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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

03.06.2015

Die Nato soll bis wenige Kilometer vor Moskau vorrücken

Zur Planung der Denkfabrik Stratfor vom Februar 2015 und zu den Aufgaben der Friedens- und Antifabewegungen

Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg. Das war die elementare Lehre, die weltweit aus dem Grauen des II. Weltkrieges gezogen wurde. Diese Schlussfolgerung nahm in der am 26. Juni 1945 von den 50 Gründungsstaaten Unterzeichneten Charta der Vereinten Nationen konkrete Gestalt an. Selten seither war der Weltfrieden so brüchig, und zu kaum einem anderen Zeitpunkt krochen Rechte so sehr aus ihren Löchern wie heutzutage. Diese Feststellung findet ihre abschreckende Bestätigung in Äußerungen des Stratfor-Chefs George Friedman vom 4. Februar 2015 in Chicago[1]: Stratfor ist eine führende US-amerikanische Denkfabrik. Sie propagiert einen Zustand, da die NATO nur 100 km von Stalingrad und 500 km von Moskau entfernt sein wird. Diese wichtigsten Thesen zu Frieden, Antifaschismus und Antirassismus sowie Demokratie in dieser Zeit wurden in einem Vortrag von Thomas Hecker formuliert, den wir hier in großen Auszügen wiedergeben.

Thomas Hecker, Bundessprecher der Kommunistischen Plattform in der Linkspartei:

Im Jahr 1992 erschien der Roman »Fatherland« (dt.: »Vaterland« [2]) von Robert Harris. Die Rahmenhandlung: Deutschland hat den II. Weltkrieg gewonnen. Zwei Mächte teilen sich die Welt auf: Das faschistische deutsche Reich und die USA. Europa - von Großbritannien bis zum Ural - ist von Deutschland okkupiert. Die Sowjetunion jenseits des Urals befindet sich im Partisanenkrieg, unterstützt von den USA. Doch Entspannung zwischen den beiden Weltmächten ist in Sicht. Der US-Präsident wird 1964 anlässlich des 75. Geburtstages von Adolf Hitler zum ersten Besuch eines amerikanischen Staatsoberhaupts in Berlin überhaupt erwartet. Vor diesem politischen Hintergrund wird in einem Mordfall ermittelt, der im Zusammenhang mit der Wannseekonferenz und der nach wie vor geleugneten Schoah steht. Hier soll nicht die Fabel dieses Romans wiedergegeben werden. Vielmehr soll festgestellt werden: Eine solche Entwicklung wäre denkbar gewesen, hätte die Sowjetunion nicht standgehalten: Vor Moskau, während der Blockade Leningrads, in Stalingrad und am Kursker Bogen. Diese Feststellung schmälert die Verdienste all der anderen Teilnehmer der Antihitlerkoalition nicht. Und wenn am kommenden Wochenende Menschen in aller Welt den 70. Jahrestag der Befreiung eines großen Teils der Menschheit von der faschistischen Barbarei begehen, so gelten Dank und Hochachtung allen, die gegen den Faschismus kämpften. Doch die Hauptlast im Ringen um die Rückkehr zu elementaren Normen der Zivilisation trug die Sowjetunion, die 27 Millionen Opfer brachte.

Deshalb bleiben wir bei den Liedzeilen »Dank Euch, ihr Sowjetsoldaten«, allem Antisowjetismus zum Trotz und auch angesichts eines zunehmenden Russenhasses. Deshalb waren wir die Initiatoren eines Offenen Briefes an die polnische Botschaft - unterschrieben von 708 Menschen - in dem gefordert wurde, den russischen Präsidenten Putin zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz offiziell einzuladen. In dieser konkreten Angelegenheit stimmen wir übrigens völlig mit dem Historiker Götz Aly überein, der im Januar in einem Kommentar der Berliner Zeitung schrieb: »So viel steht fest: Weder Polen noch »der Westen, »die Zivilgesellschaft« oder die Nato haben Auschwitz befreit, sondern allein die sowjetischen Streitkräfte. Deswegen ist es gedankenlos, gefühlsroh und politisch fahrlässig, den 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zu begehen, ohne die Vertreter Russlands einzuladen. Äußerlich ist die polnische Regierung für diesen Missgriff verantwortlich; die Bundeskanzlerin mimt die Unbeteiligte. Doch findet sie es offenbar richtig, wenn Bundespräsident Gauck am 27. Januar in Auschwitz den Guten gibt, von Werten und historischer Verantwortung tönt, während die Russen als die Bösen zu Hause bleiben müssen. Grotesk - nein: widerwärtig.« [3] 

»Wir wollen sie nicht töten, sondern nur etwas verletzen«

Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg. Das war die elementare Lehre, die weltweit aus dem Grauen des II. Weltkrieges gezogen wurde. Diese Schlussfolgerung nahm in der am 26. Juni 1945 von den 50 Gründungsstaaten Unterzeichneten Charta der Vereinten Nationen konkrete Gestalt an. Selten seither war der Weltfrieden so brüchig, und zu kaum einem anderen Zeitpunkt krochen Rechte so sehr aus ihren Löchern wie heutzutage. Wir haben in unserem Bericht auf der Bundeskonferenz vom Dezember 2014 hierzu umfangreich Stellung genommen und wollen auf Wiederholungen verzichten.
Doch in den fünf Monaten seither sind Entwicklungen zu verzeichnen, die heute unserer Stellungnahme bedürfen. Jan Myrdal, schwedischer Schriftsteller und Friedensaktivist, formulierte im Kontext mit dem Ukraine-Konflikt: »Wenn es Russland jetzt nicht glücken sollte, die EU und die USA abzuschrecken und zum Rückzug zu veranlassen, wie wir mit der damals existierenden internationalen Linken (und der bitteren Erkenntnis der USA, dass Moskau auch die Atombombe hatte) es schafften, die Kriegsgefahr 1952 abzuwehren, dann sind unsere individuellen Chancen zu überleben in den nächsten Jahren sehr gering.«  [4]

