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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

10.05.2016

Der takfiristische Terrorismus in der Debatte der Islamgelehrten

Klaus von Raussendorff gibt Einblick in die Hintergründe der Islam-Debatte

„Als nützlicher Feind des Westens tritt der so genannte Islamische Staat nicht nur militärisch vor Ort in Erscheinung. Seine Gräueltaten halten auch die so genannte ‚Islam-Debatte‘ im Westen im Gange. Deren soziale Funktion besteht im Wesentlichen weniger darin, Kenntnis und Verständnis zu fördern, als vielmehr immer wieder die kulturelle Überlegenheit des Westens gegenüber der islamischen Welt zu demonstrieren und die Einmischung westlicher Großmächte in der Region als gerechtfertigt erscheinen zu lassen.“ So wird der Artikel „Der takfiristische Terrorismus in der Debatte der Islamgelehrten“ von Klaus von Raussendorff eingeleitet. Wir dürfen ihn unter Angabe der Quelle: Freidenker Nr. 4-2015 EXTRA Dezember 2015 auf www.nrw.vvn-bda.de wiedergeben. Wir danken dafür. Der Artikel ist auch in Nr. 2/16 der Marxistischen Blätter zu finden. Hier sein Wortlaut:

Der takfiristische Terrorismus in der Debatte der Islamgelehrten*

Klaus von Raussendorff

Als nützlicher Feind des Westens tritt der so genannte Islamische Staat nicht nur militärisch vor Ort in Erscheinung. Seine Gräueltaten halten auch die so genannte „Islam-Debatte“ im Westen im Gange. Deren soziale Funktion besteht im Wesentlichen weniger darin, Kenntnis und Verständnis zu fördern, als vielmehr immer wieder die kulturelle Überlegenheit des Westens gegenüber der islamischen Welt zu demonstrieren und die Einmischung westlicher Großmächte in der Region als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Diese Funktion wird erfüllt, gerade weil diese Debatte aus Sicht von Kennern auf einem sehr niedrigen Niveau geführt wird. So meint beispielsweise die Journalistin Charlotte Wiedemann, die in Reisebüchern aus islamischen Ländern berichtet: „Aus der sogenannten Islam-Debatte halten sich fast alle heraus, die Ahnung vom Thema haben. Das gilt für die meisten deutschen Islamwissenschaftler genauso wie für die einschlägig qualifizierten Journalisten (etwa vom „Netzwerk Fachjournalisten islamische Welt“) oder eine neue Generation publizistisch tätiger junger Muslime. Sie alle tragen zu einer besseren, einer aufklärenden Öffentlichkeit bei.“ Soweit die Einschätzung von Charlotte Wiedemann, die resignierend fortfährt: „Die Stimmung aber machen die anderen.“ (1)

Bemerkenswert an dieser Einschätzung ist allerdings auch, dass selbst von einer Kennerin islamischer Länder die islamischen Geistlichen, insbesondere aus der Region, als Debatten-Teilnehmer gar nicht erst in Betracht gezogen werden. Tatsächlich aber laufen selbstverständlich zwei Debatten zur Rolle des Islam in der modernen Welt, nicht nur die eine im Westen sondern eine andere in der islamischen Welt, die vor allem von den Islamgelehrten selbst geführt wird, die aber für den Westen gar nicht zu existieren scheint. Und doch kann schon eine einfache Internet-Recherche die qualitativen Unterschiede zwischen beiden Debatten bewusst machen.

