12.05.2016
Dieter Saal zum 75. Geburtstag
Ein
beispielgebender Erinnerungsarbeiter aus der Provinz
Der langjährige
Lüdenscheider
Stadtarchivar Dieter Saal wurde am 10. Mai 75 Jahre alt. Seine Freunde
gratulierten ihm, und Ulrich Sander schrieb: Mit deiner Arbeit, lieber
Dieter, widersetztest du dich eindrucksvoll der unrühmlichen
Wiedergutmachungs- und Erinnerungspolitik, die in Bundesdeutschland
regierungsoffiziell betrieben worden ist und betrieben wird.
55 Jahre
mussten vergehen, bevor die Zwangsarbeit - nach
Schätzungen geleistet von etwa 10 bis 20 Millionen Menschen -
als
nationalsozialistisches Unrecht offiziell in einem Gesetz anerkannt
wurde. Und du hast einen wichtigen Anteil daran, das Gesetz in deinem
Umfeld umzusetzen. Und zwar mit Bestergebnissen!
Bei der Versklavung und
menschenunwürdiger
Ausbeutung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter handelte es sich
um eines der schwersten Verbrechen deutscher Faschisten gegen die
Menschheit. Auch im Märkischen Kreis um Lüdenscheid
wollten
sich Politik und Wirtschaft ihrer Verantwortung entziehen. Auf diesem
Sektor Veränderungswillen zu schaffen, das war in
Lüdenscheid
vor allem Dieter Saals Werk. Um einen Forschungsauftrag des
Heimatvereins zugunsten der Zwangsarbeiter durchzusetzen, scheute
Dieter Saal keine Unannehmlichkeiten. Um den Auftrag an mich rankte
sich ein Verfassungsschutzskandal, dem Du als Leiter des
Lüdenscheider Stadtarchivs und
Geschäftsführer des
Heimatvereins Beeinträchtigungen in deiner Berufsbiografie zu
verdanken hattest. Diese zu ertragen, war sicher schmerzhaft, ich danke
dir sehr, dass du es durchgestanden hast.
Mit dem Ende 1999 gewählten
Bürgermeister, der
dir zusetzte, wurde ein CDU-Mann gewählt, der die Interessen
der
Sklavenhalter vertrat und sie unbedingt vor Zahlungen bewahren wollte.
Sie sollten um die Zahlungen herumkommen, die an die im Jahre 2000
gegründete „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ zu leisten waren. Nachdem in Lüdenscheid
unsere
Forschungsstelle beim Heimatverein geschaffen wurde und eine Bewegung
von Antifaschisten wirkte, um die Namen von zur Zahlung verpflichteten
Firmen zu veröffentlichen, musste auch die Stadt
Lüdenscheid
nachgeben und die Bundesstiftung unterstützen. Wir begannen
sehr
erfolgreich die nötigen Nachweise für die
Zwangsarbeiter
vorzulegen, die zu beschaffen unheimlich viel Aufwand erforderte.
Mit dir gemeinsam wirkte ich - beginnend am 2. Mai
2000
und endend im November 2001 - als Nutzer einer
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Erforschung der Zwangsarbeit
in
der Stadt Lüdenscheid. Geholfen haben uns besonders Dr.
Dietmar
Simon und Matthias Wagner. Wir waren trotz mancher Widerstände
erfolgreich. Am Ende lagen 7 462 Kurzbiografien von Zwangsarbeitern in
Lüdenscheid und Umgebung vor, die in Datenbanken
zusammengefasst
zudem diverse statistische Analysen erlauben. Diese Datenbanken, so
sicherte Dr. Dietmar Simon vom Geschichts- und Heimatvereinsvorstand
kürzlich zu, sind nun nach 15 Jahren endlich im Stadtarchiv
einsehbar. Nicht ohne berechtigten Stolz und großem Dank an
Dich
habe ich am Ende von „Der Iwan kam bis
Lüdenscheid“
geschrieben, dass nur wenige deutsche Städte über
eine
vergleichbare aus den vorhandenen Quellen erarbeitete Materialsammlung
verfügen. Vermutlich konnten auf der Grundlage der
Lüdenscheider Recherchen etwa 1500 Überlebende eine
Entschädigung erhalten. Inzwischen habe ich mich unter
Stadtarchivaren umgehört und festgestellt, dass
Lüdenscheid
sogar eine Spitzenstellung einnimmt: Während im
Bundesdurchschnitt
nur drei Prozent der in Frage kommenden Firmen für die
Stiftungsinitiative einzahlten, waren es in Lüdenscheid 16
Prozent. Im Bezirk Südwestfalen der Industrie- und
Handelskammer
waren es sechs Prozent. Darauf kannst du stolz sein.
