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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

11.11.2015

»…treu zu dienen.«

Anmerkungen von Reinhard Junge zum 60. Gründungstag der Bundeswehr

Reinhard Junge (Dortmunder, Jg. 1946) hat für die „Mitteilungen“ der Kommunistischen Plattform der Partei Die Linke seine Erinnerungen an 60 Jahre Bundeswehr aufgeschrieben. Redaktion und Autor erlaubten der VVN-BdA NRW, diese Erinnerungen wiederzugeben. Er schrieb bereits für die April-Mitteilungen 2013 »Zur Geschichte der Sachsenhausen-Komitees: Ein nachdenkenswertes Jubiläum«.(siehe Link)  Reinhard Junge war in den 70er Jahren als Lehrer und DKP-Mitglied von Berufsverbot betroffen, unterrichtete später auch dank erfahrener Solidarität mehr als 30 Jahre lang Gymnasiasten in Wattenscheid und wurde ein geachteter Autor und Koautor (mit Jürgen Pomorin) von Kriminalromanen (http://www.reinhard-junge.de). Hier sein Text:

»Jetzt haben die verfluchten Hunde es geschafft«, schimpfte mein Großvater Willi Kröger, als er am Montag, dem 14. November 1955, die Zeitung aufschlug.

»Was, Opa?«

»Dass sie wieder eine Wehrmacht aufstellen dürfen. Der Krieg ist gerade zehn Jahre her. Überall liegen noch die Trümmer. Und die da denken wieder an Krieg.«

Die Trümmer hatte ich, damals neun Jahre alt, stets vor Augen: In unserer Straße stand die ausgebrannte Ruine einer Grundschule, in der wir gerne herumkletterten, wenn wir nicht auf dem Hof davor Fußball spielten.

Die Enttäuschung meines Großvaters und meiner Eltern war verständlich: Sie hatten im Widerstand gegen Hitler gestanden und sich nach 1945 für ein einheitliches, antifaschistisch geprägtes Deutschland eingesetzt. Mit dem Eintritt der BRD in die NATO und der Aufstellung der Bundeswehr war die bereits 1949 vollzogene Teilung Deutschlands vollends zementiert.

»Und wer sind die verfluchten Hunde?«

Opa deutete auf das Bild, das heute auch die Homepage der Bundeswehr ziert: Verteidigungsminister Theodor Blank überreicht am Samstag, dem 12. November 55, den beiden ersten Chefs der neuen Armee die Ernennungsurkunde. Die Generäle Heusinger und Speidel hatten nun das Kommando über 93 Offiziere und 6 Unteroffiziere. Ihnen folgten noch 1956 rund 10.000 »Freiwillige« aus dem Bundesgrenzschutz, in dem fast 17.000 ehemalige Dienstgrade der Hitlerwehrmacht »überwintert« hatten.

»Und wieso sind das verfluchte Hunde?«

Was Opa damals antwortete, weiß ich nicht mehr. Aber schon bald wusste ich selbst, wen er meinte: jene Sorte Mensch, die ihn im Strafbataillon 999 zwingen wollte, auf griechische Partisanen zu schießen. Adolf Heusinger (1897-1982) und Hans Speidel (1897-1984) waren wie viele andere Bundeswehrgeneräle in hohen Positionen an den Angriffskriegen der Nazis beteiligt gewesen. Laut Wikipedia hatten 1959 von 14.900 Offizieren und Unteroffizieren 12.360 bereits in Reichswehr und Wehrmacht gedient – und 300 Offiziere in der SS. [Wikipedia-Stichwort »Geschichte der Bundeswehr« (Version Oktober 2015).]

Des Führers Geist

Dessen ungeachtet behauptet die Bundeswehr bis heute, dass ein »hoher Vorgesetzter … keine NS-Vergangenheit haben« durfte [»Wikipedia« nennt (abgerufen am 18.09.2015) als Quelle Heusingers Memoiren »Befehl im Widerstreit« (1950).]. Doch In den Anfangsjahren traf sich in der Bundeswehrspitze fast alles, was dem »Führer« treu gedient und in Nürnberg dem Strang entgangen war. So war Heusinger 1940 als Oberst Chef der Operationsabteilung im Generalstab des Heeres und anschließend Chef der »Partisanenbekämpfung in den besetzten Gebieten«. Nach dem 20. Juli 1944 wurde er, inzwischen Generalleutnant, kurzfristig verhaftet. Doch dann verfasste er eine Denkschrift, in der er »alle ihm bekannten Informationen über die Verschwörer des 20. Juli preisgab«. [bundeswehr.de: 60 Jahre Bundeswehr (Version Oktober 2015).]