Diese Feststellung findet ihre abschreckende Bestätigung in Äußerungen des Stratfor-Chefs George Friedman vom 4. Februar 2015 in Chicago [5]: Stratfor ist eine führende US-amerikanische Denkfabrik. Das Expertenteam des Unternehmens besteht aus Politologen, Ökonomen und Sicherheitsexperten, die über »Informanten« in allen Regionen der Welt verfügen und eine Vielzahl von allgemein zugänglichen und verdeckten Quellen auswerten. Das US- Magazin Barron’s bezeichnete Stratfor aufgrund seiner nachrichtendienstlichen Eigenschaften 2010 als »Schatten-CIA«. Stratfor wurde 1996 von dem Politologen und Sicherheitsexperten George Friedman gegründet. Dieser George Friedman beantwortete auf einer Pressekonferenz Journalisten-Fragen. Unverblümt stellte er die Interessen US-amerikanischer Politik dar. Seine Antworten führen alle Anwürfe ad absurdum, Russland sei für die Zuspitzung der internationalen Situation zuständig. Wir müssen diese sich selbst entlarvenden Äußerungen so bekannt wie irgend möglich machen. Zumal es sich nicht um Absichtsbekundungen handelt, sondern um die dreiste Beschreibung der Realität. Nachfolgend also die leicht gekürzten, nach Themenkomplexen geordneten Darlegungen Friedmans.

»Europa, wie ich vermute, wird zwar nicht zu den großen Kriegen zurückkehren«, so Friedman gleich zu Beginn, »aber es wird wieder zum menschlichen Normalfall zurückkehren: Es wird seine Kriege haben, seine Friedenszeiten, und es wird seine Leben verlieren. ... Es wird Konflikte in Europa geben, es gab schon Konflikte in Jugoslawien und jetzt auch in der Ukraine.«

Nach den Beziehungen der Vereinigten Staaten zu Europa befragt, antwortet Friedman: »Wir haben keine Beziehungen zu „Europa“. Wir haben Beziehungen mit Rumänien, wir haben Beziehungen mit Frankreich, aber es gibt kein Europa, mit dem die USA Beziehungen haben.«

Und auf die Frage, ob der islamische Extremismus die Hauptbedrohung für die Vereinigten Staaten sei, reagiert er durchaus überraschend: »Er ist ein Problem für die Vereinigten Staaten aber keine existentielle Bedrohung. Man muss sich damit befassen, man muss sich damit angemessen befassen. Wir haben andere außenpolitische Interessen.« Die benennt er dann.

Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im I. und II. Weltkrieg und im Kalten Krieg, habe den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland gegolten. Weil, so Friedman weiter, »vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptinteresse galt, sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt.«

Deutschland, so sagt er an anderer Stelle, befände sich in einer sehr eigenartigen Lage. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sei im Aufsichtsrat von Gazprom. Die Deutschen hätten ein sehr komplexes Verhältnis zu den Russen. Die Deutschen wüssten selbst nicht, was sie tun sollen. Sie müssten ihre Waren exportieren, die Russen könnten ihnen die Ware abnehmen.

Aber unglücklicherweise müssten die Deutschen immer wieder eine Entscheidung treffen, und das sei das ewige Problem Deutschlands. Deutschland sei wirtschaftlich enorm mächtig, aber gleichzeitig geopolitisch sehr zerbrechlich und wüsste niemals, wie und wo es seine Exporte verkaufen könne. 

Für die Vereinigten Staaten sei das Hauptziel, dass es nicht gelingt, dass sich deutsches Kapital und deutsche Technologien und die russischen Rohstoffressourcen und die russische Arbeitskraft zu einer einzigartigen Kombination verbinden, die die USA seit einem Jahrhundert zu verhindern versuche. Und dann fragt Friedman - und legt die US-Strategie unverhüllt offen: »Also wie kann man das erreichen, dass diese Kombination verhindert wird? Die USA sind bereit, mit ihrer Karte diese Kombination zu schlagen: Das ist die Linie zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer.«
Hier ordnet sich die Ukraine-Frage ein, der sich Friedman entsprechend widmet.

»Wenn Sie Ukrainer sind«, so konstatiert er, »werden Sie Ausschau danach halten, wer Ihnen als einziger helfen kann - und das sind die Vereinigten Staaten.«

Ende Januar 2015 sei der Oberbefehlshaber der amerikanischen Bodentruppen in Europa, General Ben Hodges, zu Besuch in der Ukraine gewesen. Er habe dort angekündigt, dass die US-Militärberater demnächst offiziell in die Ukraine kommen sollen. Eigentlich habe er dort die Medaillen an die ukrainischen Kämpfer verteilt, obwohl das militärische US-Protokoll verbiete, dass die Medaillen an Ausländer verliehen werden. »Doch er tat das«, so Friedman wieder wörtlich, »weil er damit zeigen wollte, dass die ukrainische Armee seine Armee ist. Dann ging er weg, und die Vereinigten Staaten liefern baltischen Staaten Waffen, Artillerie und andere Militärausrüstungen. Die baltischen Staaten, Rumänien, Polen und Bulgarien - das ist ein sehr interessanter Punkt.«

Nun hätten die Vereinigten Staaten angekündigt, dass sie vorhaben, Waffen in die Ukraine zu liefern. Das sei dementiert worden, aber sie täten das. Die Waffen würden geliefert. Und bei all diesen Handlungen agierten die Vereinigten Staaten außerhalb der NATO. Weil die NATO-Entscheidungen von allen NATO-Mitgliedern einstimmig getroffen werden müssten. Der Punkt bei der ganzen Sache sei, dass die USA einen »Cordon sanitaire«, einen Sicherheitsgürtel um Russland herum aufbauten - und Russland wisse das. Und wieder wörtlich:

»Russland glaubt, die USA beabsichtigen, die Russische Föderation zu zerschlagen. Ich denke, wir wollen sie nicht töten, sondern nur etwas verletzen bzw. ihr Schaden zufügen.« Jedenfalls sei man jetzt zurück zum alten Spiel. In Europa herrsche Uneinigkeit. Aber was die Ukrainer bevorzugen würden, das könne Friedman genau sagen: Sie würden versuchen, das Zischen seitens der USA zu vermeiden.
Die Frage, die jetzt für die Russen auf dem Tisch ist, sei, ob man die Ukraine als eine Pufferzone zwischen Russland und dem Westen haben will, die wenigstens neutral bleiben wird, oder ob der Westen so weit in die Ukraine vordringe, dass die NATO nur 100 km von Stalingrad und 500 km von Moskau entfernt sein wird. Für Russland stelle der Status der Ukraine eine existentielle Frage dar. Und die Russen könnten bei dieser Frage nicht einfach so weggehen - loslassen. Für die Russen sei die entscheidende Frage, dass die Ukraine ein neutrales Land wird, kein prowestliches.