Dankbar sollten wir auch den örtlichen
Medien sein.
Beschrieben wurden mit unserer Hilfe ebenso Zustände und
Verbrechen in einigen Arbeits- und anderen Lagern. Ermöglicht
wurden bemerkenswerte Ausführungen zu den Schicksalswegen
einzelner Zwangsarbeiter und zu den Lüdenscheider
Bürgerinnen
und Bürgern, die sich an jene Zeit erinnerten und uns bei
unserer
Arbeit halfen – als kleines Stück Wiedergutmachung,
als
nachgeholte Willkommenskultur.
Besonders dank Deinem Engagement widmeten wir
längere Untersuchungen dem spurlosen Verschwinden von 118
montenegrinischen Zwangsarbeitern, das offensichtlich zu jenen
mörderischen, von NSDAP-Gauleiter und
Reichsverteidigungskommissar
Albert Hoffmann in den letzten Kriegswochen angeordneten Verbrechen
gehört. Wir brachten die Mittäter, die
möglicherweise
noch leben, jetzt zur Anzeige; die Staatsanwaltschaft und das
Landeskriminalamt übernahmen nunmehr diesen Fall. Die Agonie
der
Naziherrschaft sah sich drakonisch ergänzt durch einen
opferreichen Durchhalte-Terrorismus. Mit diesem sollte weniger der
propagierte „Endsieg“ gewährleistet
werden, eher ging
es um das Verwischen von Spuren sowie um Versuche,
ausbeutungsgierige Großindustrielle und führenden
Nazis vor
dem verständlichen Zorn befreiter Zwangsarbeiter zu
schützen
und das Wirken von Antifaschisten im Nachkriegseuropa zu behindern.
Fünfzehn Jahre nach der Zeit der
Erforschung der
Zwangsarbeit mussten wir leider feststellen: „Keine Anklage
gegen
die Quandts und Co.“ Erreicht wurde noch nicht die Anbringung
einer Mahntafel an den Gebäuden der Quandts in NRW. In
Lüdenscheid wären das die von der Fa.
Busch-Jäger, die
früher der Familie Quandt gehörte. Mit solchen Tafeln
soll
auf die verhängnisvolle Rolle von Wirtschaftskreisen im sog.
„Dritten Reich“ bzw. im Zweiten Weltkrieg
– auch in
Lüdenscheid - hingewiesen werden. Die Rolle der Quandts
aufzudecken – sowohl in Lüdenscheid als auch im
ganzen Land
-, das bleibt unsere Aufgabe. Das habe ich kürzlich wieder in
Lüdenscheid bei einer Lesung in der Stadtbibliothek betont.
Vor kurzem, im Jahr 2015, war zu erleben, dass die
juristische Klausel „Kriegsgefangenschaft begründet
keine
Leistungsberechtigung“ teilweise unwirksam gemacht wurde, um
die
wenigen noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen ein wenig
entschädigen zu können, - nicht jedoch die
italienischen.
Auch daran hast Du mitgewirkt.
Lieber Dieter Saal, du hast für Deine
Tätigkeit immer die rein humanitären Motive geltend
gemacht.
Ich habe meine Recherchen auch als Teil einer „Anklageschrift
gegen die Täter“ verstanden. Und ich verstehe sie
noch so.
