30.08.2015
Erinnerung an Alexander Primavesi aus Dortmund
Der pensionierte Kriminalhauptmeister kam seinen verbrecherischen Kollegen auf die Spur
Ulrich Sander, Sprecher der VVN-BdA, hat in
„Ossietzky“ eines wohl einzigartigen Kriminalbeamten
gedacht, der ein Archiv zu den NS-Verbrechen der Polizei aufgebaut hat.
Alexander Primavesi leitete in Dortmund das einzige deutsche
Polizeiarchiv mit Unterlagen aus der Zeit von 1933 bis 1945. Die
Ein-Mann-Behörde für die Gestapo-Unterlagen von Dortmund und
Regierungsbezirk Arnsberg entlarvte viele Täter, die jedoch
dennoch nicht bestraft wurden.
An diesen Kriminalhauptmeister denke ich oft, wenn
gerätselt wird, warum gerade Dortmund trotz seiner
antifaschistischen Tradition ein so gutes Pflaster für die alten
und neuen Nazis der Nachkriegszeit war und ist. Die Geschichte dieser
Entwicklung wird gern bis zur Borussenfront der 1980er Jahre
zurückverfolgt. Alexander Primavesi lehrte mich, dass man weiter
zurückschauen muss – bis zum Jahr 1945. Denn man darf die
Nachkriegsentwicklung der Justiz und Polizei an Rhein und Ruhr nicht
vergessen, die mit der Strafbefreiung für Nazitäter verbunden
war. Primavesi besuchte ich vor 20 Jahren. Dieser Tage fand ich in
meinem Archiv ein Interview mit ihm.
Das Dortmunder Polizeipräsidium ist auf einem
ehemaligen Sportplatz an der B1 errichtet, auf dem kurz vor Ende des
Zweiten Weltkriegs mindestens hundert Menschen standrechtlich
erschossen wurden. Der Dortmunder Polizeipräsident Georg Altner
hatte damals, im März 1945, Plakate aushängen lassen:
„Wer plündert, wird erschossen.“ Wer Kartoffeln oder
ein Paar Schuhe aus einem zerbombten Haus mitgehen ließ, war
totgeweiht, wenn ihn Altners Polizei erwischte. Exekutionsort war eben
jener Sportplatz an der Hohen Straße, wo heute das
Polizeihochhaus mit dem einzigen deutschen Polizeimuseum für die
Zeit von 1933 bis 1945 steht. Dort traf ich Alexander Primavesi, den
unermüdlichen Forscher.
Während sich Altner nach Einrücken der
Amerikaner 1945 das Leben nahm, machten viele Polizisten weiter, als
sei nichts geschehen. Ihnen kam Kriminalhauptmeister a.D. Alexander
Primavesi auf die Spur. Nur hier in Dortmund existiert ein
Polizeiarchiv für die Geschichte der Polizei im preußischen
Regierungsbezirk Arnsberg, auch während der NS-Zeit.
8000 Personalakten hat Primavesi in über
zehnjähriger Forschungsarbeit durchgearbeitet. Das Ergebnis legte
er 1995, zwei Jahre vor seinem Tod, vor. Ich sprach mit ihm im
Polizeihochhaus in Dortmund. Es ging um die „Persilscheine“
im Rahmen der Entnazifizierung 1945 bis 1953 am Beispiel der Dortmunder
Polizei.
Die aufgefundenen „Persilscheine“
führten dazu, dass der vormalige HJ-Führer im
westfälischen Arnsberg immer wieder an sein Berufsleben als
Kriminalbeamter erinnert wurde. Von den 766 Gestapobeamten und
-mitarbeitern des Regierungsbezirks kamen mindestens 120 Gestapobeamte
und eine große Anzahl Gestapomitarbeiter wieder bei der Polizei
unter. Sie wurden dabei besser gefördert als die jungen
Polizisten, die wie Primavesi 1945 ihren Dienst begannen. Die
Präferenzen für die alten Kader machten den jungen Polizisten
stutzig, und er begann, schon lange bevor er ins Archiv versetzt wurde,
nachzuforschen. Die Verbrechen dieser Kollegen stießen den jungen
„100-prozentigen“, den einstigen Kriegsfreiwilligen so ab.
dass er Schritt für Schritt umdachte.
Im Gespräch äußerte er sich empört
über die Leichtigkeit, mit der die alten Gestapokader wieder ins
Amt gehievt wurden, aber jene Polizisten, die von den Nazis 1933
entlassen worden waren, Schwierigkeiten bekamen, wenn sie nach
Kriegsende wieder eingestellt werden wollten.
So viele Juden festnehmen wie in den Kerker reinpassen
So die Organisatoren der Judendeportationen:
„Sobald wie möglich“, so funkte die Dortmunder Gestapo
einen Tag nach der Reichspogromnacht 1938 an ihre Außenstellen,
seien so viele „insbesondere einflussreiche und vermögende
männliche Juden gesund und nicht zu hohen Alters
festzunehmen“, wie in den „vorhandenen Hafträumen
untergebracht werden können“. So führte der Weg vieler
Juden ins Polizeigefängnis Dortmund Steinstraße und danach
ins Konzentrationslager Sachsenhausen oder in die Moorlager im Emsland.