Dies also glasklar kalkulierend, formuliert Friedman: »Für die USA gilt: Wenn Russland sich weiterhin an die Ukraine hängt, werden wir Russland stoppen.« Deswegen, so fährt er fort, starteten die USA solche Maßnahmen mittels Eingreiftruppen in Rumänien, Bulgarien, Polen und den baltischen Staaten. Damit begründete, also schüfe man das Intermarum (»Zwischenmeerland«), das Territorium zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee. Dieses Konzept habe Pilsudski ausgearbeitet. Das sei die von den USA bevorzugte Lösung.

Und in diesem Kontext formuliert Friedmann noch einmal explizit: »Die Sache, auf die wir keine Antwort parat haben, ist die, was Deutschland in dieser Situation unternehmen wird«. Die reale unbekannte Variable in Europa seien die Deutschen, wenn die USA diesen Sicherheitsgurte! - gemeint ist der Cordon sanitaire um Russland - aufbauen.

Im Rahmen der Pressekonferenz äußerte Friedman weitere Überlegungen zur US-amerikanischen, brutal Imperialistischen Politik, die wir hier wiedergeben wollen.

Die Vereinigten Staaten kontrollierten aus ihrem fundamentalen Interesse alle Ozeane der Welt. Keine andere Macht habe das jemals getan. Wörtlich: »Aus diesem Grund intervenieren wir weltweit bei den Völkern, aber sie können uns nicht angreifen. Das ist eine schöne Sache.«

Die Aufrechterhaltung der Kontrolle über die Ozeane und im Weltall begründete die Macht der Vereinigten Staaten. Der beste Weg, eine feindliche Flotte zu besiegen, sei zu verhindern, dass diese gebaut wird. Der Weg, den die Briten gegangen seien, um sicherzustellen, dass keine europäische Macht die Flotte bauen konnte, sei, dass die Europäer einander bekämpften. Aus dieser britischen Erfahrung schlussfolgert Friedman: »Die Politik, die ich empfehlen würde ist die, die Ronald Reagan im Iran und Irak angewendet hat. Er unterstützte beide Kriegsseiten, sodass sie gegeneinander kämpften (1980 bis 1988) und nicht gegen uns. Es war zynisch, es war moralisch nicht vertretbar, aber es funktionierte.«

Und das sei der Punkt: Die Vereinigten Staaten seien nicht in der Lage, ganz Eurasien zu okkupieren. In dem Moment, wo US-Stiefel den Boden berührten, sei man demographisch, zahlenmäßig unterlegen. Die USA könnten eine Armee zerschlagen, aber seien nicht in der Lage, den Irak zu besetzen. Also sei man nicht in der Lage, überall militärisch zu intervenieren, aber man könne die gegeneinander kämpfenden Mächte unterstützen, damit sie sich auf sich selbst konzentrieren: Unterstützen politisch, finanziell und militärisch, Waffen liefern und die USA-Berater aussenden. Und in außerordentlichen Fällen könne man wie in Vietnam, Irak und Afghanistan mit Präventivschlägen Intervenieren.

Die Taktik der Präventivschläge beabsichtige nicht, den Feind zu besiegen, sondern sie verfolge das Ziel, den Feind aus der Balance zu bringen. Es folgt wieder eine der besonders zynischen, wenngleich von Offenheit geprägten Feststellungen:

»Das Problem, das wir haben, ... ist, dass wir die Feinde aus der Balance bringen und anstatt zu sagen: Wir haben den Job gut gemacht, lasst uns nach Hause gehen, sagen wir: Mann, das war aber leicht, lasst uns hier noch eine Demokratie aufbauen. Das war der Moment der Geistesschwäche, von der wir befallen wurden.«

Soweit zum Gerede über die Werte.

Für die USA, so Friedman weiter, stelle eine militärische Intervention einen Sonderfall dar, die letzte Möglichkeit. Man könne nicht schon im ersten Schritt die US-Truppen aussenden. Aber wenn US-Truppen geschickt würden, dann müsse die Intervention eingeschränkt erfolgen und nicht gigantische Ausmaße erreichen.

»Die Briten«, so Friedman, »haben damals Indien nicht okkupiert, sie haben einfach die einzelnen Staaten Indiens genommen, und sie ließen sie gegeneinander kämpfen.«

Die Briten hätten britische Offiziere bei der indischen Armee installiert.

Die alten Römer hätten auch keine Truppen in entlegene Regionen außerhalb des Römischen Imperiums entsendet, sondern sie hätten Prorömische Könige dort eingesetzt, und die wären verantwortlich gewesen für die Aufrechterhaltung des Friedens an den Grenzen des Imperiums.

Imperien, welche versuchten, direkt in okkupierten Gebieten zu regieren, scheiterten, wie es mit dem Nazi-Imperium der Fall war. Weil niemand so viel Macht habe, um direkt zu regieren.

Als starke Oppositionskraft der Verantwortung gerecht werden

Friedman gibt durch imperiale Dreistigkeit in nicht einmal einer Viertelstunde die Koordinaten bekannt, an denen sich US-amerikanische Politik orientiert. Niemand kann das als verschwörungstheoretisches Gerede abtun. Es ist die Darlegung realer Interessen und daraus resultierenden Vorgehens. Offenkundig analysiert Russland diese Interessen und dieses Vorgehen sehr realistisch. Davon zeugt vor allem die Grundsatzrede Wladimir Putins vom 24. Oktober 2014 auf dem Waldai-Forum [6], die wir in den aktuellen Mitteilungen in Teilen dokumentieren. »Bewertet man die heutigen Tendenzen«, so führt er u.a. aus, »dann kann man schon eine Reihe an Prognosen abgeben, und leider sind diese nicht optimistisch. Wenn wir daran scheitern, ein fest umrissenes System gegenseitiger Verpflichtungen und Vereinbarungen zu schaffen, keine Mechanismen aufbauen, die Krisensituationen aufzulösen helfen, dann werden die Anzeichen einer weltweiten Anarchie sich nur verstärken. Bereits heute«, so Putin weiter, »ist die Wahrscheinlichkeit einer ganzen Reihe an verschärften Konflikten mit wenn nicht direkter, so doch mittelbarer Beteiligung von Großmächten enorm angestiegen. Dabei sind nicht nur die traditionellen Widersprüche von Staaten untereinander, sondern auch die innere Instabilität einzelner Staaten ein Risikofaktor, besonders, wenn es um solche Länder geht, die an den Nahtstellen geopolitischer Interessenssphären von Großmächten oder entlang von kulturhistorischen und wirtschaftlichen Grenzen zivilisatorischer »Kontinente« liegen. Die Ukraine ... ist ein Beispiel für diese Art von Konflikten, die Auswirkung auf das internationale Kräfteverhältnis haben.«

