26.04.2016
Die Enteignung der Betriebe von Kriegs- und Naziverbrechern bleibt eine verfassungsgemäße Forderung
Am 23. April 2016 veröffentlichte das
Neue Deutschland den folgenden Beitrag von Prof. Georg Fülberth
(Marburg) zum Titel „Älter und jünger als 70: die
Eigentumsfrage“. Er richtet den Blick auf die vor 70 Jahren
allgemein verbindliche Forderung nach Enteignung der
Rüstungsindustriellen und der großen Förderer Hitlers
und Nutznießer der Nazis aus der Industrie- und Finanzwelt.
Leider sei festzustellen: „Der Untergang des Staatssozialismus
hat ab 1989 viele Linke so demoralisiert, dass sie von der
Eigentumsfrage am liebsten gar nichts mehr wissen wollten.“
Fülberth erinnert daran, dass das Grundgesetz und die
Länderverfassungen vielfach die Enteignung als
verfassungsgemäße antifaschistische Forderung ausweisen. Der
Wortlaut des Beitrages, den wir mit Genehmigung des Autors
veröffentlichen:
Am 30. Juni 1946 stimmten 77,56 Prozent der
Wahlberechtigten in Sachsen in einem Volksentscheid für die
entschädigungslose Enteignung der Betriebe von Kriegs- und
Naziverbrechern. Die anderen Länder der sowjetischen
Besatzungszone folgten im Juli und August, hier allerdings auf dem
Verordnungsweg.
Späten Betrachter(inne)n mag dies als der Beginn
der wirtschaftlichen Teilung Deutschlands und die Vorbereitung des
Übergangs in den Sozialismus erscheinen. Das ist falsch.
Seit Kriegsende war das Privateigentum an den
Großunternehmen in allen vier Besatzungszonen – also nicht
nur in der sowjetischen – zwar nicht beseitigt, aber suspendiert:
durch Beschlagnahme und Zwangsverwaltung in den Händen der
Militärregierungen. Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945
enthält ausführliche „Wirtschaftliche
Grundsätze“ über die Art der in Zukunft noch
gestatteten Produktion sowie über die Notwendigkeit der
Entflechtung. Über die Eigentumsordnung wurde dort nicht
entschieden. Aber eines war klar: den bisherigen Besitzern von
Großunternehmen war der Zugriff auf diese zumindest vorerst
entzogen. Einige von ihnen, darunter Friedrich Flick und Alfried Krupp
von Bohlen und Halbach, saßen auf der Anklagebank in einem der
Nürnberger Prozesse und im Gefängnis. Dass sie jemals wieder
Chefs sein würden, galt als unvorstellbar. In Potsdam war auch
vereinbart worden, dass Deutschland als wirtschaftliche Einheit zu
behandeln sei.
Der Volksentscheid in Sachsen und die
Nachfolgeregelungen in den anderen Ländern der Sowjetischen
Besatzungszone bezweckten nicht den Sozialismus, sondern waren
Maßnahmen der Entnazifizierung. Noch 1948 entfiel auf
Privatbetriebe ein ebenso hoher Anteil an der Produktion wie auf
volkseigene (jeweils 39 Prozent). Hinzu kamen Sowjetische
Aktiengesellschaften (SAG). Sie waren aus enteignetem deutschen
Unternehmen gebildet worden und hatten einen Anteil von 22 Prozent.
Auch die 1949 verabschiedete erste Verfassung der DDR
legte sich nicht auf den Sozialismus fest. Sie war für ganz
Deutschland entworfen, bestätigte zwar die Ergebnisse der
Enteignungen von 1946 und verbot Monopole, bestimmte aber auch in ihrem
Artikel 20: „Bauern, Handel- und Gewerbetreibende sind in der
Entfaltung ihrer privaten Initiative zu unterstützen. Die
genossenschaftliche Selbsthilfe ist auszubauen.“ Wie im
Grundgesetz der Bundesrepublik wurden das Eigentum (also nicht nur das
sozialistische) und das Erbrecht gewährleistet, Letzteres
„nach Maßgabe des bürgerlichen Rechts“ (Artikel
22). Bekanntlich erklärte erst 1952 die SED, mit der Schaffung der
Grundlagen für den Sozialismus zu beginnen zu wollen.
Die Länder der Sowjetischen Besatzungszone standen
mit ihrer Sozialisierungspolitik nicht völlig allein. Auch im
Westen gab es ähnliche Entwicklungen.
Die Verfassunggebende Landesversammlung Hessens
beschloss 1946 mit den Stimmen von SPD, KPD und CDU (!) den
Sozialisierungsartikel 41. Laut diesem wurden „in Gemeineigentum
überführt: der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze), die Betriebe der
Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das
an Schienen und Oberleitungen gebundene Verkehrswesen.“ In einer
Volksabstimmung am 1. Dezember 1946 fand er eine Unterstützung von
72 Prozent. 1947 wurde im Saarland – das Frankreich aus seiner
Besatzungszone ausgegliedert hatte und eine besondere politische
Einheit darstellte – eine Verfassung verabschiedet, deren Artikel
52 die Sozialisierung des Kohlen-, Kali- und Erzbergbaus, anderer
Bodenschätze, der Energiewirtschaft und des Verkehrs- und
Transportwesens vorschrieb. Im August 1948 beschloss der Landtag von
Nordrhein-Westfalen ein Gesetz zur Sozialisierung der Kohleindustrie.
Bekanntlich entwickelte sich die Eigentumsordnung in Ost
und West bald danach unterschiedlich. Wer genauer hinschaut, stellt
fest, dass sich dies schon vorher abzuzeichnen begann.