Daisch

Hinsichtlich der Miliz, die ihre barbarischen Gräueltaten in Irak und Syrien im Namen Allahs begeht, besteht ein Unterschied zwischen Islam-Debatte und immanentem Diskurs im Islam schon in der Benennung. Araber nennen sie „Daisch“. Das Wort ergibt sich wenn die arabischen Anfangsbuchstaben von "Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien" als ein Wort ausgesprochen werden etwa so, wie wir "NATO" sagen. "Daisch" ist für die Terroristen eine Verballhornung ihrer Selbstbezeichnung. Sie drohen, jeden zu bestrafen, der sie benutzt. Die USA beharren auf "ISIL". Das Auswärtige Amt bleibt bei ISIS. Medien wie Die Zeit, New York Times und die Washington Post übernehmen die Selbstbezeichnung der Terroristen  "Islamischer Staat" und "IS". Nur in Frankreich hat man entschieden, "Daesh" zu verwenden. Auch Hillary Clinton, die frühere US-Außenministerin der USA, rückt semantisch von dem Monstrum ab, das nur durch die Politik ihres Landes entstehen konnte. Sie will dieses Ungeheuer nicht "Islamischer Staat" nennen; das wäre ein Affront islamischer Staaten. Politisch korrekt sagte sie über die terroristischen Milizen: "Sie sind weder islamisch noch ein Staat". (2) Auch Tony Blair hat sich dahingehend vernehmen lassen, dass der „Islamische Staat“ unislamisch sei. Derartige diplomatische Rücksichtnahmen auf pro-westliche Regierungen der Region kümmern notorische „Islamkritiker“ nicht im Geringsten. Begierig suchen sie nach allem, was irgendwie geeignet erscheint, den Islam insgesamt herabzusetzen und insbesondere den Mythos des islamistischen Terrors als Bedrohung der westlichen Zivilisation glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Takfirismus

Der fanatische Terror, der von Daisch und anderen Milizen im Namen des Islam praktiziert wird, hat im religiös-politischen Diskurs in der Region einen Begriff, der diese menschenverachtende Praxis und ihre ideologische Motivation mit aller wünschenswerten Klarheit kennzeichnet. Der einschlägige Begriff ist Takfirismus. In deutschen Medien taucht er gelegentlich in Äußerungen regionaler Akteure auf, denen aber implizit die Voreingenommenheit von Gegnern der Takfiri unterstellt wird. Es wird erklärt, dass es sich bei Takfiri um muslimische Fanatiker handelt, die andersdenkende Muslime zu Ungläubigen erklären, verfolgen und töten. Auch wird angedeutet, dass die überwältigende Mehrheit der Muslime Takfiri als unislamisch empfindet. Doch man weigert sich, diesen eindeutig kennzeichnenden Fachbegriff aus dem Arabischen zu übernehmen. Und das hat Methode. Da die wörtliche Bedeutung des Begriffs erkennen lässt, dass es sich um fanatische Muslime handelt, die andere Muslime als Ungläubige verfolgen, ist Takfirismus schon dem Begriffe nach erkennbar unislamisch. Spräche man begrifflich korrekt von takfiristischem Terrorismus, müsste man auf die stereotype Assoziation von islamistisch und terroristisch verzichten. Doch anscheinend gebietet der gegen den Islam erhobene Generalverdacht der Gewalttätigkeit die generalisierende Redeweise vom „islamistischen Terrorismus“. Die angebliche Gewaltbereitschaft des Islam gehört zu den Axiomen der westlichen Islam-Debatte.

Der anti-islamische Spin der Redewendung vom „islamistischen Terrorismus“ wird nicht durchschaut, weil heute zwei Erscheinungsformen existieren, die sich zu bestätigen scheinen. Zum einen existiert ein angeblicher „islamistische Terrorismus“ als propagandistischer Mythos einer äußeren Bedrohung der westlichen Zivilisation (Stichworte sind: „Masseninvasion in Europa“, „Ghettobildung“, „Radikalisierung“, „Terroranschläge“) Zum anderen existiert er aber tatsächlich in Gestalt von Terrorgruppen wie Daisch, Al Nusrah, Al Kaida etc. als die brutale Realität einer im Zuge westlicher Aggressionen freigesetzten und oft direkt unterstützten militärischen Gewalt, die daran mitgewirkt hat, ganze Länder wie Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien zu verwüsten und um Jahrzehnte zurückzuwerfen.

