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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

12.02.2016

Flüchtlinge Willkommen! Eine Herausforderung auch für Antifaschist/innen und Friedensbewegung

Rassisten und Nazis entgegentreten, Geflüchteten ein menschenwürdiges Leben ermöglichen!

Die Marxistischen Blätter Nr. 1-2016 veröffentlichen einen grundsätzlichen Beitrag von Cornelia Kerth (VVN-BdA). Er wird u.a. präsentiert mit den Worten von  MBl-Redakteur Lothar Geissler: Es steckt in der „Flüchtlingsfrage“ Sprengstoff, aber nicht im Gepäck derer, die als Schutzsuchende zu uns kommen. In ihr steckt vor allem politischer Sprengstoff. Unüberhörbar das Knarren im Gebälk und das Knurren in den Chefetagen der EU-Staaten und der Berliner GroKo. Unübersehbar der europaweite Rechtsdrall bei Wahlen, wie jüngst in Frankreich. Unübersehbar auch der Anstieg rassistischer Gewalt, der allein mit bundesdeutscher „Willkommenskultur“ nicht zu stoppen ist. Denn der explosivste Sprengstoff ist der soziale Sprengstoff, der in der „Flüchtlingsfrage“ steckt. Vor allem der muss verstanden und entschärft, statt weiter verschärft zu werden. (…) Da ist neben der Friedens- und Antifa-Bewegung, auf die sich Cornelia Kerth, Bundessprecherin der VVN-BdA, in ihrem MBl-Beitrag ausführlich bezieht, vor allem viel mehr Engagement und Widerstand der organisierten Arbeiterbewegung gefordert.

Der Aufsatz im Wortlaut:

Nachdem sich seit Ende 2014 die Zahl der Flüchtenden, die es schaffen bis nach Deutschland zu gelangen, Monat für Monat erhöht hat und insbesondere seit August täglich mehrere tausend Menschen eintreffen, liest man es überall: weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Eine Million von ihnen sind 2015 in Deutschland angekommen.

Die demonstrierte Unfähigkeit vieler zuständiger staatlicher Instanzen – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bund, Länder und Kommunen – sich auf den absehbaren Zustrom einzustellen und den Ankommenden eine menschenwürdige Unterkunft zur Verfügung zu stellen und ihre Asylanträge zu bearbeiten steht in krassem Widerspruch zu Angela Merkels Ankündigung „Wir schaffen das.“ (Un-)Verantwortliche Politiker_innen, die von „Flüchtlingskrise“ sprechen, Obergrenzen für das (noch in Resten vorhandene) Grundrecht auf Asyl, die Rückkehr zum offensichtlich gescheiterten Dublin-Verfahren[1] und die schnelle Abschiebung von „Wirtschaftsflüchtlingen“ und „Sozialtouristen“ fordern, schüren das Ressentiment.

Dass Menschen zu hunderten in riesige leerstehende Baumarkt-Hallen gepfercht werden und dort Monate bleiben müssen, dass in vielen Orten noch immer nicht beheizbare Zelte als „Erstaufnahme“ dienen, dass an Bahnhöfen zwischen Italien und Schweden täglich hunderte Geflüchtete auf den Böden der Bahnhofshallen schlafen müssen, trägt dazu bei, die behauptete Überforderung zu illustrieren.

Während sich einerseits tausende freiwillige Helfer_innen seit Monaten bemühen, das zur Schau gestellte staatliche Unvermögen zu kompensieren, trägt das ständig gezeichnete Katastrophen-Szenario andererseits braune Früchte: Noch nie gab es in der Bundesrepublik ein solches Ausmaß an rassistischer Mobilisierung. Sowohl die Beteiligung an Protesten „besorgter Bürger_innen“ als auch deren politische Bandbreite und die Form der Proteste haben rasant zugenommen. Hier wird gegen die Errichtung einer Unterkunft, dort gegen ihre Größe geklagt, hier wird „Nein zum Heim“ demonstriert und randaliert, dort wird eine Unterkunft angezündet – mehr als 60 Mal wurde Geflüchteten buchstäblich das Dach über dem Kopf abgebrannt.

