09.03.2016
Krieg und Flucht
gehören zusammen
Interview
mit Alice Czyborra, Mitglied des Geschäftsführenden
Landesausschusses der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund
der Antifaschisten
Zu den Bemühungen der
politischen „Mitte“, mit
Ausländerfeindlichkeit die Rassisten zu stoppen, hat Alice
Czyborra, Mitglied der Leitung der VVN-BdA-in Nordrhein-Westfalen,
Stellung genommen und diesen Bemühungen eine entschiedene
Abfuhr erteilt. Trotz bedenklicher Entwicklungen mache ihr aber auch
vieles Mut, was das Engagement der Bürger/innen für
Flüchtlinge anbelangt, sagte sie. Zu den Aufgaben der
antifaschistischen Kräfte heute gehöre es, den
Widerstand gegen den Nazifaschismus weiterhin zu würdigen und
als beispielgebend zu verdeutlichen. Das Interview mit der Zeitung
„Unsere Zeit“ vom 4. März 2016 hat den
Wortlaut:
UZ: Welche
Sorgen hast du als Antifaschistin angesichts brennender
Flüchtlingsheime, angesichts rechter Massenaufmärsche
auf den Straßen und des Erstarken der gesamten Rechten in
unserem Land?
Alice Czyborra: Natürlich sind die
Nachrichten über die Brandanschläge auf
Flüchtlingsunterkünfte im ganzen Land, so am
vorletzten Wochenende in Bautzen unerträglich.
Erschüttert haben mich die Beschimpfungen und Bedrohungen der
Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Clausnitz, eine weitere
Dimension von Rassenhass, Hass gegenüber Asylsuchenden,
Zuwanderern und der schon lange hier lebenden Migranten, Schon vor
Jahren hat die Friedrich-Ebert-Stiftung vor latentem Rassismus,
Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus in der
„Mitte der Gesellschaft“ gewarnt.
Die Diskussion der regierenden Politiker und in
den Medien dreht sich gegenwärtig darum, wie am besten die
Flüchtlinge aus unserem Land fernzuhalten sind. Man sieht: Die
Parolen der Pegidas, AfD und der CSU verfehlen nicht ihre Wirkung.
Erschreckend ist, in welchem Tempo immer weitere
Beschränkungen des Asylrechts beschlossen werden mit
dramatischen Auswirkungen für die Betroffenen. Inzwischen wird
sogar die Bundeswehr im Mittelmeer in Stellung gebracht, um die
Flüchtlinge abzuwehren. Militär und Rechtsextreme
ergänzen sich.
UZ: Warum
greifen aus deiner Sicht heute die Parolen der Rechten in diesem
erschreckenden Ausmaß?
Alice Czyborra: Es vermischen sich berechtigte
Einwände und Forderungen z.B. der Essener Bürgerinnen
und Bürger mit aggressiver Haltung gegenüber den
Geflüchteten. Kosten für Versorgung der
Flüchtlinge gehen zum großen Teil zu Lasten der
ohnehin klammen Kommunen. In Essen werden jetzt die bereits horrenden
Grundsteuern erneut erhöht. Die Schuld wird den Asylsuchenden
angelastet. Mich hat es besonders erschüttert, dass einige
SPD-Ratspolitiker aus dem Essener Norden mit entsprechenden
ausländerfeindlichen Argumenten den Ton angeben, statt zu
hinterfragen, warum die Rekordsteuereinnahmen nicht den Kommunen zugute
kommen, zu hinterfragen, wie viel uns Rüstung und
Kriegseinsätze kosten, statt die Umverteilung von unten nach
oben anzuprangern. Geschickt werden die sozial Benachteiligten gegen
Schutzsuchenden ausgespielt. Es ist eine Illusion der so genannten
Parteien der Mitte zu glauben, sie könnten mit
ausländerfeindlichen Parolen bei den kommenden Wahlen den
Zulauf am rechten Rand stoppen, indem sie ausländerfeindliche
Forderungen der Rechten aufgreifen.
UZ: Was macht
Dir Mut?