Votum der Islam-Gelehrten

Beide Erscheinungsformen sind auf religiös-kultureller Ebene eine ungeheure Herausforderung der Religion des Islam als Form des gesellschaftlichen Bewusstseins. Sie bewirken eine Erschütterung der kulturellen Grundlagen von Nationen, die von 700 Jahren islamischer Zivilisation geprägt sind. Wie ernst diese Sorge in der islamischen Welt genommen wird, zeigen zwei internationale Kongresse. Der erste Kongress fand Ende November 2014 in der iranischen Stadt Qum, einer Hochburg schiitischer Gelehrsamkeit, statt; der zweite Kongress eine Woche später, am 1. Dezember 2015, in Kairo an der Al Azra Universität, dem Zentrum des sunnitischen Islam. In Qum diskutierten 300 Gelehrte aus 83 Ländern der islamischen Welt über das Thema: „Die takfiristischen Gruppen aus der Sicht der Islamischen Gelehrten“. In Kairo waren es 700 islamische Denker und Persönlichkeiten aus 120 Ländern. Ihr Thema war „Kampf gegen den Terrorismus und Extremismus  und die Betonung der Rolle der Religionsgelehrten und -Institute gegenüber destruktiven Denkweisen.“ In Qum wie in Kairo nahmen Vertreter der verschiedenen islamischen Glaubensrichtungen teil. Einmütig verurteilten beide Konferenzen den takfiristischen Terrorismus als eine schwere unislamische Verfehlung. Wäre über die Kongresse in westlichen Medien gebührend berichtet worden, wäre zu erkennen gewesen, wie arrogant und lächerlich es ist, dass hierzulande stereotyp immer wieder an islamische Kleriker und Muslime appelliert wird, sich gefälligst von islamistischem Terrorismus zu distanzieren.

Ajatollah Khamenei, der geistige Führer der Islamischen Republik Iran, mit dem die Kongressteilnehmer in Qum am 25. November 2014 zusammentrafen, erklärte: „Diese Takfiri-Bewegung ist zwar nicht neu und es hat sie in der Vergangenheit bereits gegeben, aber sie wurde vor eigenen Jahren wiederbelebt und gestärkt und zwar aufgrund der Pläne der  Front arroganter Mächte und mit dem Geld einiger regionaler Staaten sowie mit Hilfe der Pläne  der Spionagedienste der imperialistischen Mächte, wie die USA, England, und das zionistische Regime.“ (3)

In Kairo erklärte Scheich Ahmad Al Tayyeb, der Leiter der Al Azhar Universität, in seiner Eröffnungsrede: „Die Extremisten haben durch Änderung der islamischen Gebote und der religiösen Lehren das Dschihad-Verständnis verfälscht und halten es für „mubah“ (erlaubt und freigestellt), die anderen zu töten.“ In der Schlusserklärung der Al Azhar-Konferenz heißt es: „Der Dschihad dient im Islam nur zur Selbstverteidigung und zur Abwehr von Aggressionen.“ An die Religionsgelehrten wird appelliert: „Alle sind für den Kampf gegen den Extremismus und den Terrorismus verantwortlich.“ Gegen den zionistische Staat gerichtet heißt es: „Wir fordern die Beendigung der Vergehen der Besatzer gegenüber den Heiligtümern in Palästina und die Verurteilung der Urheber dieser  Vergehen vor dem Internationalen Strafgerichtshof.“ (4)

Führende britische Muslime erklärten in einer Fatwa: "IS ist eine häretische, extremistische Organisation, und es ist religiös verboten (haram), sie zu unterstützen oder sich ihr anzuschließen. Weiterhin ist es für britische Muslime eine Pflicht, sich dieser giftigen Ideologie aktiv entgegenzustellen, vor allem dann, wenn sie in Großbritannien verbreitet wird." Der Verfasser der Fatwa, Usama Hasan, die von den namhaftesten Leitern islamischer Einrichtungen in Großbritannien unterschrieben wurde, klärte: "Es handelt sich um eine von der Religion inspirierte Ideologie. Man könnte sie als einen ins Extreme geführten politischen Islam bezeichnen. Dieser rechtfertigt Gewalt, um einen islamischen Staat zu errichten." (5)

