01.09.2015
Gefährliche Zuspitzung auch des Ost-West-Konfliktes: Drohender Krieg Kiews gegen Russland – der Westen steht dahinter
Wolfgang Bittner hat in Ossietzky Nr. 17/15
eine dringend notwendige Analyse über einen Kriegsschauplatz
vorgelegt, der nicht aus dem Blickfeld geraten darf: der in der
Ukraine. Wir dürfen seine Analyse hier wiedergeben:
Wolfgang Bittner: Konsequenzen des West-Ost-Konflikts
Der Euro steht im Verhältnis zum Dollar auf einem
Tiefststand, und die deutsche Wirtschaft klagt über erhebliche
Einbußen im Handel mit Russland. Der Ost-Ausschuss der Deutschen
Wirtschaft meldet (Stand Mai 2015): „Die deutschen Exporte nach
Russland gingen 2014 um 18 Prozent auf 29,3 Milliarden Euro zurück
… In den ersten beiden Monaten 2015 gingen die deutschen
Russland-Exporte sogar um mehr als ein Drittel zurück. Für
das Gesamtjahr 2015 ist ein Rückgang der deutschen Ausfuhren um 15
bis 20 Prozent möglich.“ Und das erscheint noch
optimistisch. Insofern sollte neben der militärischen Provokation
und Aggression nicht der wirtschaftliche Aspekt aus den Augen verloren
werden.
Der Chefanalyst der Bremer Landesbank, Folker Hellmeyer,
sagte in einem Interview in den Deutschen Wirtschafts Nachrichten am
24. Juli 2015: „Der Schaden ist viel umfassender, als es die
Statistik sagt. Beginnen wir bei der Ökonomie und den bisher
aufgelaufenen Schäden. Der Blick auf den Rückgang der
deutschen Exporte per 2014 um 18% oder in den ersten beiden Monaten
2015 um 34% im Jahresvergleich erfasst nur einen Primärausschnitt.
Es gibt Sekundäreffekte… Deutschland und die EU haben
gegenüber Russland ihre ökonomische Zuverlässigkeit zur
Disposition gestellt.“ Abzuwarten bleibe, so Hellmeyer, inwieweit
von den aufstrebenden BRICS-Ländern die Sanktionspolitik der EU
und Deutschlands als Affront nicht nur gegen Russland interpretiert
werde. Die Achse Peking-Moskau plane „im Rahmen der
Shanghai-Corporation und der BRICS-Länder das größte
Wachstumsprojekt in der modernen Geschichte, den Aufbau der
Infrastruktur Eurasien von Moskau bis Wladiwostok, bis Südchina
und Indien.“ Beunruhigend sei aber der Mangel an Weitsicht bei
den europäischen Politikern, die offensichtlich nicht in der Lage
seien, die definitiv eintretenden zukünftigen Schäden, die
erheblich sein werden, einzuschätzen.
Hellmeyer weiter: „Es ist in der Tat irritierend.
Menschen, die nicht nur auf ‚westliche
Qualitätsmedien‘ fokussiert sind, sind erstaunt über
das mediale Ausblenden der Aggressionen Kiews und der durch die
Regierung Kiews umgesetzten diskriminierenden Gesetze, die zu dem
Anspruch westlicher Werte und Demokratie in einem krassen
Missverhältnis stehen.“ Bei dem „Coup“ in der
Ukraine sei „eine in der Tendenz gegenüber Moskau freundlich
gesinnte Oligarchie durch eine jetzt den USA zugewandte Oligarchie
ersetzt“ worden; das sei Geopolitik, die dritten Kräften,
nicht aber Deutschland und der EU und auch nicht Russland und der
Ukraine nütze. Fakt sei, dass sich die aufstrebenden Länder
von der US-Hegemonie emanzipierten, und das werde gerade deutlich an
den Gründungen von Konkurrenzinstitutionen zur Weltbank (AIIB =
Asian Infrastructure Investment Bank) und dem IWF (New Development
Bank) seitens der Achse der aufstrebenden Länder.