Alice Czyborra: Mut machen mir die Menschen, die
sich in den Runden Tischen engagieren. Als das Wort von Angela Merkel
„Wir schaffen das“, noch galt, waren in unserem
Stadtteil über 300 Menschen der Einladung zu einem Runden
Tisch gefolgt. Sie lassen sich heute nicht beirren von teilweisen
abschätzigen Äußerungen gegenüber
der Willkommenskultur. Es ist bewundernswert, wie sich Sport- und
Kulturvereine, Kinder- und Jugendorganisationen, christliche Gemeinde,
Verbände und auch viele Einzelpersönlichkeiten darum
bemühen, das Leben der Geflüchteten in den
unsäglichen Unterkünften zumindest ein wenig
erträglicher zu gestalten. Dieses Engagement kann nicht hoch
genug gewürdigt werden, steht es doch für das
humanistische Deutschland, das sich der Verantwortung bewusst ist, auch
der geschichtlichen Verantwortung. Das gibt mir viel Zuversicht,
gehöre ich doch einer Familie an, die nur überleben
konnte, weil ihr in Frankreich Asyl gewährt wurde und weil sie
so viel Solidarität erfahren konnte. Mein Vater Peter Gingold
– es muss Ende 1992 oder Anfang 1993 gewesen sein –
hatte eine Rede gegen die Einschränkung des Artikels 16
gehalten, heute so aktuell wie damals:
„Der
Artikel 16 ist eine Dankesschuld an die Völker, die so vielen
deutschen Flüchtlingen das Leben retteten. Der Artikel 16 gilt
als Zeichen eines humanen Deutschlands, in dem alle Menschen, gleich
welcher Herkunft, gleichberechtigt leben, ein Deutschland, das
mithilft, die Ursachen in der Welt zu beseitigen, die Menschen zu
Flüchtlingen machen. Und noch etwas, was unser Volk hierzu
verpflichtet, wie kein anderes auf dieser Erde: Es wird gesagt, es gibt
ja auch in anderen Ländern Rassismus,
Ausländerfeindlichkeit. Wohl wahr, sie sind keine spezifisch
deutschen Erscheinungen. Nun aber doch, es gibt einen kleinen
Unterschied zu allen anderen Ländern: In unserem Land hat der
Rassismus seinen grauenhaftesten Höhepunkt in der Geschichte
der Menschheit erreicht.“
UZ: Welche
Aufgaben haben heute die Antifaschistischen Kräfte?
Alice Czyborra: Gerade in diesen Tagen wehrt sich
das Bündnis Essen-stellt-sich-quer gegen eine
angekündigte NPD-Demonstration am 02. April unter dem Motto:
„Einmal Deutschland und zurück! Asylmissbrauch und
Islamisierung stoppen“
Es wäre zum Verzweifeln, wenn eine so
offensichtlich volksverhetzende Demonstration womöglich schon
wieder polizeilich genehmigt und geschützt wird, gäbe
es nicht das Engagement antifaschistischer Kräfte, unter ihnen
viele junge Menschen. Es gibt auch in Essen ein breites Spektrum aus
Initiativen, Verbänden, Parteien, unter ihnen
Sozialdemokraten, die das Vorgehen ihrer Genossen im Essener Norden
massiv kritisieren. Das antifaschistische Bündnis stellt sich
unermüdlich dem Rassismus, den rechten bis neonazistischen
Parteien entgegen. Das macht Mut.
Vor allem müssen wir immer wieder auf die
Fluchtursachen, den Zusammenhang von Krieg und Flucht. herstellen. Die
Flüchtlinge lassen sich nicht aufhalten, so lange die Kriege
im Nahen Osten toben. Die VVN-BdA betont, wie notwendig es ist, dass
antifaschistische Bewegungen und Friedensbewegungen zusammengehen.
Aktive Menschen in den Runden Tischen, in den antifaschistischen
Bündnissen für die diesjährigen
Ostermärsche zu gewinnen, sehe ich als wichtige Aufgabe der
kommenden Wochen.
UZ: Du
gehörst den „Kindern des Widerstandes“ an.
Deine Eltern, Ettie und Peter Gingold, waren bekannte antifaschistische
Widerstandskämpfer in unserem Land. Wie wollt ihr dieses
antifaschistische Erbe, den Mut und diesen Kampf weiter tragen?
Alice Czyborra: Heute bemühen sich Zeugen
der Zeitzeugen, die Erfahrungen der Widerstandkämpferinnen und
-kämpfer mit dem faschistischen Terror weiterzutragen anhand
der Schriften, Biographien, Artikel und dokumentarischen
Aufzeichnungen, die sie uns hinterlassen haben.
Wir, als die Gruppe „Kinder des
Widerstandes“, sehen uns in einer besonderen Verantwortung.
Wir wollen dem antifaschistischen Kampf ein Gesicht geben, indem wir
über unsere Eltern erzählen. Wir erzählen
auf persönlicher Art und Weise, was Widerstand, Verfolgung,
Inhaftierung, Folter und Terror für den einzelnen Menschen und
dessen Familien bedeutete. Ganz besonders möchten wir auf den
Arbeiterwiderstand aufmerksam machen, dem unsere Eltern
angehörten, und der in der Geschichtsschreibung kaum
erwähnt wird. Wir sind in letzter Zeit öfters in
Schulen aufgetreten, auch im Rahmen der Ausstellung
„Neofaschismus in Deutschland“, und so
können wir den Bogen von damals zu heute spannen, auffordern
sich einzumischen, damit die nachfolgenden Generationen nicht
Ähnliches erleben müssen.
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