Wahhabismus

Die zitierte Bemerkung von Khamenei, Takfirismus habe es schon in der Vergangenheit gegeben, er sei nur „aufgrund der Pläne der Front arroganter Mächte“ wiederbelebt worden, wird in der Region unmittelbar als Warnung an Saudi Arabien verstanden; denn der Wahhabismus, die in Saudi Arabien vorherrschende Glaubensrichtung, ist gerade durch den im Wahhabismus zum Ausdruck kommenden Takfirismus als extrem reaktionäre, fundamentalistische Tendenz gekennzeichnet. Abu Bakr Al Baghdadi, der Anführer der Daisch-Milizen, stützt sich ideologisch auf den Wahhabismus zur Rechtfertigung der Verfolgung und Ermordung von Schiiten, Alawiten ebenso wie Ungläubigen. Um Wahhabismus zu verstehen, muss man seine Ursprünge kennen. Dazu folgender historischer Exkurs: „Im Jahre 1744 trat in Arabien ein Prophet auf, der die Rückkehr zum „ursprünglichen“ Islam predigte. Er hieß Muhammed ibn Abdul Wahhab und hatte seine Studien unter dem Einfluss der ‚puritanischen‘ Religionsrichtung im Islam, der Hanbalistischen Doktrin in Damaskus absolviert. Er ging, nicht viel anders als Muhammed selbst mehr als 1000 Jahre vor ihm, nach anfänglichen Mißerfolgen in seiner Heimat eine Art Übereinkunft mit einem Fürsten von Arabien ein, mit Sa’ud, der in Dar’iya regierte. Es gelang dem Zusammenwirken von Fürst und Prophet, ihren Glaubens- und Herrschaftsbereich auszudehnen, bis er die ganze arabische Halbinsel umfaßte. Die Wahhabiten erschienen den ‚Muslimen‘ ihrer Zeit als Fanatiker und Halsabschneider. Muhammed Ali (der als Gouverneur Ägyptens westliche Methoden übernahm/Anm. KvR) und sein Sohn Ibrahim haben 1818 ihre religiöse Bewegung nach zwei harten Feldzügen im Blut erstickt; ihr Reich und ihr Glauben sind aber im 20. Jahrhundert durch den großen Abdul Aziz ibn Sa’ud neu erstanden, und ihre fundamentalistischen Glaubenssätze haben eine starke Wirkung auf den modernen Islam ausgeübt. (6)

Während nun seit den 70er Jahren Saudi Arabien dank seines Ölreichtums und der Protektion durch die USA zu einer regionalen Vormacht aufstieg, organisierte es zugleich eine gigantische, weltweite missionarische Kampagne, um den Wahhabismus als dominante Richtung im sunnitischen Islam durchzusetzen. Die meisten terroristischen Gruppen, die sich auf den Islam berufen, sind mehr oder minder stark von der Ideologie des Wahhabismus beeinflusst. In einer Sendung des Staatlichen Iranischen Rundfunks wird darauf hingewiesen, dass „keine der abwegigen Strömungen, die unter den Islamischen Rechtsschulen in den letzten Jahrzehnten entstanden und vom Wahhabismus angeführt werden, das zionistische Regime als eine Bedrohung für die Islamischen Gesellschaften bezeichnet und behandelt. Keine dieser Gruppen haben irgendetwas gegen das zionistische Regime in den besetzten Gebieten der Palästinenser und außerhalb von Palästina unternommen.“ Alleine dies deute, so der Sender, darauf hin, „dass die Islamfeinde wie Israel bei der Stärkung von takfiristischen Gruppen, ihrer Steuerung und Ausrüstung bei gewaltsamen Aktivitäten, mitwirken.“ (7)

Umma

Die erwähnten Konferenzen sind Ausdruck dafür, welche zentrale Bedeutung im Islam die Weltgemeinschaft der Muslime hat. Besorgnis der Geistlichen erregt vor allem der durch den takfiristischen Terrorismus hervorgerufene Ansehensverlust der islamischen Religion, die dadurch bewirkte Zwietracht und Spaltung in der Umma sowie die Verwicklung islamischer Staaten in Bruderkriege. In diesen die islamische Welt erschütternden Erscheinungen sieht die iranische Führung den Versuch der „Front der arroganten Mächte“ das „Islamische Erwachen“ von innen heraus zum Scheitern zu bringen.  

Islamische Einheit bedeutet Anerkennung der Vielfalt der Denkschulen und Glaubensrichtungen, die im Islam existieren. So erklärte Scheich Ahmad Al Tayyeb, der Vorsitzende der Al Azhar-Universität, vor einiger Zeit in einem Interview mit dem  ägyptischen Sender Nile-TV auf die Frage, ob nach seiner Meinung die schiitische Denkweise Fehler aufweise: „Nein! Welche Fehler denn? Vor fünfzig Jahren hat doch der damalige Direktor der Al Azhar Scheich Schaltut  eine Fatwa herausgegeben, dass der Schiismus die fünfte Rechtsschule des Islams ist.“