Die Sowjetische Militäradministration
unterstützte die Sozialisierungen in Ostdeutschland. Der
Oberbefehlshaber der US-amerikanischen Zone, General Clay,
verfügte, dass in Hessen über den Artikel 41 gesondert
abgestimmt werden sollte. Die Zustimmung zur Sozialisierung lag mit
ihren 72 Prozent nur vier Punkte hinter dem Ja zur Gesamtverfassung
zurück. 1948 verbot Clay die Sozialisierung der
Braunkohlebergwerke und der Eisen- und Stahlindustrie. Das
Wirtschaftsministerium schlug vor, die anderen Unternehmen so genannten
„Sozialgemeinschaften“ zu übertragen. Aber das
entsprechende Gesetz scheiterte 1950 im Landtag mit Stimmengleichheit.
Die Luft war raus, denn seit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949
gilt der hessische Sozialisierungsartikel nach dem Prinzip
„Bundesrecht bricht Landesrecht“ als rechtsunwirksam. Das
einzige Großunternehmen, das in diesem Bundesland sozialisiert
wurde, waren die Hüttenwerke von Buderus in Wetzlar. 1967 sind sie
vom Staat verkauft worden. Mit dem Beitritt des Saarlandes zur
Bundesrepublik am 1. Januar 1957 lief auch Artikel 52 seiner
Verfassung, der aber bereits vorher nicht umgesetzt worden war, leer.
Dem nordrhein-westfälischen Gesetz über die Sozialisierung
der Kohleindustrie von 1947 hatte die britische Besatzungsmacht sofort
die Genehmigung verweigert.
Damit waren die Unternehmer in diesem Kernland der
westdeutschen Montanindustrie aber immer noch nicht ihre Sorgen los.
Weiterhin standen ihre Unternehmen unter Zwangsverwaltung,
außerdem begannen in der britischen Zone Demontagen. In dieser
Situation suchten sie den Schulterschluss mit den Gewerkschaften und
waren noch unter Besatzungsrecht mit einer paritätischen Besetzung
der Aufsichtsräte in der Montanindustrie einverstanden. 1951 ist
diese auch durch Bundesrecht verankert worden. Die Mitbestimmung als
ein Parademerkmal des „Rheinischen Kapitalismus“ wäre
ohne die zunächst bestehende Drohung mit der Enteignung wohl kaum
zustande gekommen. Schließlich konnten die Unternehmer aufatmen:
nach einer „Neuordnung“ der Montanindustrie wurden sie
wieder als Anteilseigner eingesetzt.
Geblieben ist immerhin der Artikel 15 des Grundgesetzes
von 1949, wonach „Grund und Boden, Naturschätze und
Produktionsmittel […] zum Zwecke der Vergesellschaftung durch
ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in
Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft
überführt werden“ können. Einer Beseitigung des
Privateigentums an den Produktionsmitteln steht zwar die aktuelle
Machtstruktur der Bundesrepublik im Wege, aber nicht die Verfassung.
Unabhängig von den Entwicklungen 1945-1949 hat es
in Deutschland auch vorher schon umfangreiches Öffentliches
Eigentum gegeben: Eisenbahnen, kommunale Elektrizitäts- und
Gaswerke, Nahverkehrsbetriebe, Kliniken, städtische Wohnungen. Aus
dem geraubten Vermögen der Gewerkschaften finanzierte nach 1933
die faschistische „Deutsche Arbeitsfront“ das
Volkswagenwerk, das nach den Zweiten Weltkrieg zunächst in die
Treuhandschaft des Landes Niedersachsen überging. Die Vereinigte
Elektrizitäts- und Bergwerks AG (VEBA) war in der Weimarer Zeit
Eigentum des preußischen Staates, dann des Bundes. Ab 1960 wurde
privatisiert, an den VW-Aktien aber hält Niedersachsen noch eine
Sperrminorität, sehr zum Verdruss der Marktliberalen.
Der Untergang des Staatssozialismus hat ab 1989 viele
Linke so demoralisiert, dass sie von der Eigentumsfrage am liebsten gar
nichts mehr wissen wollten. Nicht so die Liberalen. Für die war
sie so aktuell wie eh und je. Das Ergebnis: Abräumung nicht nur
das staatlichen Eigentums im Osten, sondern vielerorts auch des
kommunalen im Westen. Die Ergebnisse können nunmehr besichtigt
werden, darunter die von Thomas Piketty sorgfältig analysierte
Konzentration der Vermögen. Umfairteilen wird sich nicht auf
steuerpolitische Korrekturen bei den Einkommen beschränken
können, sondern auch ans Eingemachte gehen müssen: ans
Eigentum. Wer davon einen neuen Staatsmoloch befürchtet, sollte
sich die ursprünglichen Vorschläge der Nachkriegszeit
ansehen. Der sächsische Volksentscheid zielte auf gemischte Formen
des öffentlichen Eigentums, nämlich die Übergabe der
enteigneten Betriebe nicht nur an die Landesverwaltung, sondern auch an
Städte, Gemeinden oder Genossenschaften. In den Aufsichtsgremien
der hessischen „Sozialgemeinschaften“ sollten die
Belegschaften, die Gewerkschaften, Kommunen, Konsumgenossenschaften,
Handelskammern und das Land vertreten sein. An restlose Verstaatlichung
war nicht gedacht, zunächst auch in Sachsen nicht.
Wer sich Gedanken über eine bessere
Eigentumsordnung der Zukunft macht, kann also auch in den Konzepten
jener Jahre fündig werden.
Georg Fülberth
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