19.11.2015
Erklärung von Ulla Jelpke zu den Massakern von Paris
Ulla Jelpke, Linkes MdB und aktiv in der
VVN-BdA, hat in einer persönlichen Erklärung zu den
jüngsten Ereignisse in Paris Stellung genommen, die wir hiermit
zur Kenntnis geben. „Meine Trauer gehört den über 130
Opfern der Massaker des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Paris.
Mein Beileid gilt ihren Angehörigen und Freunden. Gleichwohl kann
ich in den Anschlägen in Paris keine „neue Dimension“
des Terrors sehen, nur weil diesmal hauptsächlich
Europäer in einer westeuropäischen Metropole die Opfer
waren.“
Denn ich trauere ebenso um über 120 Zivilisten, die
der IS im Juni bei einem erneuten Angriff auf die syrisch-kurdische
Stadt Kobani an einem einzigen Tag niedermetzelt hatte und die der
internationalen Presse nur noch eine kurze Nachrichtenmeldung wert
waren. Ich trauere um über 130 linke Aktivistinnen und Aktivisten
in der Türkei, die bei zwei Selbstmordanschlägen des IS in
Suruc und Ankara im Juli und Oktober getötet wurden. Und meine
Trauer gilt den 224 Insassen eines russischen Flugzeuges, zu dessen
Absturz über Ägypten sich Anfang November ebenfalls der IS
bekannt hatte, ohne das in europäischen Hauptstädten die
Fahnen auf Halbmast gezogen wurden. Ein solches Messen mit zweierlei
Maß auch in der Trauer offenbart eine überheblich-koloniale
Sichtweise, die einfach unerträglich und verlogen ist.
Doch ebenso unerträglich ist es, wenn jetzt rechte
Ordnungspolitiker versuchen, die Toten von Paris für höchst
fragwürdige innen- und sicherheitspolitische Zwecke
auszuschlachten. Die deutschen Geheimdienste sollen nach dem Willen der
Bundesregierung mit 500 Planstellen weiter aufgerüstet werden. Der
Bundesnachrichtendienst soll gestärkt werden, obwohl er weder die
eigenen Bürger noch Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der
Bespitzelung durch den US-Dienst NSA schützen konnte sondern
diesem im Gegenteil noch zuarbeiten. Ebenfalls gestärkt werden
soll der Verfassungsschutz, dessen zwielichtige Rolle in Verbindung mit
dem NSU-Nazi-Terror bis heute nicht aufgearbeitet ist. Und in der Union
ertönt erneut der Ruf nach einem – verfassungswidrigen
– Einsatz der Bundeswehr als „Hilfspolizei“ im Inland.
Paris ändere alles, die Zeit
„unkontrollierter Zuwanderung und illegaler Einwanderung kann so
nicht weitergehen“, twitterte CSU-Generalsekretär Markus
Söder, während Welt-Korrespondent Matthias Matussek durch den
Terror von Paris „auch unsere Debatte über offene Grenzen
und eine Viertelmillion unregistrierter junger islamischer Männer
im Lande in eine ganz neue frische Richtung bewegen“ sieht.
Erfreulicherweise bekamen Söder wie Matussek deutliches Kontra aus
den eigenen Reihen. Doch es ist nicht zu übersehen, dass Pegida
& Co bis hin zum rechten Rand der Unionsparteien die Pariser
Anschläge jetzt zu weiterer Stimmungsmache gegen Flüchtlinge
im Allgemeinen und Muslime im Besonderen nutzen werden. Angesichts der
Tatsache, dass ein Großteil der Flüchtlinge auf der Flucht
vor dschihadistischem Terror in Syrien, dem Irak und Afghanistan ist,
erscheint eine solche Stimmungsmache mehr als perfide.
Es mag eine schmerzhafte Erkenntnis sein: aber der
syrische Präsident Bashar al Assad hat recht, wenn er einer
„fehlgeleiteten“ französischen Politik eine
Mitverantwortung an der „Verbreitung des Terrorismus“ gibt.
So spielte Frankreich eine führende Rolle beim Luftkrieg gegen
Libyen und dem Sturz sowie der Ermordung von Revolutionsführer
Obers Muhamma al Ghadaffi im Jahr 2011. Eine Folge davon ist es, dass
das nordafrikanische Land heute als feste Basis für den IS und Al
Qaida dient. Frankreich war innerhalb der EU diejenige Macht, die sich
am vehementesten für Waffenlieferungen an die sogenannte syrische
Opposition gegen Präsident Assad stark machte. Eine entschiedene
Mitverantwortung der westlichen – imperialistischen –
Nahostpolitik am Entstehen und der Ausbreitung des IS und anderer
dschihadischer Terrororganisationen ist nicht von der Hand zu weisen.