Als »Verräter« galt er trotzdem nicht. Dieser Titel traf eher Menschen wie den General Vincenz Müller (1894-1961), der im August 1944 mit seiner Truppe kapitulierte, sich in der UdSSR dem Nationalkomitee Freies Deutschland anschloss und später sogar Stellvertretender Verteidigungsminister der DDR wurde. Selbst Generalfeldmarschall Paulus, der in Stalingrad viel zu lange die Durchhaltebefehle Hitlers befolgt hatte, verbrachte nach der sowjetischen Kriegsgefangenschaft seinen Lebensabend lieber nicht im Westen, sondern  in der DDR.

Wen die ersten Bundeswehr-Oberen wirklich schätzten, verraten die Namen vieler Kasernen. Mindestens vier (u.a. in Hamburg und Bremen) waren nach dem Kolonialgeneral Lettow-Vorbeck benannt, der 1920 als Freikorps-Führer am faschistischen Kapp-Putsch teilnahm und per Standgericht revolutionäre Arbeiter ermorden ließ. – In Füssen bekam Nazi-General Dietl »seine« Kaserne als Dank für seine »Heldentaten« bei der Eroberung Norwegens. Dort und in Nord-Finnland ließ er (laut Wikipedia) von KZ-Häftlingen Straflager für Soldaten einrichten und lieferte Kriegsgefangene an die Mordkommandos des faschistischen SD aus. – Gleich sieben Kasernen hießen zeitweilig nach jenem Hindenburg, der Hitler auf Drängen deutscher Großunternehmer und Bankiers 1933 zum Reichskanzler berief. Die Reihe ließe sich endlos fortsetzen.

Diese Vorbilder passten zu einer Armee, die in die aggressive NATO-Strategie zur »Eindämmung des Kommunismus« eingebunden sein sollte. Selbst die Bundeswehr weist darauf hin, dass sie eine »Armee des Kalten Krieges« war. Für sie stand der »Feind« noch immer  im Osten. Als Wehrpflichtiger hörte ich noch 1967/68 fast täglich Sätze wie: »Stell dir vor, der Russe kommt.« Und im Stabsgebäude des Panzergrenadierbataillons 191 in Ahlen (Westf.) hingen etliche Aquarelle mit Kriegsszenen. Eine davon sah so aus: Ein paar zerlumpte Gestalten stehen staunend vor einer mit Balkenkreuzen versehenen »Fieseler Storch«. Unterschrift: »Russen sehen zum ersten Mal ein Flugzeug.« Als wäre die Nazi-Armee nur nach Osten gezogen, um »den Russen« die Technik des 20. Jahrhunderts zu bringen.

Die Wiederaufrüstung wurde von immenser antikommunistischer Propaganda und juristischen Klimmzügen begleitet. So stand nach Gründung der BRD schon die Forderung nach einer Wiedervereinigung Deutschlands unter Strafe. Proteste gegen Adenauers Militärpolitik wurden unterdrückt – als Kind sah ich, wie im noch zerstörten Norden Dortmunds Reiterstaffeln der Polizei eine Friedensdemonstration auseinanderknüppelten. Aktivisten einer von der KPD initiierten Volksbefragung wurden verfolgt und bestraft. Vor allem nach dem KPD-Verbot von 1956 füllten sich die Gefängnisse – oft reichte schon der Besuch bei Verwandten in der DDR für den Vorwurf der »Staatsgefährdung« und »Geheimbündelei«. Die Urteile wurden vielfach von Ex-Nazi-Juristen verhängt, die Adenauer 1951 fast ausnahmslos zu Demokraten erklärt und wieder verbeamtet hatte.

Der Widerstand gegen die neue Armee war breit und reichte lange Zeit bis in die Reihen der SPD, die 1955 im Bundestag – vergeblich – gegen die Wehrpflicht stimmte. Aus der Gefangenschaft heimkehrende Soldaten hatten vom Krieg »die Schnauze voll«. Und Angst davor, dass ihre Söhne denselben Schleifern in die Hände fielen, die schon ihnen das Rückgrat gebrochen hatten. Die Parole hieß: »Ohne mich!«

Demokratische Soldaten

Der Bundeswehrführung war klar, dass sie ein neues Bild der Armee vermitteln musste. Blinder Gehorsam hatte ausgedient. Die »Innere Führung« sollte den Wehrpflichtigen das Gefühl vermitteln, »Staatsbürger in Uniform« zu sein. Doch gleich am Anfang lief eine Menge schief. Am 1. April 1957 als erste Wehrpflichtige eingezogen, starben bereits im Juni 15 Soldaten, als sie in voller Kleidung und Bewaffnung die reißende Iller überqueren sollten. Berüchtigt war auch die Ausbildungskompanie 6/9 in Nagold. Wehrpflichtige hatten z.B. über aufgepflanzten Messern Liegestütze »üben« müssen, bei einem Gewaltmarsch wurde der Soldat Trimborn in den Tod gejagt. Elf Vorgesetzte kamen wegen »vorsätzlicher Misshandlung« von Untergebenen vor Gericht und wurden, oft recht milde, bestraft – nur der Hauptverantwortliche wurde aus der Bundeswehr entlassen. [Der Spiegel, Heft 46 von 1963.]