Nach dem Sieg der Islamischen Revolution erklärte Imam Khomeini die Tage vom 12. bis 17. des islamischen Monats Rabi ul Awwal zur Woche der Einheit,  da an beiden Daten der Geburtstag des Propheten von Sunniten und Schiiten jeweils unterschiedlich gefeiert wird. Die Islamische Republik Iran hat die Unterstützung für alle islamischen Bewegungen, ungeachtet ihrer religiösen Rechtsschule, zu ihrem außenpolitischen Prinzip gemacht. Iran unterstützt sowohl den nationalen Widerstand der schiitischen Hezbollah im Libanon als auch den palästinensischen Widerstand der sunnitischen Hamas. Mit dem religiös pluralistischen Syrien verbindet den Iran seit Jahrzehnten eine strategische Allianz. Überhaupt spielt die Islamische Republik Iran bei den Bemühungen um islamische Einheit eine herausragende Rolle. Alljährlich organisiert sie eine internationale Konferenz für Islamische Einheit. An der 28. Konferenz für islamische Einheit vom 7. bis 9. Januar 2015 nahmen Gäste aus 60 Ländern teil. Die Konferenz stand unter dem Motto: Die vereinte Ummah – Herausforderungen und Strategien. Der iranische Präsident Rohani betonte bei der Eröffnungsfeier, dass die Muslime mehr denn ja auf das leuchtende Vorbild des Propheten angewiesen seien, welcher die Muslime eine hohe Moral und die Verbesserung ihres materiellen und immateriellen Lebens gelehrt habe. Der Prophet, so Rohani, „begründete im Rahmen der himmlischen Offenbarung die vereinte islamische Ummah und wollte, dass wir diesen Weg wahren und fortsetzen.“ Aber Einheit solle nicht bedeuten, dass die Anhänger einer islamischen Rechtsschule sich von ihr abwenden und nicht mehr nach ihr handeln. Er betonte: „Wenn wir bedenken, dass die verschiedenen Rechtsschulen das gleiche Ziel verfolgen und nur verschiedene Wege gewählt haben, um an dieses Ziel zu gelangen und dass sie alle den Koran und die Gottergebenheit und die Befolgung der Sunna des Propheten ins Auge gefasst haben, dann  wird die Einheit möglich sein.“ (8)

Diese rein theologischen Reflexionen können auf der Ebene praktischer Außenpolitik dahingehend verstanden werden, dass der Wahhabismus, obgleich geistiger Nährboden des islamischen Fundamentalismus, von Teheran nicht sozusagen in toto „exkommuniziert“ werden soll. Denn die Außenpolitik des Iran dürfte davon ausgehen, dass der Widerstand gegen die feindliche Einmischung fremder Mächte in der Region einen Modus Vivendi  zwischen Iran und Saudi Arabien erforderlich macht.

Für die Chancen einer Annäherung der beiden regionalen Vormächte ist von ideologischer Bedeutung, dass der Wahhabismus für die national-staatlichen Interessen Saudi Arabiens auch zum Problem werden kann. „Es scheint, als sei die saudische Führungselite gespalten, schreibt Alastair Crooke, ein ehemaliger MI-6-Agent und Autor des Buches "Resistance: The Essence of Islamic Revolution". „Manche begrüßen, dass die ISIS-Milizen das Feuer der iranischen Schiiten mit sunnitischem Feuer bekämpfen; dass ein neuer sunnitischer Staat langsam Form annimmt, und zwar genau in der Region, die sie als das Erbe der historischen Sunniten betrachten. Und sie fühlen sich angezogen von der strikten salafistischen Ideologie der ISIS-Kämpfer. Andere Saudis haben mehr Angst und erinnern sich an den Aufstand der wahhabitischen Ichwan gegen König Abd-al Aziz, der in den späten 1920er-Jahren beinahe für den Zusammenbruch des Wahhabismus und der Dynastie der Saud gesorgt hätte.“ (9)