Zwei Jahre später machte sich die Dortmunder Gestapo an die
Mitwirkung bei der „Entjudung des Reichsgebietes“. Sie
verpflichtete die männliche jüdische Jugend zur Zwangsarbeit.
Im Januar 1942, noch vor der Wannseekonferenz zur Vernichtung der
europäischen Juden, wurden 1500 Juden des Regierungsbezirks
Arnsberg nach Riga deportiert. Der nächste Transport aus Dortmund
führte direkt nach Auschwitz. Im Februar 1943 wurden von
Dortmund-Brackel aus 1500 jüdische Bürger deportiert, nur
sieben kamen nach Kriegsende zurück.
Chefs aus dem RSHA kamen zur Wiederverwendung nach Dortmund
Die Zahl der zurückkehrenden Täter war
ungleich größer. Allein sieben hohe Funktionäre aus dem
Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin wurden nach 1945 bei der
Dortmunder Polizei angestellt, darunter der Chefermittler im
Führerhauptquartier gegen die Männer des 20. Juli 1944.
Bernhard Wehner, der auch im „Braunbuch“ aus der DDR,
erschienen in den 60-er Jahren, genannt wurde. 1957 wurde Rudolf
Braschwitz zum stellvertretenden Leiter der Dortmunder Kriminalpolizei
berufen, der in der Zentrale Himmlers, dem Reichssicherheitshauptamt,
als SS-Sturmbannführer für das Referat „Bekämpfung
des Kommunismus“ tätig war – und als derartiger
Experte in der Zeit des Kalten Krieges selbstverständlich
gebraucht wurde. Zeitweiliger Leiter der Kriminalpolizei in Dortmund
war ein Mann vom Reichssicherheitshauptamt, den das
„Braunbuch“ als Josef Menke nennt. Primavesi durfte mir
diesen Namen nicht nennen, da nicht Verurteilte anonym bleiben sollten.
Doch der Eintragung im Braunbuch widersprach der alte Polizist nicht.
Als dem Ex-RSHA-Mann SS-Sturmbannführer Menke die
Deportation von 40.000 Sinti und Roma nach Auschwitz zur Last gelegt
wurde, starb er bei Beginn der Ermittlungen.
Leiter der Kriminalpolizei wurde auch der einstige
Dortmunder Polizeioberst Wilhelm Stöwe, dem versuchter Mord an
30.000 Menschen vorgeworfen wurde. Gauleiter Albert Hoffmann und
Polizeioberst Stöwe hatten versucht, den Nero-Befehl Hitlers zu
verwirklichen und sich gleichzeitig der Zwangsarbeiter und
Kriegsgefangenen im Revier zu entledigen. Geplant war, diese in die
Stollen der Zechen zu bringen, die dann geflutet werden sollten. Der
Direktor der Gelsenkirchener Bergwerks AG, Dr. Werner Haack, und andere
Zechendirektoren wollten aber die Produktionsstätten nicht
vernichten, und sie zögerten die Verwirklichung des
Führerbefehls hinaus, bis die Amerikaner kamen.
Über 150 Gestapobeamte waren kurz vor Kriegsende an
dem Rombergpark- Massaker an rund 300 deutschen und ausländischen
Antifaschisten und Zwangsarbeitern beteiligt, „damit diese nach
dem Zusammenbruch nicht führende Positionen besetzen
konnten“, wie Primavesi vermutete. Viele dieser Beamten waren
auch im Februar 1945 noch mit Gefangenentransporten nach Buchenwald
beschäftigt, die zweimal wöchentlich abgingen, um sowjetische
Kriegsgefangene aus Dortmund zur Ermordung im KZ auf dem Ettersberg bei
Weimar abzuliefern. Von den Beamten, welche die Opfer des Massakers am
Rande von Bombentrichtern im Raum Dortmund per Genickschuss umbrachten,
kamen viele wieder in den Polizeidienst, nur 27 kamen vor Gericht. Von
ihnen wurden gerademal zwölf 1952 zu kurzen Freiheitsstrafen
verurteilt, die sie noch nicht einmal voll absitzen mussten.
Die Vertreter der Kirchen und auch demokratischer
Parteien verhalfen in den Spruchkammern vielen Gestapo-Verbrechern zu
saubere Westen bescheinigenden „Persilscheinen“. Die VVN
habe davor gewarnt, betonte Primavesi und belegte es mit Dokumenten,
die er im Archiv hatte. Auch die Alliierten traf seine Kritik. Um
„Ruhe und Ordnung“ aufrecht zu erhalten, blieben nach der
Besetzung der Stadt durch Amerikaner und Engländer sämtliche
Polizisten im Amt. Später gab es dann die Anweisung der
Militärbehörden, alle Gestapobeamten als Mitglieder einer
„verbrecherischen Organisation“ grundsätzlich für
18 Monate zu inhaftieren. Primavesi: „Die Dauer war von den
Alliierten mit Bedacht gewählt: Ab einer Haftzeit von zwei Jahren
hätten die Beamten später nicht wieder eingestellt werden
können und alle Pensionsansprüche verloren.“ Als dann
1951 der Rombergparkprozess vorbereitet wurde, kam es zu grotesken
Situationen. Einige Beamte, die die Vernehmungen durchführten,
hatten genauso viele Straftaten begangen, wie die von ihnen vernommenen
Angeklagten. Entsprechend dünn waren die Ergebnisse der
Verhöre.