In Teilen der neuen Bundesländer, insbesondere in Sachsen, ist die Stimmung dergestalt, dass man von einer autoritär-rassistisch-nationalistischen Vorherrschaft sprechen muss. Dies drückt sich nicht nur durch Mehrheiten auf der Straße, sondern auch im überwiegenden Handeln der Behörden aus. Nicht mehr nur Geflüchtete, sondern auch Journalisten, Flüchtlingshelfer, Sprachlehrer, Kommunalpolitiker verschiedener Parteien und Antifaschisten werden offen diffamiert, bedroht und angegriffen.

Insgesamt wurden bis Ende September 222 „fremdenfeindliche und schwerwiegende“ Angriffe auf Unterkünfte gezählt, bei denen insgesamt 104 Menschen verletzt wurden.[2] In weniger als einem Viertel der Fälle wurden bisher Täter ermittelt, in 12 Fällen Anklage erhoben, 4 Urteile gesprochen. Wie schon in den frühen 1990er Jahren ist die staatliche Reaktion auf massive rassistische Gewalt also nicht etwa eine verstärkte Anstrengung die Täter zu finden und ihr politisches Umfeld ins Visier zu nehmen, sondern eine Gesetzesänderung, die ihnen und dem sozialchauvinistischen Slogan „Deutschland ist nicht das Sozialamt der Welt“ entgegenkommt.

Die allererste Aufgabe von Antifaschist_innen und allen, die in einer solidarischen Gesellschaft leben wollen, muss unter den gegebenen Umständen sein, Rassisten und Faschisten überall im öffentlichen Raum entgegenzutreten und ihren Umtrieben Einhalt zu gebieten. Dazu gehört auch, von den politisch Verantwortlichen einzufordern, dass Geflüchtete geschützt, rassistische Gewalttaten aufgeklärt, Täter bestraft und die dahinter stehenden Netzwerke zu zerschlagen. Das beinhaltet, nun das NPD-Verbot erfolgreich zum Abschluss zu bringen, PEGIDA und AFD in der Öffentlichkeit nicht als Vertretung „besorgter Bürger“, sondern als die Brandstifter zu behandeln, die sie sind.

Der nächste Schritt muss sein offensiv zu werden und zu fordern, dass Geflüchtete menschenwürdig  untergebracht werden, dass sie schnell Zugang zu Gesundheits- und Bildungswesen und Arbeitsmarkt erhalten, um eine Lebensperspektive entwickeln zu können. Viele Willkommens-Initiativen und -Netzwerke haben Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themen gebildet und freuen sich über Unterstützung.

Roma nicht im Stich lassen, Bleiberecht fordern!

Von „schneller Integration“ ist nach anfänglichen öffentlichen Bekundungen – auch aus der Wirtschaft – nicht viel übrig geblieben. In Windeseile wurde inzwischen ein „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ verabschiedet und sofort in Kraft gesetzt, das die populistischen Forderungen der CSU aufgreift: Die Bundesländer können entscheiden, Geflüchteten anstelle von Bargeld wieder Gutscheine für bestimmte Warengruppen auszugeben, um angebliche “Fehlanreize” für die lebensgefährliche Flucht zu verhindern und mit der Erklärung von Kosovo, Albanien und Montenegro [3] zu „sicheren Herkunftsstaaten“ werden die als „Armutsflüchtlinge“ stigmatisierten Menschen aus den „Westbalkanstaaten“, generell aus dem Asylverfahren ausgeschlossen. Ihre Anträge werden als „unbeachtlich“[4] ohne Prüfung abgelehnt und sie sollen innerhalb von drei Wochen direkt aus der Erstaufnahme abgeschoben werden.