Fundamentalismus

Schließlich ist ein interessanter Aspekt der immanenten Debatte im Islam, dass religiöser Fundamentalismus, der in allen Religionen auftreten kann, nicht wie in der westlichen Islam-Debatte nach säkularen Kriterien sondern aufgrund der moralischen Prinzipien der jeweiligen Religion kritisiert wird. In einer deutschsprachigen Sendung des Rundfunks der iranischen Republik Iran unter dem Titel „Fanatismus ist Pest für alle Gottesreligionen“  heißt es: „Wir begegnen in der Geschichte aller Religionen göttlicher Herkunft fanatischen Strömungen. Ihre Mitglieder waren unwissende, starrsinnige die von herrschsüchtigen und listigen Anführern  missbraucht und zu Gewalt und Radikalismus verleitet wurden.“ Sodann werden die Besonderheiten des Fundamentalismus in den jeweiligen Religionen herausgearbeitet: „Zum Beispiel gibt es seit über einem Jahrhundert eine schwere Abweichung vom Judentum namens Zionismus. Diese fanatische Strömung baut offen auf  Gewalt und Terror auf.  Durch Einsatz von unmenschlichen Methoden hat der Zionismus bislang mehrere Millionen Palästinenser vertrieben oder getötet.  Seit Jahren sind  die fanatischen Zionisten, unterstützt von ihrem Besatzerregime,  bestrebt, die Al-Aqsa-Moschee , die erste Gebetsrichtung der Muslime, zu zerstören um auf ihren Trümmern den Salomo-Tempel aufzubauen.  Zur Erreichung dieses Ziels arbeitet Tel Aviv an der Judaisierung von  Al-Quds (Jerusalem), indem es in neuen Siedlungen Zionisten ansiedelt und die Muslime aus Al-Quds vertreibt. Dieser jüdische Fanatismus in Form des Zionismus hat dem palästinensischen Volk also schon seit vielen Jahren viel Leid zugefügt und er hat seit vielen Jahren den Nahen Osten nicht zur Ruhe kommen lassen.“ Bekanntlich stimmt eine solche Einschätzung mit der Haltung orthodoxer Rabbinern überein, die den Zionismus von Anfang an bis heute als Abkehr von der Religion des Judaismus, eben als unjüdisch kritisieren. Entsprechend geht die Kritik am christlichen Fundamentalismus von der christlichen Botschaft der Barmherzigkeit aus. Dennoch habe der christliche Westen gewaltige Verbrechen gegen die Menschheit begangen. Und weiter: „Eine der größten radikalen Gruppen im Christentum sind die Evangelisten (gemeint sind die Evangelikalen/Anm.K.v.R.) Sie werden auch zionistische Christen genannt, da sie eine Überzeugung hegen, der den jüdischen Fanatikern,  nämlich den Zionisten nahekommt.  Beide, Evangelisten und Zionisten,  sind davon überzeugt, dass ein jüdischer Staat von Euphrat bis zum Nil  gegründet, die  Al-Aqsa-Moschee zerstört und über ihren Trümmern der Salomo-Tempel errichtet werden müsse.“ Schließlich heißt es: „ Aber auch die jüngste Religion Gottes, der Islam blieb nicht von der Pest des Fanatismus und erstarrtem Denken sicher.“ Der Islam habe am meisten vor den Gefahren des Fanatismus gewarnt. Der Prophet Mohammad wird mit den Worten zitiert: „Wer zu Fanatismus  aufruft und für ihn  kämpft und stirbt, der ist nicht von uns.“ Doch, so weiter in der Sendung: „Inzwischen haben einige Gruppen, getarnt mit islamischen Bezeichnungen und Losungen und unter dem Deckmantel der Verteidigung dieser himmlischen Religion, den Weg des Fanatismus betreten. Sie begehen Taten, die mit keiner der islamischen Regeln vereinbar sind. Diese Gruppen zwingen die anderen, ihre abwegigen Ansichten zu befolgen. Da sie jedoch keine einleuchtenden Argumente für ihre Behauptungen haben, können sie den Mord an Muslimen nur damit begründen, dass sie sie vorher als  Ungläubige abstempeln und exkommunizieren. Das nennt sich Takfirismus.  Was diese takfiristischen Terrorgruppen in Syrien, Irak, Jemen, Nigerien, Paksitan und Afghanistan anstellen, rührt davon her, dass sie  niemanden von ihren Ansichten überzeugen können und ihr blinder  Fanatismus nicht zulässt,  die Ansichten des wahren Islams zu erkennen.“  (10)