Der ehemalige US-Botschafter in Moskau und Historiker Jack Matlock sagte Ähnliches in drastischen Sätzen: »Wenn China anfangen würde, eine Militärallianz mit Kanada und Mexiko zu organisieren, würden die USA das nicht tolerieren. Wir würden uns auch nicht auf abstrakte Prinzipien von internationalem Recht beschränken lassen. Wir würden das verhindern. Mit jedem Mittel, das wir haben. Jedes Land, das die Macht dazu hat, würde das tun.«  [7]

Wir kommen immer wieder auf die Hauptfrage zurück: Es gilt alles in unseren bescheidenen Kräften Liegende zu tun, um einen Weltenbrand zu verhindern. Wir leben und arbeiten in dem - zumindest ökonomisch und politisch - mächtigsten Staat der EU. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung will keine Konfliktlösungen auf militärischem Wege. Dass diese Grundstimmung öffentlich zur Geltung kommt, ist nicht zuletzt ein Verdienst unserer Partei. Aber DIE LINKE kann ihre Rolle als Sprachrohr nur dann wahrnehmen, wenn sie glaubwürdig bleibt. Wir haben auf der letzten Bundeskonferenz detailliert darüber berichtet, wie diese Glaubwürdigkeit unterlaufen werden soll. Einigen scheint die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung 2017 mehr am Herzen zu liegen als die friedenspolitischen Grundsätze unserer Partei. Wir wiederholen heute unsere feste Überzeugung: DIE LINKE kann auf Bundesebene ihrer politischen Verantwortung nur als starke Oppositionskraft gerecht werden. Jeder Versuch, beim momentanen Kräfteverhältnis in eine Bundesregierung einzutreten, kann nur unsere Identität zerstören. Wir werden dieser Überzeugung auch auf dem bevorstehenden Bundesparteitag Ausdruck verleihen, der am 6./7. Juni Bielefeld stattfindet. Auf die weitere Vorbereitung dieses Parteitages kommen wir am Schluss des Referates noch einmal zurück.
Wo gibt es eine leichte Entscheidung in einer schwierigen Situation?

Etwas anderes ist es mit der Regierungsbeteiligung, wenn man sich in einer Lage befindet wie Syriza, die bei den Wahlen knapp die absolute Mehrheit verfehlte. Die Verhältnisse, unter denen die griechische Bevölkerung leidet, sind unerträglich. Gerade deshalb hat Syriza so erfolgreich den Wahlkampf bestritten. Doch Wahlergebnisse in einem Land ändern am Kräfteverhältnis in der EU zunächst einmal kaum etwas. Genau diese Erfahrung musste und muss die neugewählte linke Regierung machen. Eine Solidarisierung von ähnlich geplagten EU-Staaten mit den Griechen kam nicht zustande. Soziale Empathie von Schäuble & Co. gibt es nicht. Dafür umso mehr absolute Antipathie gegen alles Linke. Illusionen, die in der Politik immer mit im Spiel sind, zerplatzten schnell. Das geht auch aus der in den Märzmitteilungen dokumentierten Erklärung von Abgeordneten unserer Partei hervor, die sich bei der Abstimmung für die Verlängerung der »Hilfen« für Griechenland um vier Monate der Stimme enthielten. Dafür wurden sie von links und rechts angegriffen. Aber war in dieser Situation mehr möglich, als der griechischen Regierung eine Atempause in deren Kampf gegen die Austeritätspolitik zu verschaffen? Oder, mit anderen Worten: Ist über die Regierung Tsipras heute schon der Stab zu brechen? Ein Ja zur sogenannten Griechenlandhilfe war ein aus sicher unterschiedlichsten Motiven zu weit gehender Schritt. Ein Nein richtete sich nicht nur gegen das von Schäuble verfasste Papier, sondern auch gegen den Wunsch der Griechen, eine Atempause zu erhalten. Eine schwere Entscheidung. Aber, wo gibt es leichte in einer so schlimmen Situation?

Und noch etwas sei erwähnt: Die konservativsten Kräfte im Bundestag stimmten mit Nein und BILD startete unter der Überschrift »Wir finden, es reicht« erneut eine widerliche rassistische Hetzkampagne gegen die griechische Bevölkerung. »Genug ist genug!« schrieb BILD am 27. Februar und berichtete über die BILD-Aktion »Nein - keine weiteren Milliarden für Griechenland«. In einer Situation, wo so etwas die veröffentlichte Meinung prägt, müssen wir als Linke siebenmal messen, bevor wir einmal schneiden. Der Druck, der auf der Regierung von Alexis Tsipras lastete und lastet, ist immens. Hätten sie es deshalb gar nicht erst versuchen sollen? Das scheint uns keine Antwort auf die brennenden Fragen zu sein. Die griechischen Genossen brauchen die kämpferische Solidarität der europäischen Linken, und es bedarf einer schonungslosen Analyse der konkreten politischen Prozesse, die nun in Griechenland vonstattengehen werden. Und: Der europäischen Linken muss bewusst sein, dass die Protagonisten der EU keinen Präzedenzfall zulassen wollen. Podemos soll in Griechenland gestoppt werden. Zu einem späteren Zeitpunkt wird ein sichereres Urteil möglich sein, wie Syriza die äußerst schwierigen Probleme bewältigt. Hier und heute ist die Frage nicht zu umgehen: Hätte Syriza bei 36,3 Prozent Wählerstimmen und 149 von 300 Parlamentssitzen eine Regierungsbildung einfach ablehnen sollen oder können? Ist es nicht auch von Wert, dass nunmehr in Europa wieder über die verheerende, besonders von Deutschland ausgehende Austeritätspolitik oder auch die Reparationsforderungen gesprochen wird? Kürzlich äußerte Athens Sonderbotschafter Jorgo Chatzimarkakis in einem ND- Interview: »Ich war unlängst in meinem Dorf auf Kreta tanken und der Tankwart hat gesagt: Also ich habe SYRIZA nicht gewählt, aber ich würde sie jetzt wählen. Ich habe ihn gefragt: Warum? Darauf er: Na, die machen wenigstens was! Ich frage zurück: Was machen sie denn? Und er: Die wehren sich wenigstens. Das ist der Aufbruch.« [8]