Anzumerken ist, dass damit fast nur Roma aus den Zerfallsstaaten des ehemaligen Jugoslawien gemeint sind, also Nachfahren von Opfern und Überlebenden des von Deutschen an der Minderheit der Sinti und Roma verübten Holocaust. 500.000 von ihnen wurden in ganz Europa ermordet. Anzumerken ist ebenfalls, dass die gesellschaftliche Teilhabe von Roma in der Bundesrepublik Jugoslawien verhältnismäßig gut war. In den ethnisch konstruierten Nachfolgestaaten sind sie von allem ausgeschlossen, der Zugang zu Gesundheit, Bildung oder Arbeitsmarkt ist ihnen nahezu unmöglich. Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt sind ihre alltäglichen Erfahrungen in den angeblich sicheren Herkunftsstaaten.

So selbstverständlich es für Antifaschist_innen ist, gerade mit den nach Deutschland geflüchteten Roma Solidarität zu üben, so schwierig ist das Bleiberecht tatsächlich zu durchzusetzen. Neben dem gesetzlichen Ausschluss vom Asyl stellt der in Deutschland noch immer allgegenwärtige Antiziganismus ein ernstes politisches Problem dar. Beides erfordert eine langfristig angelegte Informations- und Bündnisarbeit. Immerhin: es gibt eine große Zahl von Berichten über die Zustände, unter denen abgeschobene Familien dort leben müssen[5], und in vielen Städten gibt es Initiativen und Organisationen von Roma, mit denen man zusammenarbeiten kann. Der Völkerrechtler Norman Peach hat ein Gutachten erstellt, in dem er begründet, warum er die Annahme „sicherer Herkunftsstaaten“ im Fall der Roma für rechtswidrig hält und Evangelische Kirche und Bischofskonferenz haben sich in einer gemeinsamen Stellungnahme ebenso geäußert. Das kann eine gute Grundlage für gemeinsame Veranstaltungen  und Aktionen sein.

Ausbau der Festung Europa verhindern, Menschenrechte verteidigen!

Nur einen Tag nach Verabschiedung des “Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes”, begann die CSU die nächste Sau durch 's Dorf zu treiben. Ausgerechnet für Geflüchtete aus dem syrischen Bürgerkrieg soll das Recht auf Familienzuzug  “ausgesetzt” werden. Im Klartext heißt das, die Frauen und Kinder, die irgendwo zurückgeblieben sind, weil man ihnen den gefährlichen Weg über das Meer und hunderte Kilometer zu Fuß ersparen wollte, können dann von ihren immer wieder zitierten allein reisenden Männern nicht wie geplant auf sicherem Wege nachgeholt werden, sondern bleiben allein extrem prekären Verhältnissen ausgeliefert.  Noch im Dezember soll dies nun mit einem „Gesetz über beschleunigte Asylverfahren“ tatsächlich beschlossen werden.

Zudem werden Geflüchtete besonders seit den Anschlägen von Paris immer wieder als „Sicherheitsrisiken“ ausgemacht. Die CSU-Forderung nach Lagern, in denen sie zwangsweise für die Dauer der Registrierung und Sicherheitsüberprüfung und ggf. bis zur Abschiebung eingesperrt bleiben sollen, ist seitdem Bestandteil der politischen Debatte.  Auch dies wird mit dem neuen Gesetz zumindest für „Balkan-Flüchtlinge“ beschlossen.

Gegen Kooperation mit Erdogan ...

Die ganz großen Lager sollen allerdings in der Türkei errichtet werden. Ausgerechnet der Antidemokrat und Kurden-Schlächter Erdogan wird nun zum wichtigen Verbündeten geadelt, der gegen politische Rückendeckung und Milliarden aus Europa die Fluchtrouten nach Europa versperren soll. Flüchtende aus Afghanistan und dem Iran, aus Syrien und dem Irak sollen in der Türkei stranden und dort hoffen, zu denen zu gehören, die im Rahmen eines „Kontingents“ weiterreisen können. Vermutlich wird man sich darum bewerben müssen und hat die besten Chancen, wenn man zur Verringerung des Fachkräfte-Mangels beitragen kann. Wer arm, alt, krank und ohne Ausbildung ist, bleibt dann zurück. Ein wenig erinnert das an die Homelands des südafrikanischen Apartheid-Staates.

