ sind, sind zwei Themen, die auch
zukünftig unsere Geschichtsarbeit prägen sollten:
- Wir beschäftigen uns auch weiterhin
mit den Tätern (und Profiteuren) der faschistischen
Verbrechen. Das Projekt unserer NRW-Kameraden „Verbrechen der
Wirtschaft“ ist dabei ein gelungenes Beispiel für
diese politische Perspektive und hat, wie die entsprechende
Internet-Seite zeigt, ganz eindrucksvolle Ergebnisse hervorgebracht,
die in der politischen Auseinandersetzung vor Ort eingebracht werden..
- Wir vermitteln die Geschichte aus der
Perspektive der Frauen und Männer aus dem antifaschistischen
Widerstand. Es geht in unserer geschichtspolitischen Arbeit –
bei aller wissenschaftlichen Korrektheit – nicht um
„akademische“ Debatten, sondern darum, erstens die
Leistung der Widerstandskämpferinnen und
–kämpfer zu würdigen und zweitens deutlich
zu machen, dass mit diesem Blickwinkel auch eine andere Bewertungen von
historischen Daten verbunden ist.
Wenn wir darum kämpfen, dass der 8.Mai
1945 als Tag der Befreiung politisch anerkannt wird, dann bezieht sich
diese Bewertung auch auf die Masse der faschistischen
Mitläufer, es ist aber in erster Linie das Erleben der
Widerstandskämpfer, der KZ-Häftlinge und anderer
Verfolgter des Naziregimes, die dieses Datum als „Morgenrot
der Menschheitsgeschichte“, wie Peter Gingold es formulierte,
empfanden.
Neue
Anforderungen und Möglichkeiten
Das Ausscheiden der Zeitzeugen-Generation aus der
aktiven Geschichtsarbeit verändert natürlich die
Zugangsmöglichkeiten zu heutigen Generationen. Zwar haben sie
weiterhin ein großes Interesse an diesen Themen, aber wir
müssen die Formen unserer Geschichtsarbeit diesen
Veränderungen anpassen. Ich möchte dies an sieben
Punkten entwickeln. Dieser Katalog kann und sollte in der Debatte
unseres Bundeskongresses durchaus um weitere Punkte ergänzt
werden.
1.
„Zeugen der Zeitzeugen“ anstelle der Zeitzeugen
selber
Da die meisten Zeitzeugen selber nicht mehr in der
Lage sind, die ehemaligen Form aktiver Geschichtsvermittlung zu
gestalten, müssen zunehmend diejenigen die Arbeit
übernehmen, die von den Zeitzeugen die Informationen bekommen
haben und von diesen „gelernt“ haben.
Mein persönliches Beispiel:
Führungen durch die Gedenkstätte Buchenwald.
- Ich verweise immer darauf, dass ich meine
Kenntnisse über die Buchenwald-Geschichte nicht nur aus
Broschüren und Büchern entnommen habe, sondern diese
Informationen – und das in den wichtigsten Punkten
– von Überlebenden des Lagers stammen. Wichtig ist
mir bei den Führungen, dass ich damit – wie diese
Zeitzeugen – die Perspektive der Häftlinge einnehme
und nicht eine „abstrakt“ neutrale oder gar
distanzierte Perspektive auf die Lagerwirklichkeit werfe.
Dies betrifft genauso die Berichte aus dem
antifaschistischen Widerstand, bei denen auch nicht allein die
gedruckten Archivalien (in der Regel die Verfolgerdokumente,
Gestapo-Berichte, Gerichtsakten oder zeitgenössische
Zeitungsberichte) die „Quelle der Wahrheit“ bilden,
sondern die Überlieferungen der Frauen und Männer aus
dem Widerstand selber.
Zu diesen Zeugen der Zeitzeugen gehören
natürlich auch das Wirken der „Kinder des
Widerstandes“, die mit ihrer äußerst
verdienstvollen und engagierten Arbeit bemüht sind, dieses
Fehlen der Zeitzeugen-Generation aufzufangen. Schon jetzt ist sichtbar,
dass sie neue Zugänge zu jungen Generationen
erschließen können und – insbesondere in
ihrer Arbeit in Schulen und Jugendgruppen – eindrucksvolle
Beiträge zur Geschichtsvermittlung aus der Perspektive des
Widerstandes leisten. Sie werden darüber morgen auf dem Markt
der Möglichkeiten ausführlich berichten.