Auch den EU-Regierungen sollten die Erkenntnisse des
Pentagon-Geheimdienstes aus dem Jahr 2012 vorgelegen haben, wonach die
bewaffneten „Rebellen“ in Syrien mehrheitlich
salafistischen Gruppierungen einschließlich al Qaida
angehörten und die Bildung eines islamistischen Kalifats im Norden
Syriens drohte. Dies sei jedoch im Interesse „unserer
Bündnispartner“, der Türkei und der Golfstaaten, da so
die Assad-Regierung geschwächt werde, hieß es damals aus
Washington. Jetzt ist den westlichen Staaten der auf dem Boden ihrer
neokolonialen Nahost-Politik im Irak, Libyen und Syrien entstandene und
jahrelang gehätschelte IS über den Kopf gewachsen. Das
Frankenstein-Monster hat sich als unberechenbar und unkontrollierbar
erwiesen und soll wieder zur Räson gebombt werden. Da EU und NATO
zugleich eine Stärkung ihrer Gegner – der syrischen
Regierung, des Iran und nicht zuletzt des jetzt aktiv in den
Syrien-Krieg eingreifenden Russland – befürchten, blieb das
westliche Vorgehen gegen den IS seit über einem Jahr halbherzig
und wenig erfolgreich.
Gleichzeitig üben Bundeskanzlerin Angela Merkel,
US-Präsident Barack Obama und die anderen westlichen Staats- und
Regierungschefs auf dem G20-Gipfel in Antalya den Schulterschluss mit
dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Dieser gilt
als einer der Hauptunterstützer des dschihadistischen Terrorismus
in Syrien. Jahrelang konnten IS, Al Qaida und andere
Terrororganisationen die Türkei als sicheres Hinterland nutzen und
von dort ihre Angriffe auf syrische Regierungstruppen sowie die
kurdischen Selbstverwaltungskantone nutzen. Und weiterhin gibt es
Hinweise auf eine aktive Unterstützung der zu Al Qaida
gehörenden Al Nusra-Front in Syrien durch die Türkei. Erst
letzte Woche sollen aus der Türkei Luft- und Panzerabwehrraketen
an diese Terrororganisation bei Aleppo geliefert worden sein. Zudem
greift Erdogan zum Kampf gegen die kurdische und linke Opposition im
eigenen Land auf Dschihadisten als Truppen fürs
„Grobe“ zurück. Bei den Angriffen von
Spezialpolizeieinheiten auf kurdische Städte sind
arabischsprachige Dschihadisten mit von der Partie und auch von den
Attentäter von Suruc und Ankara führen Spuren zur
türkischen Regierungspartei AKP. Zusätzlich schwächt
Erdogan den Kampf gegen den IS durch die Bombardierung kurdischer
Kämpfer im Nordirak und Nordsyrien.
Die Schreckensnachrichten aus Paris überlagerten
eine wichtige Erfolgsmeldung: am Freitag gelang es kurdischen Milizen,
die Stadt Shengal (Sindschar) im Nordirak vom IS zu befreien. Hier
hatte im August 2014 der versuchte Genozid des IS an den Eziden
begonnen – tausende Männer wurden ermordet, tausende Frauen
und Mädchen versklavt. Die Befreiung Shengals ist bereits die
zweite große Niederlage des IS nach der erfolgreichen
Verteidigung der syrisch-kurdischen Stadt Kobani im Januar 2015.
Möglich wurde die Befreiung Shengals durch eine breite Allianz
kurdischer Gruppierungen, von der PKK-Guerilla und den Volks- und
Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava/Nordsyrien über
ezidische Selbstverteidigungsgruppen bis hin zu den Peschmerga der
irakisch-kurdischen Regionalregierung. Doch weiterhin wird die PKK auf
der EU-Terrorliste geführt und in Deutschland als terroristische
Vereinigung verfolgt, erst letzte Woche wurde erneut ein kurdischer
Politiker in Deutschland verhaftet. Wer die engagiertesten und
erfolgreichsten Kämpferinnen und Kämpfer gegen den IS
kriminalisiert und gleichzeitig mit dem heimlichen Kalifen Erdogan
paktiert, der will den IS nicht ernsthaft bekämpfen.
Kampf gegen den IS, das bedeutet:
- Solidarität mit der nordsyrischen
Autonomieregion Rojava und den gegen den IS kämpfenden Volks- und
Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie ihren arabischen und
christlichen Verbündeten! Aufhebung des von der Türkei
verhängten Embargos gegen Rojava, Schaffung eines humanitären
Korridors nach Kobani und materielle Hilfe für den Wiederaufbau!
- Solidarität mit der Allianz kurdischer
Kräfte im Nordirak, die Shengal vom IS befreit haben, und
Unterstützung der berechtigten Forderung der Ezidinnen und Eziden
nach Selbstverwaltung und eigenen Selbstverteidigungskräften!
- Schluss mit der Kollaboration der Bundesregierung mit
den Terrorpaten Türkei, Saudi-Arabien und Katar. Erdogan kann kein
Partner in der Flüchtlingspolitik, sondern nur in der
Abschottungspolitik sein. Schluss mit Waffenlieferungen an die
Förderer des Dschihadismus!
- Schluss mit der Kriminalisierung des kurdischen
Widerstandes – Aufhebung des PKK-Verbots und Löschung der
PKK von der EU-Terrorliste!
- „Ja“ zur Wachsamkeit gegen Dschihadisten
und Terrorgefahr – nein zu Grundrechtseinschränkungen und
Aufrüstung der Geheimdienste und flüchtlingsfeindlicher
Panikmache!
- Solidarität mit Flüchtlingen – Rassismus und Muslimfeindlichkeit entgegentreten!
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