Öffentliche Proteste gegen die Schleiferei, das verbriefte Beschwerderecht und die Installierung eines »Wehrbeauftragten des Bundestages« sorgten nach und nach dafür, dass die Lage der einfachen Soldaten sich im Vergleich zur Hitler-Wehrmacht deutlich verbesserte – gut aber ist sie, wie die Jahresberichte des Wehrbeauftragten zeigen, immer noch nicht.

Dann kam der Vietnamkrieg. Viele US-Soldaten desertierten und fanden oft erst in Schweden Asyl. Fotos von brennenden Dörfern und Menschen gingen um die Welt. Hatten in der BRD vorher nur wenige junge Männer tatsächlich den Wehrdienst verweigert und den längeren Ersatzdienst angetreten, so stiegen die Zahlen jetzt an. In Prüfungsausschüssen musste man aber »beweisen«, dass man Pazifist war. Standardfrage: »Was machen Sie, wenn zwei Russen hinter ihrer Mutter herlaufen und Sie ein Gewehr haben?«

Bis etwa 1965 war es für junge Linke klar: »Wir verweigern auch!« Doch dann entstanden – im Vorfeld dessen, was später als Studentenrevolte bezeichnet wurde – zahlreiche »republikanische« und sozialistische Clubs, in denen heiß über die verkrustete Bundesrepublik diskutiert wurde. Dabei tauchten auch Fragen auf wie: »Was würdest du denn tun, wenn du Vietnamese wärest?« Oder: »Darf man die Wehrpflichtigen in der Bundeswehr einfach dem politischen Unterricht der Offiziere überlassen?« Und Franz-Josef Degenhardt sang: »Wenn du stark bist, Junge, geh!«

Auch wenn er nicht mich persönlich gemeint haben konnte – ich ging. Andere auch. Wir gelobten, der BRD treu zu dienen, und thematisierten deshalb den Vietnamkrieg, die Rechte der Wehrpflichtigen, die geplanten Notstandsgesetze [Grundgesetzänderung durch die erste CDU/SPD-Koalition (1965-1969): Art. 87a ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen den Einsatz der Bundeswehr im Innern des Landes.] und die Entsendung von Bundeswehroffizieren zu Treffen der SS-Veteranentruppe »HIAG« [HIAG = »Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS e.V.«]. Manche Vorgesetze duldeten Diskussionen, andere brachen sie jäh ab. Mein Kompaniechef, ein NPD-Mann, träumte sogar davon, die linken Studenten an die Wand zu stellen. Doch auch draußen wurden wir weiter kritisiert – mal von den Verweigerern, mal von Genossen. Und Opa? Der fand uns gut.

Ein Wendepunkt war für viele der Gründungskongress der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend am 4./5. Mai 1968 in Essen. Walter Listl aus Bayern hielt in Uniform eine flammende Rede gegen den Militarismus, R. J. aus Dortmund trat ebenfalls in Unform auf. Beide wurden wir von unseren Vorgesetzten disziplinar bestraft. Es folgten öffentliche Proteste und die Zahl von linken Wehrpflichtigen wuchs.

Auf dem 1. Parteitag der DKP im Frühjahr 1969 in Essen wurde u.a. die Haltung zur Wehrpflicht diskutiert. Der Parteivorstand schlug vor, sie abzuschaffen. Mehrere Delegierte verwiesen jedoch darauf, dass die Wehrpflicht seit dem 19. Jahrhundert eine fortschrittliche Forderung war: Die »stehenden Heere«, also die auf Gedeih und Verderb gehorchenden Berufsarmeen der Kaiser und Könige, wurden als Gefahr für demokratische Bestrebungen angesehen. Doch die Mehrheit der Delegierten folgte der »linientreuen« Antragskommission.  