Die EU zahlt Milliarden für Lagerunterhaltung und Sicherung der Grenze am Mittelmeer. Man fragt sich, wie das bei einer 2.500 km langen Küste möglich sein soll und kommt schnell auf die Idee, dass es  vermutlich nur um die Abschnitte geht, von denen man auf relativ kurzem Weg zu den griechischen Inseln kommt. Weiteres Massensterben auf See wird also in Kauf genommen.

Der politische Preis, den Erdogan fordert, ist die Einstufung der Türkei als sicheren Herkunftsstaat und ein „Neustart“ der Verhandlungen um den türkischen EU-Beitritt. Mit beidem wird Europa den wieder aufgenommenen Krieg gegen die Kurden, die Verfolgung politischer Gegner_innen, die systematische Ausschaltung von Kritiker_innen seiner Politik aus öffentlichen Funktionen und die Zensur öffentlicher Medien decken und der politischen Opposition in den Rücken fallen.

… und afrikanischen Despoten protestieren!

Dem entspricht der öffentlich weit weniger beachtete „Khartoum-Prozess“[6]. Hier verhandeln europäische Innen- und Außenminister mit afrikanischen Staaten wie Eritrea, Sudan und Somalia darüber, wie sie in die Lage versetzt werden können, ihre Bürger an der Flucht zu hindern.  Mit am Tisch sitzen Vertreter von „Transitländern“ wie Ägypten, Libyen und Tunesien die dafür sorgen sollen, dass Flüchtende an der Weiterreise gehindert werden. Wie in der Türkei sollen dort riesige Auffanglager, genannt „Transitzonen“ entstehen, von wo aus handverlesene Personen irgendwann nach Europa weiterreisen können während die große Masse abgeschoben oder sich selbst überlassen wird.

Gegen diese Menschenrechtsverletzungen in gigantischem Ausmaß muss Protest organisiert werden. Türkische Oppositionelle, Kurdinnen und Kurden gehören schon seit langem zu unseren Bündnispartner_innen. Unterstützen wir sie verstärkt bei ihren Protesten gegen das Erdogan-Regime und verbinden diese mit dem Protest gegen die europäische Kumpanei. Geflüchtete aus Eritrea werden zu 99 % (!) als Asylberechtigte anerkannt. Nehmen wir Kontakte zu ihnen auf, informieren wir uns und die Öffentlichkeit darüber, wie auch die Bundesregierung das dortige Regime darin unterstützen will „Fluchthelfer“ zu bekämpfen.  

Fluchtursachen bekämpfen: Kriege ächten,

Die mit Abstand wichtigste Ursache für Flucht und Vertreibung sind noch immer Kriege. Bürgerkriege, Kriege um Grenzen, Kriege um Einflusszonen, und zunehmend kehrt der Krieg als vermeintlich legitimes Mittel von Politik zurück. Auch Deutschland führt seit 1998 wieder Kriege und ist seit 5. Dezember zum dritten Mal nach Jugoslawien und Afghanistan nun in Syrien Kriegspartei, zum dritten Mal ohne völkerrechtliche Grundlage.  Das schwächt die UNO und das internationale Rechtssystem.

Irak, Afghanistan, Libyen – wo immer die „Allianz gegen den Terror“ in den letzten 15 Jahren zugeschlagen hat, blieben verwüstete Länder zurück, aus denen bis heute Millionen fliehen. Noch immer gehören Afghanistan und der Irak zu den 5 Ländern, aus denen 2015 die meisten Menschen nach Deutschland gekommen sind, auch wenn die Bundesregierung verlautet, dass Afghanen keine Aussicht auf Asyl haben sollen, weil es dort die in den 1990er Jahren ins Asylverfahrensgesetz geschriebenen „inländischen Flucht-Alternativen“ geben soll.