»Je suis Charlie«

Wir erlebten gerade in den letzten Wochen des vergangenen Jahres und zu Beginn des neuen auch in der EU einschneidende Ereignisse, die in unserer politischen Arbeit große Berücksichtigung finden müssen. Am 7. Januar 2015 überfielen in Paris Fanatiker, die vorgaben, dem Islam anzuhängen, die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Heb- do und einen jüdischen Supermarkt. Sie ermordeten eiskalt Journalisten, die Mohammed- Karikaturen gezeichnet hatten, und wahllos Menschen im Supermarkt, weil sie Juden sind.
Kann man dafür auch nur das geringste Verständnis aufbringen? Kann man nicht. Aber leitet sich aus dieser uneingeschränkten Ablehnung eines solchen Fanatismus ab, dass man über den vergifteten Boden, aus dem diese mörderische Saat sprießt, nicht redet und dass man gutheißt, wenn Gefühle von Menschen, ob man sie denn teilt oder nicht, bewusst verletzt werden? Verletzt mit der profanen Begründung, es ginge um das hohe Gut der Meinungs- und Pressefreiheit, ja es ginge um die Freiheit als solche, womit mit der allergrößten Selbstverständlichkeit die sogenannten westlichen Werte gemeint sind. Diese »Werte« sind in den Augen ihrer Verkünder so heilig, dass sie nicht einmal benannt werden müssen. Sonst müsste man ja auch sagen, dass es Wertvorstellungen sind, die den Kapitalismus zu einer moralischen Veranstaltung verklären. Die Freiheit gilt für Millionäre ebenso, wie für die Geschundenen dieser Welt. Die einen sind frei, auszubeuten, und die anderen, die Folgen dessen zu ertragen. Das ist der Kern jener Freiheit, welche die Profitmaximierung begleitet.

Natürlich gibt es verteidigungswerte bürgerliche Freiheiten. Würden wir das abstreiten, so könnte uns die Regierungsform gleichgültig sein, derer sich das Kapital bedient. Aber werden die verbliebenen Reste z.B. der Pressefreiheit dadurch verteidigt, dass Millionen Muslime in aller Welt gedemütigt werden? Kann nicht akzeptiert werden, dass es für diese Millionen ein Sakrileg ist, ihren Propheten bildlich darzustellen, im Extremfall gar als Hund? Flat der Westen das moralische Recht, den vom sogenannten Abendland über die Jahrhunderte ausgebeuteten Massen beizubringen, wie sie zu leben haben? Der Westen sollte sich lieber um die Schande kümmern, dass - gleich nach dem Waffengeschäft - Menschen- und Drogenhandel, realisiert vor allem in den Zentren des Kapitals, die zweitprofitabelsten Geschäfte weltweit sind.

Warum gehen in Anbetracht der ungezählten Stätten der illegalen Prostitution mit Sklavinnen, die geschunden werden bis aufs Blut, hierzulande, in Paris, London, Budapest oder Amsterdam nicht Millionen auf die Straße und rufen: »Ich bin eine Sklavin«? Warum gehen sie nicht auf die Straße und schreien gegen die Drohnenmorde der Amerikaner an, gegen die weltweit wieder hoffähig werdende Folter? Warum skandieren sie nur: »Je suis Charlie«? Eine Formel übrigens, in die alles hineininterpretiert werden kann. Solidarität, aber auch Hass. Warum musste die Satirezeitschrift nach dem Attentat gleich wieder einen Mohammed abbilden? Ist das mutig? Ist das Humor? Humor ist die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Über andere zu lachen, gerät schnell zum Zynismus.
Die Millionen auf den Straßen Frankreichs, sicher oft ehrlichen Herzens, haben vor allem eines bewirkt: Dass sich die Herrschenden im Land bei allen demokratieabbauenden Maßnahmen zur angeblichen Terrorbekämpfung auf die Bevölkerungsstimmung berufen können. Darin besteht die Gefahr. Nehmen wir nur die Selbstverständlichkeit, auch nach den Anschlägen in Belgien und Dänemark, mit der Soldaten zur Sicherung der Ordnung im Inland eingesetzt werden. Man bereitet sich noch auf ganz andere Dinge vor als auf Anschläge von religiösen Fanatikern, die es ansonsten in allen Religionen gibt und die auch andernorts militant sind. Wie schrieb doch so ein Halbfaschist auf facebook: »Nicht alle Moslems sind Terroristen. Aber alle Terroristen sind Moslems.« [9] Das ist sie, die ekelerregende, gefährliche Mischung von Dummheit und Rassismus.

Ein Klima, in dem Faschistoides gedeihen kann

Im Januar berichtete das ARD-Magazin Report Mainz, die Zahl der rassistisch motivierten Übergriffe seit der ersten Pegida-Kundgebung habe sich gegenüber dem Vorjahreszeitraum mehr als verdoppelt. Und das ND schreibt am 2. Februar 2015 in einer bewegenden Reportage: »Mit Pegida kam die Angst nach Dresden - die Angst der Muslime.« Wovor die Dresdner Muslime sich fürchten, lässt sich genau beschreiben. Und wie ist es mit der Angst der Pegida-Demonstranten? Sie sind unzufrieden mit der Politik im Land. Doch sie wenden sich nicht gegen die komplexen Ursachen für diese Politik, sondern lenken ihre Wut auf diejenigen, denen es noch schlechter geht. Ein bekannter, primitiver und zugleich wirksamer Mechanismus, um von den realen Ursachen für soziale Probleme abzulenken.