Für den Analysten Hellmeyer ist der Konflikt schon
entschieden: "Die Achse Moskau–Peking–BRICS gewinnt. Dort
hat man vom Westen die Nase voll. 1990 hatten diese Länder einen
Anteil von circa 25% an der Weltwirtschaftsleistung. Heute stehen sie
für 56% der Weltwirtschaftsleistung, für 85% der
Weltbevölkerung. Sie kontrollieren circa 70% der
Weltdevisenreserven. Sie wachsen pro Jahr im Durchschnitt mit 4%
– 5%. Da die USA nicht bereit waren, internationale Macht zu
teilen (z.B. Voten in IWF und Weltbank), baut man im Sektor der
aufstrebenden Länder ein eigenes Finanzsystem auf. Dort liegt die
Zukunft… Die EU wird derzeit in den Konflikt, den die USA
verursachte, weil sie keine Macht teilen wollte und teilen will,
hineingezogen und damit in ihren eigenen Entwicklungsmöglichkeiten
sterilisiert. Je länger wir diese Politik in der EU verfolgen,
desto höher wird der Preis, desto weniger wird man uns als
Gesprächspartner ernst nehmen.“
Auch andere Finanz- und Wirtschaftsexperten warnen
inzwischen vor den gravierenden Folgen der Sanktionen und der
Aggressionen gegenüber Russland, so beispielsweise der Investor
Mattias Westmann in einem Gastbeitrag für Focus-Money am 16. Juli
2015: „Jetzt wirft sich aber die Frage auf: Unter welchen
Bedingungen können die Sanktionen wieder aufgehoben werden?
Geschieht dies nur dann, wenn Russland die Krim wieder an die Ukraine
zurückgibt, dann würden sich die Strafmaßnahmen als
immerwährend erweisen. Schließlich unterstützt die
lokale Krim-Bevölkerung die Wiedervereinigung mit Russland zu
über 90 Prozent. Und auch angesichts der Lage in der Ostukraine
würden die Menschen auf der Krim eine Rückkehr zu den alten
Verhältnissen nicht akzeptieren. Darüber hinaus ist für
Russland der Marinestützpunkt Sewastopol sehr wichtig –
sowohl in strategischer als auch in nostalgischer Hinsicht.“
Bemerkenswert, wie Westmann die russische Position
einschätzt: „Aus russischer Sicht ist es nun einmal so, dass
es durch einen Staatsstreich zum Handeln gezwungen wurde, der von
ausländischen Mächten unterstützt wurde, und der sowohl
Russlands wesentliche Sicherheitsinteressen bedrohte als auch das Wohl
der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine. Russlands
Vorgehen war in diesem Sinne defensiv, nicht offensiv. Hätte
Russland vorgehabt, Kiew einzunehmen, dann hätte es das mit
Leichtigkeit tun können. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass
das jemals geplant war…“
Westmann kommt zu dem Schluss: „Das grundlegende
Problem ist aber, dass Russland die Umsetzung von Minsk II zwar
wünscht, dass es aber kaum etwas dazu beitragen kann. Die
Haupthindernisse für die Verwirklichung von Minsk II liegen in
Kiew.“ Beeindruckend ist diese Stellungnahme, wie auch die von
Reinhard Merkel in der FAZ vom 7. April 2015 zur angeblichen Annexion
der Krim insofern, als noch vor Kurzem ganz andere martialische
Töne in Medien wie Focus und FAZ angeschlagen wurden. Das ist
überwiegend auch jetzt noch der Fall, aber hier und da scheint
Einsicht in die wahren Hintergründe der Krise einzukehren.