2. Videos und
Interviews als „Ersatz“ für reale Begegnung
Eine zweite Ebene der Kompensation dieses Fehlens
ist die Arbeit mit Videomitschnitten von Veranstaltungen oder
Interviews mit den jeweiligen Zeitzeugen. Diese „bewegten
Bilder“ und der O-Ton des Zeitzeugen sind sicherlich
beeindruckend, wenn es darum geht, einen Eindruck von dem Menschen, um
den es geht, zu bekommen. Solche Materialien haben jedoch zwei
grundlegende Probleme, die allein durch das vorhandene Interview nicht
aufgefangen werden können:
Jedes Interview und jede
Veranstaltungsaufzeichnung bildet einen zeitlich begrenzten Ausschnitt
einer Begegnung mit diesem Menschen ab. Dazu gehört auch, dass
diese Aufzeichnungen unter ganz spezifischen Bedingungen entstanden
sind und – selbst bei längeren Interviews
– sich auf einzelne Fragestellungen fokussieren. Zudem sind
die thematischen Zugänge und Fragestellungen, über
die in den Interviews besprochen wird, durchaus zeitbezogen. Da sich
die Zugänge zu historisch-politischen Fragen immer wieder
verändern, wird es schwer, diese Materialien 1:1 in der
Vermittlungsarbeit einzusetzen.
Wichtig ist es, solche Interviews in eine
Präsentation – mit vermittelnden
Erläuterungen – einzubinden, damit die
Fragestellungen auch für heutige Generationen nachvollziehbar
bleiben. Wir müssen uns selber auf die möglichen
Fragen vorbereiten, um darauf historische bzw. politische Antworten
gegeben zu können.
Kurt Bachmann hat Ende der 70er Jahre begonnen,
Fragen von Jugendlichen in seinen Veranstaltungen aufzuschreiben, und
auf die am häufigsten gestellten Fragen
„Musterantworten“ aufgeschrieben. Vielleicht kann
das für uns auch eine Anregung sein.
3. Verortung
von Geschichte möglich (Spurensuche und Stolpersteine)
Eine wichtige Möglichkeit,
Zugänge zum Geschichtsverständnis von jungen Menschen
heute zu gewinnen, liegt im Konzept der „Verortung von
Geschichte“. Dabei geht es darum, sichtbar bzw.
nachvollziehbar zu machen, dass geschichtliche Ereignisse nicht weit
weg von ihnen stattgefunden haben (Berlin, Auschwitz oder irgendwo auf
der Welt), sondern die Folgen von politischen Entwicklungen in der
eigenen Lebenswirklichkeit nachzeichenbare Spuren hinterlassen hat.
Anknüpfungspunkte können dazu sein: Gedenktafeln an
entsprechenden Gebäuden bzw. an Stellen, an denen das Ereignis
stattgefunden hat, Stolpersteine für Verfolgte und Ermordete,
geführte Rundgänge, auf denen historische Ereignisse
visualisierbar und verortbar werden.
Da die personalen Kapazitäten unserer
Organisation begrenzt sind, haben sich als interessante Konzepte
sogenannte „Video-Walks“ erwiesen, die es per
Internet oder als Smartphone Projekt ermöglichen, sich selbst
auf die Suche nach den historischen Zeugnissen und Ereignissen zu
machen. Bei solchen Konzepten sind Auszüge von Interviews
ehemaliger Zeitzeugen eine überzeugende Möglichkeit,
deren Aussagen, deren „lebendiges Beispiel“
für die Geschichtsvermittlung zu nutzen.
4. Neue
Möglichkeiten der Zugänge zu historischen Themen
(Themen durch Aktualität erweitern)
Was unsere Zeitzeugen früher im
politischen Gespräch umsetzen konnten, als nämlich
junge Menschen sie nicht nur nach historischen Ereignissen und
Erfahrungen befragten, sondern auch danach, was sie denn zu den
heutigen Problemen, mit denen sich die Nachgeborenen
beschäftigten (Frieden, gesellschaftliche und soziale
Kämpfe, Neofaschismus und Rechtsentwicklung etc.),
für eine Meinung hatten, müssen wir heute
als Einstieg in unsere Form der Geschichtsvermittlung nutzen.
Dabei sollte es nicht allein um das Auftreten von
militanten Neonazis, Brandstiftungen und andere Gewalttaten gegen
Flüchtlingsunterkünfte oder den Aufschwung der AfD
oder der Pegida – Aufmärsche in Dresden und einigen
anderen Städten gehen. Hier engagieren sich junge Leute in oft
ganz direkter Form. Auch die Fragen Krieg und Frieden, Eintreten
für eine solidarische Gesellschaft und gegen Hegemonie von
multinationalen Konzernen im wirtschaftlichen Bereich sind
Anknüpfungspunkte zum Engagement junger Menschen.
Uns muss es gelingen, - ohne falsche oder
verfälschende Analogien – diesen politischen
Widerstand mit dem antifaschistischen Vermächtnis der
damaligen Generationen zu verbinden, indem beispielsweise deutlich
gemacht wird, dass die Losung „Nie wieder Krieg“
nicht nur das Vermächtnis der Jahre 1945/46 war, sondern schon
mit der Losung „Wer Hitler wählt, wählt
Krieg!“ seine prognostische Bedeutung hatte.