Dies auch im Sinne des bekannten Schwurs der befreiten
KZ-Häftlinge von Buchenwald, die den Kampf erst entstellen
wollten, „wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der
Völker steht“. Denn das Ringen um Gerechtigkeit geht
weiter.
Und zwar auch dann, wenn kein Überlebender mehr da ist. Denn
dann
geht es darum, das schuldige System anzugreifen und in Frage zu
stellen, das die furchtbaren Verbrechen erst möglich machte.
Die Schlussfolgerung, die ich aus dem
beschämenden
Verhalten deutscher Großunternehmer in den
Auseinandersetzungen
um die Entschädigung der Zwangsarbeiter ziehe, lautet: Ohne
Wirtschaftsdemokratie wird es auf die Dauer keine Demokratie mehr
geben, wie es auch „ohne die Einschränkung von
Rüstungskonzernen und Rüstungsexporten“
keinen Frieden
geben kann.
In diesem Sinne ist auch in Lüdenscheid
mit Deiner
Hilfe eine politische Szene entstanden, die sich einer
antifaschistischen und friedenspolitische Erinnerungsarbeit und
gleichem Zukunftswirken verpflichtet fühlt. Ich denke an die
Friedensgruppe und Dein Wirken dafür. Ich denke an die
Gedenkstätte im alten Rathaus und an Matthias Wagners
aufopferungsvoller Arbeit dafür. Ich denke auch an die
Würdigung für das Gedenken an den
Lüdenscheider
Kommunisten Werner Kowalski (1901-1943). Mit Dankbarkeit nahm
ich
das ihm gewidmete Buch von Dietmar Simon „Deckname
Dobler“
entgegen und ich erfuhr, dass du daran mitwirktest. Wenn ich auch
manche antikommunistische Häme des Autors nicht verstehe, es
wird
mit dem Buch doch deutlich: Kowalski hat aus den Fehlern der
Arbeiterbewegung – auch aus den ganz persönlich
eigenen und
jenen der KPD – sofort nach 1933 die richtigen Lehren gezogen
und
schon das im Widerstand in Südwestfalen praktiziert, was erst
1935
von der deutschen und internationalen kommunistischen Bewegung
selbstkritisch erarbeitet wurde. Sei Wirken im antifaschistischen
Untergrund gemeinsam mit sozialdemokratischen Arbeitern und dann als
KZ-Häftling im Moorlager Börgermoor half mit,
verhängnisvolle Fehlentwicklungen zu überwinden; er
wurde
Delegierter zum 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale und
zum KPD-Parteitag, der „Brüsseler
Konferenz“ genannt
wurde. Dort wurde er 1935 zum Mitglied der KPD-Führung
gewählt (Kandidat des Zentralkomitees). Er half, die
Verbrechen
der Nazis weltweit anzuprangern und Solidarität zu schaffen.
Leider wurde er Opfer von Intrigen und 1938 aus seiner Partei
ausgeschlossen, was ihn nicht hinderte in Frankreich, Holland und
Belgien, auch im besetzten Gebiet, seinen Kampf im Bündnis
fortzusetzen. 1943 wurde er in Belgien von der Gestapo ermordet. In
Lüdenscheid wird seiner gedacht, dort wurde eine
Straße nach
ihm benannt.
Lieber Dieter Saal, ich wünsche dir und
deiner
Heike noch eine gute Zeit im Ruhestand, - und dass wir in Verbindung
bleiben.
Dein
Ulli Sander
Dies ist das 2004 in 1. Auflage im Agenda-Verlag
erschienene Buch von Dietmar Simon über Doble. Bei Dobler
handelt
es sich um das Pseudonym von Werner Kowalski, einem Kommunisten und
Gegner der NSDAP. Er war Stadtverordneter in Lüdenscheid,
wurde
1901 geboren, 1938 aus der KPD ausgeschlossen und floh nach Frankreich.
Dort wurde er gefasst, verhaftet, konnte fliehen, wurde aber 1943
erschossen.
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