Der Polizeihistoriker mit dem ungewöhnlichen
Aufgabenbereich hat manchen Schwerbelasteten als Kollegen gehabt. Eines
Tages fand man bei Dienstbeginn einen Kriminalbeamten vor, der versucht
hatte, Hand an sich zu legen, weil er als erster ein Fernschreiben des
Bundeskriminalamtes gelesen hatte mit Beschuldigungen gegen ihn. Die
Kollegen konnten den Selbstmord verhindern. Und dann stellte sich
heraus, dass ein anderer Polizist, ein Bruder des versuchten
Selbstmörders, gemeint war. Doch die Panikreaktion verriet auch
den Beinaheselbstmörder als Täter. Weit bessere Nerven hatten
zwei des 30- beziehungsweise 14-fachen Mordes in Lagern der Gestapo
Angeklagte, die sich später Freisprüche organisierten und auf
„Befehlsnotstand“ verwiesen. Primavesi wies auf den
14-fachen Mord im Arbeitserziehungslager der Gestapo im
sauerländischen Hunswinkel hin, zu dem es keine Befehle gab. Der
Täter und spätere Dortmunder Kriminalbeamte der
Nachkriegszeit redete sich nicht nur mit Befehlsnotstand heraus,
sondern beklagte allen Ernstes auch sein „jüdisches
Aussehen“, das ihm viele Scherereien eingebracht hätte.
Darunter habe er sehr gelitten, wussten sogar Nachbarn in ihren
„Persilscheinen“ zu berichten.
Oder die Auslieferung von sieben Häftlingen aus
Lünen, die dann im Rombergpark ermordet wurden – auch diese
Auslieferung hätte der Kriminalist von vor und nach 1945 gefahrlos
unterlassen können. Und jener andere Gestapobeamte und
Nachkriegskriminalist, der 30 „Sonderbehandlungen“
beantragt hatte, die auch vollzogen wurden, war mit einem fahrbaren
Galgen durch die Lager rund um Dortmund getourt und hatte Polen, die
sich deutschen Frauen genähert hatten, gehängt. Die Frauen
wurden dann ins KZ Ravensbrück gebracht. Befehlsnotstand? Ja, ihm
wurde gerichtlich bescheinigt, er habe nicht anders handeln
können, obwohl die Initiative von ihm selbst ausging und gar kein
Befehl vorlag.
Die Dortmunder Schutzpolizei hatte ein eigenes
Polizeibataillon Nr. 61, das im Osteinsatz tätig war. Die
Angehörigen haben sich dort hinter der Front an Massenmorden
beteiligt. Sie erhielten später Orden und Ehrenzeichen. Primavesi
fand die Ordenslisten und Verleihungsurkunden – und die Urkunden
zur Wiedereinstellung dieser Leute in den Polizeidienst.
Ich fragte Alexander Primavesi, warum es so und nicht
anders kam. Er sah zwei Gründe. So habe der US-Oberbefehlshaber
und spätere Präsident Dwight D. Eisenhower bald nach
Kriegsende gesagt, man solle nicht die Deutschen hängen, sondern
sie als Bollwerk gegen den Osten einsetzen. Und zudem wurde vom
westdeutschen Gesetzgeber schon bald das 131er-Gesetz geschaffen, das
die Wiederverwendung von Beamten aus der Nazizeit den Behörden
zwingend vorschrieb.
Alexander Primavesi hat seine Aktenfunde und
persönlichen Erlebnisse in mehreren Dokumentationen verewigt.
Diese sollen im Staatsarchiv in Münster zugänglich sein. Die
Akten sind vor allem für die Wissenschaft verfügbar. Sie
sollen nicht folgenlos bleiben. Alexander Primavesi in unserem
Gespräch: „Es ist von Wichtigkeit, dass dieses Material
erhalten bleibt. Es muss besonders für junge Menschen genutzt
werden in Form von Vorträgen oder wissenschaftlichen
Arbeiten.“
Ulrich Sander ist
Autor des 2008 im PapyRossa Verlag erschienenen Titels
„Mörderisches Finale – NS-Verbrechen bei
Kriegsende“ (192 Seiten, 14,90 €). Im Mai 2015 erschien von
ihm im gleichen Verlag das Buch „Der Iwan kam bis
Lüdenscheid. Protokoll einer Recherche zur Zwangsarbeit“
(237 Seiten, 15,90 €.)
Aus „Ossietzky“ Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft, Nr. 17 vom 29. August 2015
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