Junge Menschen engagieren sich heute in
vielfältiger Form für Flüchtlinge und gegen
alltäglichen Rassismus. Sie kämpfen dabei auch gegen
Fluchtursachen und eine Politik, die zwar eine
„Willkommenskultur“ propagiert, gleichzeitig aber
eine Abschottung der Festung Europa praktiziert. An diesem Punkt kann
es uns sehr gut gelingen, diese Themen mit der Erinnerung an diejenigen
Menschen zu verbinden, die seit 1933 auch aus Deutschland fliehen
mussten und sich im Exil politisch gegen den deutschen Faschismus
engagierten (z.B. Peter Gingold). Für sie bedeutete die Flucht
das Aufgaben aller Existenzsicherheit, sie überlebten durch
die Solidarität in den Aufnahmeländern und sie
kämpften zumeist gemeinsam mit den jeweiligen nationalen
Widerstandsbewegungen gegen den gemeinsamen Feind, den deutschen
Faschismus. Diese Erfahrungen der Solidarität und des
gemeinsamen Handelns zu vermitteln, kann jungen Menschen auch eine
historische Bestätigung ihres heutigen Engagements liefern.
Und wenn es um soziale Auseinandersetzungen geht,
dann müssen wir die historischen Erfahrungen einbringen, dass
die „Ethnisierung des Sozialen“ durch Ausgrenzung
und Marginalisierung ein rassistisches Konzept ist, dass zu dem
größten Menschheitsverbrechen, nämlich dem
industriellen Massenmord geführt hat.
Und wo ebenfalls unsere Geschichtsperspektive
Antworten für heute geben kann, ist die Frage der politischen
Bündnisbreite des antifaschistischen Handelns. Unsere
Zeitzeugen haben uns immer ermahnt, die Lehre des Scheiterns der
antifaschistischen Kräfte 1933 nicht zu vergessen:
„Schafft die Einheit!“, wie Wilhelm Leuschner es
ausdrückte. Es gehört zu den zentralen
Herausforderungen für unsere heutige politische und
geschichtspolitische Arbeit, diese antifaschistische
Bündnispolitik auch historisch abzuleiten.
5. Neue Medien
und Intermedialität der Geschichtsvermittlung
(Präsenz im Internet und interaktive Angebote)
Eine große Aufmerksamkeit
müssen wir auf die Nutzung aller Formen der neuen Medien
legen, um mögliche Zugänge zu heutigen Generationen
zu finden. Ich weiß, dass viele von uns natürlich
mit Computer und Internet vertraut sind. Durch die gute
Unterstützung auf Bundesebene haben auch die meisten aktiven
Kreisvereinigungen und Basisorganisationen einen eigenen –
und durchaus ansprechenden – Internet-Auftritt. Die
Bundesorganisation ist selbst bei Facebook präsent. Das alles
reicht aber noch lange nicht aus, um unsere Inhalte im
„Nirvana“ des Internets auch an die jungen Menschen
heranzubringen.
Wir müssen die Erfahrungen aus unseren
beiden inhaltlichen Angeboten zum Jahr 1933 und zum Jahr 1945 sehr
genau auswerten. Dabei geht es nicht nur darum, welche Inhalte konnten
wir bereitstellen, sondern auch um Zugriffszahlen auf die Seiten,
Rückantworten und andere Kriterien, an denen wir die
Wirksamkeit der Seite ablesen können.
Wir müssen uns selbstkritisch fragen, ob
wir es hinreichend geschafft haben, in einer weitgehend medialisierten
Welt so deutliche Signale gesetzt zu haben, dass wir und unsere
geschichtspolitischen Angebote im größerem Umfang
überhaupt von der intendierten Zielgruppe wahrgenommen wurden.
Wir sollten überlegen, ob wir in der Lage
sind (natürlich mit externer Unterstützung) weitere
interaktive Angebote zu geschichtspolitischen Fragestellungen zu
generieren und wie wir diese so mit unseren anderen Arbeitsformen
verknüpfen können, dass diese Angebote
tatsächlich wahrgenommen werden. Dazu gehört auch die
Anpassung unserer Seiten und Inhalte an die Wiedergabe auf mobilen
Endgeräten (Smartphone u.a.), damit wir mit diesen –
heute genutzten – Informationsmedien problemlos erreicht
werden können. Wir können positiv vermerken, dass wir
schon gute Schritte in der Cross-media-Kommunikation gegangen sind.
Aber hier ist noch viel Platz für weitere Entwicklungen, wenn
wir nicht in der Flut elektronischer Angebote untergehen wollen.