Ebenso deutlich äußerte sich der
US-amerikanische Historiker und Russland-Experte Stephen Cohen,
Professor an der Princeton University und an der New York University
bereits am 2. Mai 2014 in der taz: „Wir schlittern in einen
Krieg“; nicht Putin habe die Ukraine-Krise ausgelöst,
sondern der Wunsch der USA, die Ukraine in die NATO zu holen. Im Juni
2015 warnte Cohen, jetzt passiere genau das, „was die NATO seit
15 Jahren angestrebt hat“, Verteidigungsminister Ashton Carter
balanciere „am Rande eines Krieges mit Russland“ (Sputnik
Deutschland vom 28.6.2015). Die russische Regierung sei gezwungen, so
Cohen, etwas dagegen zu tun, dass US-Truppen und schweres
Kriegsgerät an ihren Grenzen stationiert werde. Doch auf jeden
Gegenschritt Moskaus erfolge ein Gegenschritt Washingtons, und diese
militärische Eskalation könne im Endeffekt zu einer
„Konfrontation wie in der Kuba-Krise“ führen. Der
Westen überzeuge mit Propaganda die übrige Welt, dass
Russland eine Bedrohung darstelle; das werde „von den Leuten
getan, die seit Jahrzehnten nach einer Offensive gegen Russland
lechzten“. Cohen resümiert: „Das ist nicht mehr die
Ukraine, die sich verteidigt. Das ist die Nato, die expandiert.“
Er empfiehlt den Politikern in den europäischen Staaten, sich
darüber Gedanken zu machen, dass die USA weder den Euro retten
noch billige Energieträger an die EU liefern könnten.
Aber der mörderische Bürgerkrieg in der
Ukraine, dem schon Tausende zum Opfer gefallen und vor dem weit
über eine Million Menschen geflohen sind, geht weiter. Kampfpausen
nach den ersten Minsker Waffenstillstandsvereinbarungen vom 5.
September 2014 hat die Regierung Poroschenko/Jazenjuk genutzt, um
nachzurüsten, und obwohl das Land quasi bankrott ist, wurde der
Militäretat um ein Erhebliches erhöht. Zuwendungen der EU und
Deutschlands in Milliardenhöhe, die der ukrainischen
Bevölkerung zugutekommen sollten, können also für die
Finanzierung des Bürgerkriegs verwendet werden.
Auch die zweiten Minsker Waffenstillstandsverhandlungen
vom 12. Februar 2015 werden ohne eine massive Einflussnahme der USA
nicht von der Kiewer Regierung eingehalten werden – fraglich, ob
die Kriegstreiber in den USA, die eine starke Fraktion im Kongress
stellen, überhaupt an einer Waffenruhe in der Ostukraine
interessiert sind, ob sie nicht vielmehr eine weitere Eskalation und
damit eine militärische Konfrontation mit Russland auf dem
europäischen Kontinent anstreben. Es geht nach wie vor um
große Waffenlieferungen an die Ukraine, die allerdings bisher von
Präsident Obama nicht genehmigt wurden.
Dafür scheint es triftige Gründe zu geben. Von
Beobachtern wird berichtet, dass sich die Lage in der Ukraine auch ohne
die Einflussnahme der USA immer mehr zuspitzt. Im Osten gibt es seit
Juli 2015 wieder schwere Kämpfe und Tote. Die Regierungstruppen
verschärfen unter Verletzung des Minsk-II-Abkommens erneut ihre
Angriffe gegen die Separatisten, und im Westen wüten die
Ultranationalisten des Rechten Sektors. Nachdem Petro Poroschenko mit
Unterstützung der Neonazis an die Macht kam, droht jetzt der
Führer des Rechten Sektors, Dmitri Jarosch, der 2014 zum
Abgeordneten der Werchowna Rada und dann zum Berater des ukrainischen
Generalstabs ernannt wurde, offen damit, Poroschenko zu stürzen.
Dadurch könnte eine zusätzliche ernste Gefahr für Europa
entstehen.
Wolfgang Bittner ist
Schriftsteller und Jurist. Zuletzt erschien von ihm das vielbeachtete
Buch „Die Eroberung Europas durch die USA“.
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