Auch der „Islamische Staat“, der seinerseits ein Produkt des Irak-Krieges ist, wird nicht durch Bomben auf Raqqa besiegt werden. Er wird seine Attraktivität für die „verlorenen“ Jugendlichen aus den Vorstädten dann verlieren, wenn sie in den europäischen Ländern ihrer Geburt eine Lebensperspektive gewinnen.

Machen wir gegen die neue deutsche Kriegsbeteiligung mobil! Machen wir sichtbar, dass mehr als die Hälfte den Menschen in diesem Land diese Kriegsbeteiligung ablehnt. Verlangen wir zivile Konflikt-Regelungen in Verantwortung der UNO und unter Einbeziehung der syrischen Konfliktparteien: Regierung, Opposition, Vertretung der Kurden-Gebiete, verlangen wir die Rückkehr zum internationalen Recht wie es in der Charta der Vereinten Nationen verankert ist.

Auf jeden Fall müssen Kriege als Ursache von Flucht und Vertreibung bei allen Anti-Kriegs-Aktivitäten eine wichtige Rolle spielen. Unterstützen wir die „Lampedusa“-Gruppen[7] in den Städten, in denen die durch den Krieg aus Libyen vertriebenen Afrikaner mit der Losung „We are here because you are there“ für ihr Recht auf Aufenthalt, Arbeit, Zukunft in Deutschland kämpfen.

Waffenexporte verbieten,

An allen Kriegen dieser Welt sind deutsche Waffen beteiligt, oft auf beiden Seiten. Der Exportweltmeister steht bei Waffenexporten auf Platz 3, Panzer, Fregatten, U-Boote, Sturmgewehre, Elektronik, Blaupausen – alles ist gefragt, alles wird verkauft, alles kommt zum Einsatz. Solange die Produktion von Waffensystemen durch die garantierte Abnahme bei Übernahme aller Kosten durch den Verteidigungshaushalt eine lukrative Branche ist und bei Exporten fetter Extragewinn lockt, wird sich daran wenig ändern.

Allerdings rückt der Waffenexport langsam wieder ein wenig ins Blickfeld einer größeren Öffentlichkeit und es gibt mit der „Aktion Aufschrei“[8] eine ziemlich breit angelegte und Kampagne zum Stopp der Waffenexporte und eine Online-Petition zum Waffenhandel durch den Hamburger Hafen.

Weltwirtschaftsordnung ändern!

Das  gigantische ökonomische Ungleichgewicht in der Welt und die damit verbundene Unterteilung der Welt in Zonen unterschiedlichen Reichtums und unterschiedlicher Lebensbedingungen und -chancen haben ihre Wurzeln in der europäischen Expansion, die vor 500 Jahren begann und historisch ohne Vorbild war. Es ging nicht wie in früheren Eroberungszügen darum, durch Tribute am Reichtum anderer teilzuhaben. Es ging darum, sich die Verfügung über Land, Menschen und Produktion anzueignen, sie vollständig den ökonomischen Bedürfnissen des „Mutterlandes“ unterzuordnen.

Die Erlangung der politischen Unabhängigkeit der ehemals kolonisierten Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas stellte  i. d. R. keinen Bruch mit den ökonomischen und sozialen Verhältnissen dar. Die gut 4 Jahrzehnte lang real existierende sozialistische Staatengemeinschaft konnte daran nicht viel ändern. Dennoch: mit dem Untergang der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Staaten Osteuropas sowie mit dem gleichzeitigen Verschwinden der bis dahin durchaus in den internationalen Institutionen nicht unbedeutenden Bewegung der Blockfreien fielen die letzten Hemmungen, den Zugriff auf die Ressourcen der Welt wieder ganz direkt zu beanspruchen.