Wir wollen heute nicht, wie schon oft, mit Zahlen arbeiten, die das herrschende soziale Unrecht belegen. Patrick Schreiner hat ein Buch über die sozialen Auswirkungen neoliberaler Ideologie geschrieben [10]. Aus diesem Buch sei zitiert: »Noch nie war die wirtschaftliche Produktivität so hoch wie heute. Und doch war die gesellschaftliche Armut seit vielen Jahrzehnten nicht mehr so hoch. Noch nie war die Produkt- und Markenvielfalt so groß wie heute. Und doch bleiben immer mehr Bedürfnisse der Menschen unbefriedigt. Noch nie waren Menschen so gut ausgebildet wie heute. Und doch gehen die Löhne der Arbeitnehmerinnen seit Jahren oder Jahrzehnten zurück. Noch nie gab es so viele Ratgeberbücher, Therapeutinnen und „spirituelle“ Angebote wie heute. Und doch litten noch nie so viele Menschen an Burn-out und Depressionen, war der Gebrauch von Alkoholika, Drogen und Psychopharmaka noch nie so verbreitet wie heute.«

Statt nach den Gründen für diese offen zutage liegenden gesellschaftlichen Widersprüche zu fragen, statt z.B. gegen TTIP zu demonstrieren oder die Angriffe auf das Streikrecht zurückzuweisen, treten die Pegida-Leute die Schwächsten als Sündenböcke. Die Grundhaltung sehr vieler von ihnen ist geprägt von Entsolidarisierung, Rassismus und Wohlstandschauvinismus. Sie haben Angst vor dem sozialen Abstieg. Die Mehrzahl von ihnen kann noch absteigen. Es ist vor allem das Kleinbürgertum, das sich dort versammelte und - zunächst weniger geworden - weiter versammelt. Diese Leute stimmen der Pegida-Oberbürgermeisterkandidatin zu, wenn sie den unglaublichen Satz formuliert: »Wir wollen hier keine dauerbeleidigten, dauerfordernden, unverschämten Minderheiten aus islamischen Ländern.« Das Kleinbürgertum war auch die soziale Basis des deutschen Faschismus. Auch damals wurde Ihm eingetrichtert, die Volksgemeinschaft würde die Probleme der Deutschen lösen. Auch damals waren die zu Fremden erklärten die Sündenböcke. Später schickte man sie nicht in die Wüste, sondern ins Gas. Damals waren es die Juden. Ist es unangemessen, zu sagen: Heute sind es die Ausländer, vorrangig die aus dem Nahen Osten und aus Afrika? Ja und Nein. Wir leben nicht im Faschismus, und wir sollten nicht so tun, als sei das schon der Fall. Dies machte uns nur unglaubwürdig, ja lächerlich. Aber die Frage zu stellen, unter welchen Umständen Faschismus entsteht und wie dessen Ideologie hoffähig gemacht wird, das muss nicht nur erlaubt sein, sondern sie muss gestellt werden.

Eine mögliche Antwort gibt Timo Reinfrank von der Amadeu-Antonio-Stiftung wenn er sagt: »Eine Bewegung, die massiv von rassistischen Ressentiments geprägt ist und sich selbst als Volkes Wille inszeniert, schafft ein Klima, das rassistische Gewalttäter motiviert, den vermeintlichen „Volkswillen“ zu vollstrecken.« [11] Wenn Michael Kretschmer, der sächsische CDU-Generalsekretär, meint, es dürfe nicht sein, dass »die politischen Parteien entscheiden, welche Ängste zulässig sind« und »welche man für unzulässig und rechtsextremistisch hält« [12], dann ist das so ziemlich das Gegenteil von dem, was Reinefrank formuliert. Niemals würde sich Kretschmer wagen, dies offiziell für die Zeit vor 1933 und danach zu sagen. Denn dann sagte er auch, nur der selbsternannte Volkswille habe zu beurteilen gehabt, ob die Ängste vor den Juden, die ja nach Treitschke »unser Unglück« waren, zulässig gewesen sind oder nicht. Und wenn heutzutage wieder welche von der jüdischen Weltverschwörung faseln, dann wird Kretschmer auch kaum meinen, es sei nicht Sache der CSU, zu entscheiden, ob es sich so verhält und ob man Angst davor haben darf. Und es ist ja gut so, dass vor dem Antisemitismus zumindest nach außen noch haltgemacht wird. Aber die Ressentiments, die Muslimen, Russen, Sinti und Roma oder anderen Völkern und Minderheiten gelten, sind doch nicht weniger schlimm und nicht weniger gefährlich. Es ist immer das gleiche Prinzip: Für reale Probleme werden mittels demagogischer »Argumente« Verantwortliche gefunden - besser: Sündenböcke - um von den eigentlichen Verursachern für diese Probleme abzulenken. Und für diejenigen, die sich so betrügen lassen, ist das zudem bequem. Gegen Banken fühlen sie sich machtlos, nicht so gegen Muslime.

Bewegungen wie Pegida, Parteien wie die AfD, von den offen rechten ganz zu schweigen, Medien wie BILD & Co., das pausenlose Gerede über die Wertegemeinschaft, hilfsweise die des Abendlandes, erzeugen ein Klima, in dem Faschistoides gedeihen kann, ja muss. Mittels der Medien kann diese Atmosphäre hochgekocht oder auch gedämpft werden. Da die Welt von heute ist, wie sie ist, hält sich das Kapital, zumindest mächtige Kapitalfraktionen, mehr als die eine, sich bürgerliche Demokratie nennende Herrschaftsoption offen. Noch funktioniert diese Option zumindest an der Oberfläche, und das, während kriegerische Konflikte sich wie Seuchen ausbreiten, die ganze Welt überwacht wird und Folter wieder als normal gilt. Der große Katalysator für dieses barbarische Gemisch heißt Terrorismusbekämpfung, so wie auch gerade wieder in Jemen. Saudi-Arabien bombardiert das Land mit dreister Selbstverständlichkeit. Die USA und andere Länder haben diesen »Politikstil« vorgemacht und machen ihn weiter vor. Die Herrschenden brauchen eine Situation, in der in den Mutterländern des Kapitals bei den Massen ein Höchstmaß an Verständnis zu erzeugen möglich ist, für die benötigte repressive Innen- und Außenpolitik.

