09.04.2016
In Stein gehauen: Die deutsche Justiz tadelt Den Haag
Ulrich Sander erinnert in „Unsere
Zeit“ an den Umgang mit Kriegsverbrechern und ihren Taten. Die
Praxis, die man von Den Haag fordert, wurde in Deutschland keinesfalls
angewendet.
Der Herr ist 65 Jahre alt, hochrangiger deutscher Jurist
und Schüler jener Professorengeneration, die unter Hitler als
Juristen wirkte und dies unter Adenauer fortsetzte. Er war
Justizstaatssekretär, Bundesrichter und von 2001 bis 2008 erster
deutscher Richter des Haager Tribunals zur Verurteilung jugoslawischer
Politiker und Militärs. In der Süddeutschen Zeitung
schließt dieser Wolfgang Schomburg sich den empörten Stimmen
an, die den Freispruch von Voijislav Seselj, serbischer Politiker und
vieler Kriegsverbrechen angeklagt, scharf verurteilen. Dieser habe
Vertreibung und Mord befehligt, und Schomburg läßt
durchblicken, dass zu seiner Zeit in Den Haag ein Freispruch des
Nationalistenführers unmöglich gewesen wäre.
Warum eigentlich? Vertreibung und Mord zu befehligen,
hat in der westdeutschen Justizgeschichte stets Freisprüche und
Strafbefreiung ausgelöst, wenn die Täter Wehrmachts- und
später Bundeswehrsoldaten waren. Über eintausend
Bundeswehrangehörige, die vor 1945 der Wehrmacht oder SS
angehörten, wurden in den Ermittlungsakten der
Staatsanwaltschaften als mutmaßliche Mörder und
Totschläger geführt. Nicht einer wurde verurteilt.
In ihrer bekannten Erklärung „Gegen die neue
Art der Auschwitzlüge“ haben 1999 Holocaustüberlebende
um Peter Gingold und Julius Goldstein die Kriegsbegründung der
deutschen Regierung kritisiert und ausgeführt: „Soll
vergessen sein, daß nicht nur kaiserliches Heer, Reichswehr und
Wehrmacht erprobte Serbenschlächter in ihren Reihen hatten,
sondern auch die Bundeswehr? Wir verweisen auf Wehrmachtsoberst
Karl-Wilhelm Thilo, der in der Bundeswehr höchster General und
Kommandeur der 1. Gebirgsdivision – jener Division, die nun
wieder auf dem Balkan die deutsche Fahne vertritt – sowie
stellvertretender Heeresinspekteur wurde. Er unterzeichnete
Massenmordbefehle gegen Jugoslawen, und er schrieb an Büchern, die
in der Bundeswehr kursierten, um den Völkermord zu preisen.“
Nicht nur Thilo entging seiner Bestrafung und machte in
der Bundeswehr Karriere. Über einhundert Täter wurden von
antifaschistischen Gruppen und der VVN-BdA noch 2002 angezeigt,
erfolglos. So Reinhold Klebe. In der Begründung der Strafanzeige
hieß es: „In Kommeno in Nordgriechenland fuhren sie am
16.8.1943 zum Morden ‚feldmarschmäßig‘ mit
Maultieren und dem Küchenwagen vor und erschossen 317 Frauen,
Männer und Kinder. Die stolzen Soldaten der 12. Kompanie des
Gebirgsjäger-Regiments 98 unter dem späteren
Bundeswehroffizier und damaligen Major Reinhold Klebe, die sich auch
nach dem Krieg weiter ungestört im Kameradschaftskreis der
Gebirgstruppe treffen, ermordeten nicht nur die unschuldigen
Zivilisten, einzelne Soldaten machten sich noch über die
Frauenleichen her und schändeten sie, wie einer der Täter
später berichtete. Nach ‚getaner Arbeit‘ wurde dann
das Dorf zum privaten Raubzug freigegeben: ‚Die Soldaten waren
aber so erschöpft, dass sie von den herumliegenden Sachen kaum
etwas mitgenommen haben. Lediglich die Offiziere haben erbeutete
Teppiche und andere Wertgegenstände auf LKWs verladen und
weggebracht,‘ berichtete Franz T. bei seiner polizeilichen
Vernehmung 1970.“
Damals begann Wolfgang Schomburg seine Juristenkarriere.
Und 2002, als die deutsche Justiz, zu der Schomburg zählte, die
damals noch lebenden Wehrmachtstäter laufen ließ, da war er
schon in Den Haag. In der Süddeutschen Zeitung schrieb er jetzt in
seiner Anklage gegen seine heutigen internationalen Richterkollegen und
ihren Seselj-Freispruch: „Eine schwere Niederlage –
insbesondere soweit es um die friedensstiftende Wahrheitsfindung geht.
Was über Jahre in Stein gemeißelt worden war und vielen
Opfern Halt und vorsichtige Zuversicht gab, stellt dieses Urteil
infrage.“
Es fragt sich, wo der so behandelte Stein gestanden hat.
In der Bundesrepublik Deutschland gewiss nicht. Er stand nicht in Bonn,
wo der Bundeswehroberst Georg Klein, der am 4. September 2009 den Mord
an rund 150 afghanischen Zivilisten befehligte, nicht wegen
Kriegsverbrechen vor Gericht kam, sondern auch noch zum Brigadegeneral
befördert wurde. Er stand nicht in Ludwigsburg und Weilheim, wo
die Justizbehörden der Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes/Bund der Antifaschisten und der Gruppe Angreifbare
Traditionspflege mitteilten, dass man in der Angelegenheit noch
lebender Kriegsverbrechern aus den Reihen der Gebirgstruppe nichts mehr
tun könne. Und der Stein der Gerechtigkeit stand wohl auch nicht
in Rothenburg/Hessen. Dort traf am 6. November 1994 der 18-jährige
Piotr Kania am Bahnhof auf fünf Bundeswehrrekruten. Einer der
Rekruten war als Neonazis erkennbar, er wurde von Kania angesprochen
und erstach den jungen Antifaschisten. Die Staatsanwaltschaft stellte
das Verfahren ein, weil der bewaffnete Soldat gegen den Unbewaffneten
„in Notwehr“ gehandelt habe.
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