Davon zeugen schon die “Verteidigungspolitischen Richtlinien” der Bundeswehr aus dem Jahr 1992. Dort werden “Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung [9] zu den vitalen Sicherheitsinteressen Deutschlands gezählt. Seit 2008 schützt nun die Bundesmarine den Seeweg um das Horn von Afrika vor somalischen Piraten, die früher Fischer waren und deren Fischgründe von international operierenden schwimmenden Fischfabriken leergefischt sind. Auch das ist schließlich freier Welthandel.

Eine wichtige Rolle für den freien Welthandel spielen auch Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank, deren Politik nun nahezu allein von den USA und den führenden EU-Staaten bestimmt wird.[10] Ihre „Strukturanpassungsprogramme“ sorgen dafür, dass die ärmsten Länder der Welt ihrem Diktat vollständig ausgeliefert sind: die Subventionierung einheimischer Produktion wird untersagt, Märkte müssen geöffnet, Anbauflächen für Exportproduktion ausgeweitet werden.

Die Folgen sind bekannt: Tomaten aus EU-Überschussproduktion überschwemmen Märkte in Nigeria und treiben die dortigen Bauern in die Pleite; Hühnerteile, die in Europa nicht verkäuflich sind, werden zu Dumpingpreisen z. B. nach Ghana geschafft und ruinieren dort die Hühnerzucht. Wo früher Nahrungsmittel für die lokale Bevölkerung in Malawi angebaut wurden, wachsen heute Rosen für den europäischen Markt. Es könnten noch hunderte Beispiele folgen.

Dazu kommen die ökologischen Katastrophen wie die Versteppung der Böden durch Plantagen-Monokultur und die damit einhergehende Ausdehnung der Wüste am Südrand der Sahara oder die Verseuchung ganzer Landstriche durch verrottende Ölleitungen im Süden Nigerias.

Solange sich an diesen Verhältnissen nichts ändert, werden Menschen ihr Land verlassen, weil sie dort keine Lebensgrundlage mehr finden und sie werden den Weg nehmen, den die Reichtümer ihrer Länder genommen haben. Und mehr und mehr werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Menschen vor den Folgen des Klimawandels fliehen. Davon betroffen sind hauptsächlich die Regionen der Erde, die den geringsten Anteil an seiner Verursachung haben.

Es ist modern geworden, dass Politiker_innen von der Notwendigkeit sprechen, Fluchtursachen zu bekämpfen. Greifen wir das Thema auf und machen deutlich, dass, wer es damit ernst meint, die Welt verändern muss.

Solidarität gegen völkischen Nationalismus!

Und weil das noch ein langer Weg ist, werden noch viel mehr Flüchtlinge kommen. Kein Gesetz, kein Lager, kein Meer und keine Zäune werden sie aufhalten. Die Illusion, man könne Inseln des Wohlstands gegen das Elend abschotten, das unsere Wirtschafts- und Lebensweise anrichtet, ist geplatzt. Das wird unsere Gesellschaft verändern. Die Frage ist, wie?

Überall in Europa haben rechtspopulistische und neofaschistische Parteien in den letzten Monaten rasant an Zuspruch gewonnen. Die Wahlergebnisse der FPÖ in Wien, der Wahlsieg der PiS in Polen und der Triumph der Front National bei den Regionalwahlen in Frankreich machen das sehr deutlich. Mit der AfD gibt es zum ersten Mal seit 1945 in Deutschland eine bundesweit erfolgreiche Partei rechts von CDU und CSU, die nicht nur zur Wahl steht, sondern auch versucht, ihre Anhängerschaft auf die Straße zu bringen.

Noch gelingt ihr das nur begrenzt. Allerdings haben sämtliche Studien über die Verbreitung extrem rechter Einstellungen in der bürgerlichen „Mitte“ der Gesellschaft in den letzten Jahren sehr deutlich gemacht, dass  das nicht so bleiben muss. Nationalistische und sozialchauvinistische Haltungen werden von mehr als der Hälfte der Befragten wenigstens „teilweise“ geteilt. Wie wird sich das weiter entwickeln, nachdem solche Positionen durch die ständige Wiederholung im öffentlichen Raum (Talkshows, Interviews) quasi enttabuisiert werden? Wie wird sich das weiter entwickeln, wenn es nach dem Kriegseintritt in Syrien tatsächlich einmal zu einem größeren Terroranschlag in Deutschland kommt?