Wenden wir uns zum Schluss noch einmal der westlichen Islam-Debatte zu. Da finden wir kaum eine Spur von der dialektischen Auffassung des Islam als einer religiösen Form des gesellschaftlichen Bewusstseins, die als widersprüchliche Einheit in der partikularen Vielfalt der Erscheinungsweisen existiert und sich weiter entwickelt. Stattdessen finden wir „essentialistische“ Auffassungen, die den Islam „wesenhaft“ auf eine Ideologie fixieren, die in der Wirklichkeit der Welt des Islam eben nur als extremer Fanatismus anzutreffen ist. Wir finden grobschlächtige Erklärungen aller möglichen Konflikte aus einem angeblich unüberwindbaren Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten. Im Grunde geht es aus westlicher Sicht immer nur darum: Wie gefährlich ist der Islam? Und unter dieser Fragestellung darum, ob überhaupt und wie weit es möglich ist, zwischen einem als gefährlich einzustufenden Fundamentalismus und sonstigen je nach politischer Opportunität  akzeptablen Formen des „politischen Islam“ zu unterscheiden? Damit werden die Begriffe „Islamismus“ und „politischer Islam“ zu polemischen Kampfparolen gemacht, die beliebig verwendbar sind, anstatt sie wissenschaftlich neutral als Oberbegriffe vielfältiger islamisch motivierter politischer Erscheinungen zu verwenden, die nach Auffassung der großen Mehrheit der Islam-Gelehrten mit der in der koranischen Botschaft enthaltenen Moral und Politik im Einklang stehen und allein von fanatischen Entartungserscheinungen abzugrenzen sind.

Als Fazit ergibt sich eine interessante Fragestellung. Wie verhält sich die materialistische Analyse des politischen Islam zu Auffassungen von Islam-Gelehrten, die von Moral und Politik in der koranischen Botschaft ausgehen? Können nicht beide Sichtweisen, sofern sie die objektive Dialektik der Realität reflektieren, in der Analyse der konkreten Formen des politischen Islam zu ähnlichen Ergebnissen in Bezug auf Fortschritt und Reaktion in der Entwicklung der Weltpolitik kommen?

*Überarbeitete Fassung eines Referats bei der Konferenz des Deutschen Freidenker-Verbands in Frankfurt/Main  am 12. September 2015 zum Thema „Nützlicher Feind: Der ‚Faktor Islam‘ in den Weltmachtstrategien des Westens“

Anmerkungen:

(1) Charlotte Wiedemann, Muslimische Gesellschaften sind komplex in freitag v. 20.09.2012 - https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-unfaehigkeit-zum-plural

(2) Die Zeit v. 30. Oktober 2014   http://www.zeit.de/2014/45/name-islamischer-staat-isis

(3) Die takfiristische Verschwörung in den Augen des Revolutionsoberhauptes, IRIB v. 03 Dezember 2014 http://german.irib.ir/nachrichten/revolutionsoberhaupt/item/272042-die-takfiristische-verschw%C3%B6rung-in-den-augen-des-revolutionsoberhauptes

(4) IRIB,Konsens über die IS in der Al Azhar, 10 Dezember 2014 http://german.irib.ir/radioislam/beitr%C3%A4ge/beitr%C3%A4ge/item/272520-konsens-%C3%BCber-die-is-in-der-al-azhar

(5) Kersten Knipp, Eine Fatwa gegen den "Islamischen Staat", Tlaxcala am 13/09/2014 http://tlaxcala-int.org/article.asp?reference=13447

(6) Arnold Hottinger, Die Araber – Werden, Wesen, Wandel und Krise des Arabertums, Zürich: Atlantis, 1960, S. 142-143

(7) Radikalismus unter den Anhängern muslimischer Rechtsschulen, IRIB,  11 März 2015, http://german.irib.ir/radioislam/aktuell/verschiedenes/item/279036-radikalismus-unter-den-anh%C3%A4ngern-muslimischer-rechtsschulen

(8) Islamische Einheit und die 28. Internationale Konferenz zu diesem Thema, IRIB Deutsches Programm, 13 Januar 2015;  http://german.irib.ir/radioislam/beitr%C3%A4ge/muslime-in-aller-welt/item/275088-islamische-einheit-und-die-28-internationale-konferenz-zu-diesem-thema

(9) Alastair Crooke, Eine Sache müssen Sie wissen, um den IS-Terror zu verstehen, Huffingtonpost v. 4. Sept. 2014 http://www.huffingtonpost.de/alastair-crooke/sie-werden-isis-nicht-verstehen-wenn-sie-die-geschichte-saudi-arabien-nicht-kennen_b_5765976.html

(10) Fanatismus ist Pest für alle Gottesreligionen, IRIB v. 14. Januar 2015 http://german.irib.ir/radioislam/beitr%C3%A4ge/beitr%C3%A4ge/item/275144-fanatismus-ist-pest-f%C3%BCr-alle-gottesreligionen