Das betrifft natürlich nicht nur unsere
Geschichtsarbeit, aber auch in diesem Zusammenhang sind diese Medien
unverzichtbar.
6. Klassische
Formen nicht vernachlässigen (Aufsätze,
Broschüren und Publikationen)
Nach diesem notwendigen Hinweis auf die
elektronischen Medien möchte ich dennoch eine Lanze brechen
dafür, dass wir die „klassischen“ Formen
unserer Geschichtsvermittlung nicht vernachlässigen,
nämlich die kurzen lokalen Flyer zur historischen
Erinnerungsarbeit, die Kleinbroschüren oder die lokalen und
regionalen Publikationen.
Mit solchen Formen der Veröffentlichung
kann es uns gelingen, an einzelnen Punkten geschichtspolitische
Setzungen vorzunehmen, in gesellschaftliche Debatten einzugreifen oder
in Zeiten gesteigerter Aufmerksamkeit für ein Thema unsere
Perspektiven einzubringen. Ein Beispiel aus der Kasseler
Kreisvereinigung wäre die Broschüre zum 8.Mai
vergangenen Jahres, die wir gemeinsam mit dem Kasseler Friedensforum
und dem DGB herausgegeben haben, in der die Zerstörung der
Stadt, der antifaschistische Neuanfang und ihre politischen Akteure
sowie die Perspektive „Bedeutung des 8.Mai für
heute“ thematisiert wurde. Mehrere hundert Exemplare konnten
wir am Ostermarsch, beim 1. Mai und der öffentlichen
Veranstaltung zum 8.Mai 2015 verkaufen. Ich bin mir sicher, dass wir
damit einen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte geleistet haben, der
auch in den nächsten Jahren noch wirksam sein wird, da recht
viele junge Leute diese Broschüre erworben haben.
Mein Plädoyer in diesem Zusammenhang ist,
dass es wichtiger ist, solche politische Einbindung unserer
Geschichtsarbeit zu nutzen, als auf den „großen
Wurf“, der Gesamtdarstellung des antifaschistischen
Widerstands in der Region, in dem Ort zu warten. So verdienstvoll
solche Gesamtdarstellungen auch sind, sie richten sich vor allem an ein
spezialisiertes Fachpublikum. Wir sollten dagegen die Einbindung
unserer Geschichtsarbeit in die politischen Kämpfe der
Gegenwart in den Fokus nehmen.
7. Neue
Mitstreiter an die geschichtspolitische Arbeit heranführen
Zu den großen Aufgaben unserer eigenen
organisationspolitischen Arbeit gehört es, immer wieder neue
Mitstreiter aus den Reihen unserer Organisation an die Geschichtsarbeit
heranzuführen. In den vergangenen Jahrzehnten war –
und ist es in vielen Kreisvereinigungen bis heute – die
Geschichtsarbeit eine Spezialisten-Arbeit derjenigen, die sich als
Historiker, Geschichtslehrkräfte oder aus
persönlichem Interesse schon viele Jahre mit den
geschichtlichen Themen beschäftigt haben. Damit haben sich
diese Kameradinnen und Kameraden ein beeindruckendes Wissen
über die regionale und überregionale Geschichte von
Widerstand und Verfolgung angeeignet, was sie auch in das Leben der
Organisation einbringen. Aber – und das muss auch in aller
Deutlichkeit gesagt werden – nicht nur unsere Zeitzeugen
scheiden aus, auch bei der zweiten Generation mussten wir bereits manch
schmerzhaften Verlust erleben. Schon aus diesem Grund müssen
wir sicherstellen, dass das gesammelte Wissen weitergegeben wird.
Zweitens ist die Einbindung von Mitstreitern der
jungen Generationen ein wichtiges Instrument, die Fragestellungen und
Perspektiven heutiger Jugendlicher in der Aufarbeitung und Vermittlung
unserer geschichtspolitischen Themenstellungen zu
berücksichtigen.
Damit verbessern wir unsere
Möglichkeiten, dass unsere Geschichtsarbeit aus der
Perspektive der antifaschistischen Kämpferinnen und
Kämpfer, der Verfolgten und Überlebenden für
heutige und zukünftige Generationen wirksam werden kann.
Und das muss unser gemeinsames Ziel bleiben.
Dr. Ulrich Schneider, Bundessprecher
Ein weiterer Bericht:
Eindrücke vom außerordentlichen Bundeskongress der VVN-BdA
https://antifaschistischesgelsenkirchen.wordpress.com/2016/05/29/eindruecke-vom-ausserordentlichen-bundeskongress-der-vvn-bda/
Bilder vom Kongress:
https://www.r-mediabase.eu/index.php?view=category&catid=803&option=com_joomgallery&Itemid=519
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