Trotzdem traten immer mehr links eingestellte Jugendliche den Wehrdienst an, während die Zahlen der Verweigerer stiegen – beide motiviert von der Bewegung gegen den Vietnamkrieg und den holländischen Wehrpflichtigen, die damals sogar eine eigene Soldatengewerkschaft gründeten. Zwei Jahre später verfassten 13 Wehrpflichtige den viel beachteten Aufruf »Soldat 70«, in dem sie die braunen Traditionen rügten, mehr Rechte für die Wehrpflichtigen und Abrüstung forderten.

Nach und nach bildeten sich an 40 Bundeswehrstandorten von der SDAJ unterstützte Arbeitskreise Demokratischer Soldaten, die z. T. in eigenen Kleinzeitungen Schikanen von Vorgesetzten anprangerten. Das sozialistische Jugendmagazin Elan gab mehrmals die im Stil der BILD-Zeitung aufgemachte Soldatenzeitung »Links Um!« heraus, die kostenlos vor vielen Kasernen verteilt wurde. Auch andere linke Gruppierungen begannen, die Soldaten mit Informationen zu versorgen. Im Gegenzug forderten Offiziersinitiativen die Rückkehr zu einer strafferen militärischen Ordnung, um diese Einflüsse zu unterbinden.

Die Bundeswehrführung reagierte nicht nur mit Disziplinarstrafen. Man schickte junge smarte Jugendoffiziere in die Schulen und zu politischen Diskussionen, um die Armee als Friedensstreitmacht zu popularisieren, verstärkte die Nachwuchswerbung, korrigierte 1982 sogar den Traditionserlass: Erstmals distanzierte sich ein Verteidigungsminister der BRD von der Tradition der Hitler-Wehrmacht.

Die Berufsarmee und eine deutsche »Verantwortung«

1980 verschärften sich der Kalte Krieg und der Rüstungswettlauf. Prominente wie der Evangelische Kirchenpräsident Martin Niemöller und der ehemalige Generalmajor Gert Bastian, später MdB der Grünen, verfassten den »Krefelder Appell«, der von 4 Millionen Menschen unterzeichnet wurde. An der Kampagne »Sportler für den Frieden« nahmen sogar Bundesligaprofis teil. Bastian bildete mit anderen hohen Ex-Generalen der NATO eine Initiative für Abrüstung, wofür sie als »nützliche Idioten der DDR« beschimpft wurden. Zehntausende demonstrierten in Bonn – doch die von Helmut Schmidt geführte SPD/FDP-Koalition hielt an dem NATO-Beschluss fest, in der BRD neue Raketen zu stationieren.

1990 änderte sich die Welt – aber zum Guten? Der Untergang des Sozialismus in vielen Ländern trieb etliche Genossen in Resignation, andere zu öffentlichen »Bekenntnissen«, der falschen Fahne gefolgt zu sein. Die gesamte linke Bewegung erlahmte, als sich die DKP dezimierte. Noch schlimmer: Kaum waren die DDR aufgelöst und die NVA entwaffnet, entdeckten die etablierten Parteien etwas 30 Jahre lang Undenkbares: die gestiegene »Verantwortung« des vereinten Deutschlands für den Frieden in der Welt. »Humanitären« Einsätzen in Afrika folgten Bundeswehr-Einsätze in zahlreichen Ländern. Trauriger Höhepunkt waren die Kriege im zersplitterten Jugoslawien, als bei den Grünen die »Bellizisten« siegten und der einst linke Außenminister Joschka die Bombardierung Belgrads verteidigte.

Auch die früher mit Blick nach Osten oft geforderte »Selbstbestimmung« der Völker ist inzwischen Makulatur: Die BRD entscheidet im Einklang mit Obama, wer in anderen Ländern regieren sollte oder nicht.

Und die Bundeswehr? Angesichts neuer Technologien der Kriegsführung ist sie geschrumpft. Um 1970 gab es allein in der West-BRD über 460.000 Soldaten, heute sind es nur noch rund 180.000, davon über 20.000 Frauen. Zwar gibt es noch immer Schulen oder einzelne Lehrer/innen, die den Jugendoffizieren Bundeswehr-Werbung im Unterricht verwehren. Doch der Einfluss fortschrittlicher, ach: besonnener Kräfte auf die Truppe ist verschwunden. Dem Vorbild der USA folgend, die unter dem Eindruck des Führungsdesasters in und nach Vietnam die Wehrpflicht abschafften, setzte 2010 ausgerechnet Freiherr zu Guttenberg die Wehrpflicht aus: Man brauchte (und wollte) die Wehrpflichtigen nicht mehr, sondern setzte auf eine Berufsarmee. Ein Mann von Adel weiß, was man daran hat.

Mein Opa hat diese letzten 25 Jahre nicht mehr mitbekommen. Sie hätten ihm nicht gefallen.