15.05.2016
„Ein Produkt der
deutschen Leitkultur!“ – Zum
Böhmermann-Gedicht
In Heft 10/16 von
„Ossietzky“ hat Werner Rügemer einen
Artikel zum angeblichen Schmähgedicht des Jan
Böhmermann auf Erdogan veröffentlicht und auf die
Volksverhetzung gegen die Muslime hingewiesen, die mit dem
„Gedicht“ verbunden ist. Unter der
Überschrift „Genitalfantasien = Satire?“
heißt es: Das Gedicht von Jan Böhmermann
über den türkischen Ministerpräsidenten
Tayyip Erdogan in der ZDF-Sendung „Neo Magazin
Royale“ ist keine Satire, sondern ordinäre
Genitalfantasie. Sie fällt auch nicht unter Meinungsfreiheit,
wie sie in einem demokratischen und Rechtsstaat verteidigt werden muss.
Genitalfantasien = Satire?
Das Gedicht von Jan Böhmermann
über den türkischen Ministerpräsidenten
Tayyip Erdogan in der ZDF-Sendung „Neo Magazin
Royale“ ist keine Satire, sondern ordinäre
Genitalfantasie. Sie fällt auch nicht unter Meinungsfreiheit,
wie sie in einem demokratischen und Rechtsstaat verteidigt werden muss.
Die naive oder als naiv dargestellte Distanzierung
zu Beginn der Verlesung des Gedichts, es folge nun ein
Schmähgedicht, das rechtlich nicht zulässig sei,
stellt den Versuch dar, sich einen rechtsfreien Raum zu schaffen.
Die Charakterisierungen von Erdogan als
„Ziegenficker“, der auch fellatio mit 100 Schafen
treibe, dessen „Schwanz beim Pinkeln brennt“,
dessen „Kopf so leer ist wie seine Eier“
– dies hat nichts mit bekannten Eigenschaften, Aussagen,
Praktiken oder Merkmalen von Erdogan zu tun. Vielmehr sind es
vollständig sach- und persönlichkeitsfremd
hinzufantasierte Zutaten. Damit wird nichts Vorhandenes durch
Zuspitzung kenntlich gemacht - was Aufgabe von Satire wäre.
Die Charakterisierung von Moslems als Ziegenficker ist ein typisch
rassistisches, rechtsradikales Klischee.
Zudem betreffen einzelne dieser Fantasien nicht
nur Erdogan selbst, sondern, wesentlich schlimmer, auch einen weit
größeren Kreis von Menschen. Wenn es
heißt, dass Erdogans „Gelöt schlimm nach
Döner stinkt“, dann wird hier auf ein typisches
türkisches Essen verwiesen. Wenn es weiter heißt,
Erdogan sei „pervers und schwul“, dann wird
Schwulsein als schlechte Eigenschaft präsentiert,
während dieselben Medien die Diskriminierung von Schwulen
anprangern, etwa wenn sie das dem russischen Präsidenten
anhängen.
Das ist die Meinungsfreiheit, die sie meinen. Die
Verkommenheit der meinungsführenden Medien stellt sich auch in
diesem Fall öffentlich zur Schau: Das ZDF verteidigt das
Gedicht als Satire und Meinungsfreiheit. Der Vorstandsvorsitzende des
Springer-Konzerns, Mathias Döpfner, bezeichnet das Gedicht als
„ein Kunstwerk - wie jede große Satire“.
Der Spiegel charakterisiert den „Künstler
Böhmermann“ als den „großen
Zertrümmerer“ bisheriger allzu braver Regeln. Er
habe Geschichte geschrieben, sein Produkt „gehört
schon jetzt ins Haus der Geschichte“. Da funktioniert die
angebliche Satire genau im Sinne der führenden medialen
Gutmenschen, die die selektiven Feind- und Freundbilder inszenieren und
sich dann nicht mit dem Zerstörungskrieg ihres neuen Kumpans
Erdogan gegen das kurdische Volk und seiner Kollaboration mit den auch
uns freundlich verbunden Golfdiktaturen auseinander zu setzen brauchen.
Wenn Erdogan souveräner wäre
– was er natürlich nicht sein kann -, dann
hätte er zum Beispiel sagen können: Ach seht mal, da
erreicht uns ein typisches deutsches Kulturgut, ein Produkt der
deutschen Leitkultur! Sehr aufschlussreich! Da will ich mich nicht
einmischen - da ist die deutsche Bundeskanzlerin zuständig!
Werner Rügemer
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