Wir stehen vor gigantischen Herausforderungen, die wir nur gemeinsam mit vielen anderen meistern können. Es geht angesichts der zunehmenden Zustimmung zu autoritär-rassistisch-nationalistischen Politik-Konzepten tatsächlich um die Verteidigung der (noch immer nicht  gänzlich eingelösten) Werte der französischen Revolution, die die Grundlage der allgemeinen Menschenrechte und jeder fortschrittlichen Gesellschaftskonzeption sind. Alle, die dazu stehen, müssen für die aktive Auseinandersetzung mit den Rechtskräften gewonnen werden, um deren Einfluss in unserer Gesellschaft zurückzudrängen.

Dazu gehören auf jeden Fall die vielen tausend Menschen die seit Monaten tagtäglich viel Zeit und Kraft aufwenden, um Geflüchteten beizustehen und für das Notwendigste sorgen. Dazu gehören alle, die sich immer wieder Rassisten und Nazis entgegenstellen. Dazu gehören diejenigen, die in ihrem Stadtteil dagegenhalten, wenn sich Initiativen gegen Unterkünfte zum Sprachrohr „der“ Nachbarschaft erklären, Schülerinnen und Schüler, die sich der Abschiebung von Klassenkamerad_innen entgegenstellen. Dazu gehören Kirchengemeinden und jüdische Gemeinden, die Geflüchteten Schutz vor Abschiebung gewähren und Moscheen, die Schlafplätze für weiterreisende Flüchtende zur Verfügung stellen.

Wenn es uns dann noch gelingt, dass die Gewerkschaften ein wenig mehr Enthusiasmus an dieser „Front“ aufzubringen, dann können wir vielleicht sogar in der Auseinandersetzung einen Schritt nach vorne kommen.

1 Die Dublin-Vereinbarungen schreiben verbindlich fest, dass jeder Asylsuchende seinen Antrag im ersten erreichten Land stellen muss, in dem ein rechtsstaatliches Asylverfahren gewährleistet ist. Dies wird üblicherweise in allen EU-Mitgliedsländern und allen Ländern angenommen, die als „sichere Drittstaaten“ gelten.

2 Spiegel online Panorama 03.12.2015

3 Bosnien/Herzegowina, Serbien und Mazedonien wurden schon im November 2014 zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt.

4 Gegen als „unbeachtlich“  abgelehnte Anträge ist der Rechtsweg praktisch ausgeschlossen.

5 Z. B. http://www.alle-bleiben.info/category/material/

6 http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/khartoum_erklaerung_wie_europa_fluechtlinge_aus_afrika_abwehren_moechte/

7 Siehe z. B. http://lampedusa-hamburg.info/de/

8 http://www.aufschrei-waffenhandel.de/

9 In der Fassung von 2011 ist die „gerechte Weltwirtschaftsordnung“ aus der Formulierung verschwunden...

10 Auf die Entwicklung, dass sich inzwischen mit Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika eine Gruppe von Staaten mit einem wirtschaftlichen Potential herausgebildet hat, das eine ernste Konkurrenz für die transatlantischen Partner USA, Kanada und EU bedeutet und dass diese bemüht sind, auch politisch mit der Gründung einer eigenen Entwicklungsbank und eines Währungsfonds ein Gegengewicht zu setzen, kann hier nicht näher eingegangen werden. Diese globale Auseinandersetzung bildet allerdings auch den Rahmen für vielfältige Auseinandersetzungen. In diesem Zusammenhang sei nur auf  TTIP, CETA und die Forderung nach Interventionsfähigkeit der Bundeswehr in mehreren „asymmetrischen“ Kriegen zur gleichen Zeit hingewiesen.