Der Slogan »Je suis Charlie« ist diesbezüglich meisterhaft instrumentalisiert worden. Am Morgen nach der Demonstration in Paris interviewte ein Reporter des Morgenmagazins in Paris eine ältere Frau, die ihren Hund spazieren führte. »Wir haben demonstriert«, sagte diese, »dass wir bestimmte Dinge hier nicht wollen.« Befragt, um welche es sich handle, verwies sie auf Frauen mit Kopftüchern. Solche primitiven Stimmungen haben in der Masse etwas Dumpfes, Gefährliches, aggressiv Selbstgerechtes: Ob der Prophet abgebildet wird oder eine Spießbürgerin gegen Kopftücher wettert, der Kern bleibt sich gleich: Eure Maßstäbe sind uns gleichgültig; nur unsere Werte zählen. Ob ihr euch gedemütigt fühlt oder nicht, ist nicht unser Problem. Das ist der Boden, auf dem Faschistisches gedeiht und eben auch Terrorismus als völlig sinnlose Antwort auf die Arroganz des Westens. Wir müssen dem vor allem gelebte Solidarität entgegenstellen. Dazu gehört gegenwärtig vor allem der Kampf gegen die geplante Verschärfung des Asylrechts und für Solidarität mit Flüchtlingen. Vor allem durch die jüngsten Schiffsunglücke im Mittelmeer sind dort seit Jahresbeginn 30-mal mehr Flüchtlinge gestorben als Im gleichen Zeitraum 2014. Insgesamt, so ein Sprecher der Internationalen Organisation für Migration, hätten bis zum 21. April 2015 rund 1.750 Menschen bei dem Versuch, auf dem Seeweg nach Europa zu fliehen, ihr Leben verloren. Wir müssen tagtäglich viel mehr tun, um dieses Elend anzuprangern, die Ursachen hierfür zu benennen und gegen Alltagsrassismus zu mobilisieren.

Herr Gabriel kommt auch nicht mal eben bei uns vorbei

Es gibt, sehr gelinde gesagt, einige Merkwürdigkeiten im Umgang mit rechten Bewegungen und Parteien. Denken wir an die Absage der Pegida-Demonstration vom 19.01.2015 aufgrund der Drohung mit einem Terroranschlag. Tagelang war die Rede davon, dass - wie auch immer man zu Pegida stünde - Terroristen ein Stück weit ihr Ziel erreicht hätten, wenn eines der höchsten Güter der Demokratie, die Demonstrationsfreiheit, beschädigt wird. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es für die bürgerliche Demokratie schlimmer ist, eine Demonstration wegen terroristischer Bedrohung nicht stattfinden zu lassen, als es das permanente Stattfinden von rassistisch gefärbten Massenveranstaltungen Ist. Da kommt eine Erinnerung hoch. Im Jahr 2000 verbot der Berliner Polizeipräsident die für den 9. Januar geplante Luxemburg-Liebknecht-Ehrung. Hintergrund war die Drohung des polizeilich gesuchten Staps, im Rahmen dieser Ehrung ein gegen die PDS gerichtetes Blutbad anzurichten. Damals nahmen an der LL-Ehrung noch etwa 100.000 Menschen teil. Die Medien befassten sich recht umfänglich mit diesem Ereignis. Das hohe Gut der Demonstrationsfreiheit spielte allerdings keine Rolle. »Es ist gut möglich«, so Brigitte Fehrle seinerzeit in der Berliner Zeitung, »dass der Januar des Jahres 2000 rückblickend in der Geschichte der PDS eine Zäsur darstellen wird. Es wird der Monat sein, in dem die Partei verstanden hat, was es mit dem Gewaltmonopol des Staates auf sich hat.« Und sie beendet den Artikel - wenige Monate vor dem Münsteraner Parteitag - mit den Sätzen: »Der Konflikt um das Verbot könnte in der Partei zu einem Lehrstück werden. Die PDS-Mitglieder könnten begreifen, dass diese Demokratie nur zu verändern und zu verbessern ist, wenn man ihre Grundregeln akzeptiert. Besser als in den bevorstehenden, konfliktreichen Programmdebatten um das Gewaltmonopol der UNO lernt es sich - auch in der PDS - mitten im Leben.« [13] Und wie gesagt: Vom hohen Gut der Demonstrationsfreiheit kein Wort, nicht nur in der Berliner Zeitung nicht. Die Frankfurter Rundschau schreibt: »Plötzlich und unerwartet findet sich die PDS inmitten einer Diskussion wieder, die sie durch die jüngsten Wahlerfolge zumindest von der Tagesordnung abgesetzt geglaubt hatte: Wie verhält sich eine linke Oppositionspartei zu diesem Staat?« [14]

Summa summarum, einen im Kern gleichen Bedrohungssachverhalt betreffend: Geht es um Linke, so sollen sie ihr Verhältnis zum Staat artikulieren, geht es um Rechte, so müssen auch sie das hohe Gut der Demonstrationsfreiheit genießen dürfen. Ist diese Doppelbödigkeit vielleicht nur ein Zufall? Kaum. Nehmen wir ein weiteres Beispiel. Es gibt keine Demonstration im Rahmen der Luxemburg-Liebknecht-Ehrung, in der die Teilnehmerzahlen durch Polizei und Medien nicht maßgeblich nach unten »korrigiert« werden. Wenn es real 12.000 bis 13.000 waren, dann sind es bei denen bestenfalls einige Tausend. Ganz anders bei den Rettern des Abendlandes: Als die nichtstattfindende Pegida-Demonstration im für Terroristen unerreichbaren, ca. 120 km entfernten Leipzig bei Legida stattfinden sollte und auch stattfand, hatten die Organisatoren 50.000 Teilnehmer angemeldet. Es kamen 5.000 bis 7.000. Und siehe da: Die Polizei meldete 15.000. So kann man sich nicht irren. Inzwischen ist bekannt geworden, dass auch Pegida niemals 25.000 Leute auf die Beine gebracht hat, sondern bestenfalls 17.000 bis 18.000. Nicht, dass das nicht auch reichen würde. Aber - es ist signifikant: Bei Linken werden die Zahlen heruntergeschraubt und bei Rechten offensichtlich empfindlich geschönt. Warum eigentlich? Und warum werden solche wie Pegida oder auch die AfD medial so gepuscht? Sie sind, zumindest zeitweise, in einem Maße in den Medien präsent, von dem unsere Partei nur träumen könnte. Und Herr Gabriel kommt auch nicht mal eben bei unserer Konferenz vorbei, obgleich auch wir Ängste und Sorgen haben, z.B. Angst vor Krieg, Sozialabbau und Rechtsentwicklungen. Aber zu einer Pegida-Veranstaltung geht er, als sei ihm nicht klar, dass er diese Typen dadurch aufwertet. Was auch immer im Einzelnen aus den Bewegungen wird, die das Abendland zu retten angetreten sind, weil - und das ist ein wörtliches Zitat - sie nicht in 15 Jahren Mohammed anbeten wollen: Das Gift, das sie verspritzt haben, ist im Land, und dass sich im Zeitraum seit Oktober 2014 die Gewalttaten gegen Ausländer verdoppelt haben, zeugt von einer gefährlichen Richtung, die jederzeit auch mit neuen Formen des Kampfes der Rechten um die Köpfe und die Straße weiter eingeschlagen werden kann. Sie können gewiss sein, dass ihnen, sowohl in inhaltlichen als auch in praktischen Fragen, mit einem gewissen Verständnis begegnet wird. Denn die Ärmsten haben ja solche Ängste, solche Probleme, dass man darüber die Sorgen und Ängste der Flüchtlinge glatt vergessen kann. Ein vergiftetes Klima ist abrufbar, egal, ob die Vergifter auf der Straße sind oder Montagabends vor dem Fernseher auf dem Sofa sitzen, wie der wieder in die Bewegung aufgenommene Rassist Lutz Bachmann es sich wünscht.
Das Kapital baut auf verschiedene Optionen. Natürlich: Solange es geht, setzen sie auf die verbliebenen Reste der bürgerlichen Demokratie, die zunehmend von einer auf Nationalismus, Rassismus und Chauvinismus geprägten Ideologie durchdrungen wird - erzeugt auch mittels einer nicht enden wollenden Debatte über die Kosten für Flüchtlingsströme. Eine Ideologie, die autoritäres Vorgehen leicht macht, ja, dieses Vorgehen für BILD-geprägte Gemüter nachgerade notwendig erscheinen lässt. Diese reaktionäre Ideologie, die zugleich linke Alternativen durch allgegenwärtigen Antikommunismus verstellen soll, würde es gegebenenfalls sehr leicht machen, den Schalter umzukippen - für den Fall innerer Unruhen und auch im Falle von kriegerischen Auseinandersetzungen, die die Hauptländer des Kapitals direkt beträfen. Die Vorgänge in der Ukraine machen deutlich, dass auch damit gerechnet werden muss.

Die Auseinandersetzung um die Geschichte bleibt unsere Sache

Gerade diese Situation macht es dringend erforderlich, den Kampf um den Frieden und antifaschistische Aktionen spürbar zu verstärken. In diesem Zusammenhang besitzt die jährliche Luxemburg-Liebknecht-Ehrung einen hohen Stellenwert. Wir waren in guter Tradition besonders im Bündnis zur Vorbereitung der Demonstration im Rahmen der Ehrung aktiv. Über 13.000 Teilnehmer zählte die Demonstration, darunter sehr viele junge Menschen und nicht wenige Migrantinnen und Migranten. Die Demonstration war kämpferisch und diszipliniert. Sie verlief ohne Zwischenfälle. Es ist ein wichtiges politisches Signal, dass wir zu solch einer Gesamtdisziplin in der Lage sind. Die Vorbereitungsarbeit im Bündnis war ausgesprochen sachlich und vertrauensvoll. Die besonders 2013, aber auch 2014 gestarteten Versuche, die Demonstration politisch zu spalten, waren nicht von Erfolg gekrönt. Die Zusammenarbeit mit den Genossinnen und Genossen des Landesvorstandes Berlin, die die Organisatoren des Stillen Gedenkens sind, verlief - wie in den Vorjahren auch - respektvoll und sachorientiert. Als hilfreich erwies sich die umfangreiche Unterstützung, die wir durch die Öffentlichkeitsarbeit der jungen Welt erhielten. Vielen Dank dafür.

Am kommenden Wochenende finden eine Vielzahl von Veranstaltungen zum 70. Jahrestag der Befreiung statt, so - um exemplarisch nur eine zu nennen - am 8. Mai um 18:00 Uhr am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park. Wenn es uns nicht gelingt, zu diesen Veranstaltungen sichtbar mehr Menschen zu mobilisieren als in den vergangenen Jahren, dann werden wir unserer Verantwortung nicht gerecht. Wir bitten jede und jeden hier, persönlich zu dieser Mobilisierung beizutragen, Multiplikator zu sein bei der Organisation des Gedenkens. Das gleiche gilt für die in vier Monaten bevorstehenden Aktivitäten zum Weltfriedenstag. Wenige Wochen vor dem 25. Jahrestag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik sollten wir intensiv daran erinnern, dass der Grundsatz »Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen« mit dem Wiedererstehen eines einheitlichen kapitalistischen Deutschlands über Bord geworfen wurde und dass dies kein Zufall ist. Eine erneute Flut zügelloser Hetze gegen die seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr existierende DDR wird sich in den kommenden Monaten über uns ergießen. Sprechen wir umso deutlicher aus, was diese DDR für uns in erster Linie war: Ein Staat, der zum Frieden erzog und dessen Armee niemals an einem Krieg beteiligt war, ein Staat, in dem der Antifaschismus Staatsräson war und das Gemeinwesen vor allem durch das Fehlen von Existenzängsten und Bildungsschranken geprägt war. Wir danken an dieser Stelle noch einmal Uschi Jeske für ihre überzeugenden Darlegungen über das Bildungssystem der DDR in den Mitteilungen 2/2015. Wir wissen: Kritikwürdiges gab es mehr als genug. Aber wieviel mehr zählten die existentiellen, realen Vorteile einer Gesellschaftsordnung, die nicht mehr vom Profitstreben dominiert war. Darüber kann auch das demagogisch-dumme Gequatsche über den »Unrechtsstaat DDR« nicht hinwegtäuschen. Die Auseinandersetzung um die Geschichte bleibt eines unserer Hauptbetätigungsfelder.
In diesem Kontext eine kurze Bemerkung zu einer aktuellen Auseinandersetzung: Das Wirken der bundesdeutschen Geheimdienste ist skandalös. Davon zeugen nicht zuletzt die Vorgänge um das Zusammenwirken von BND und NSA. Die Medienkampagne darum hat zudem einen merkwürdigen Beigeschmack, nicht nur weil BILD erneut Personalpolitik macht. Da scheint ein Geheimdienst eigene Aktivitäten durchzustechen, um andere in Schwierigkeiten zu bringen. (…)

Wir waren und sind sehr aktiv an dem Antrag beteiligt, der Parteitag möge einen Offenen Brief an Michael S. Gorbatschow beschließen, in dem dieser gebeten wird, eine Weltfriedenskonferenz zu initiieren. Dieser Antrag ist einerseits auf außerordentliche Zustimmung gestoßen. Andererseits gibt es ernstzunehmende Bemühungen, zu verhindern, dass der Offene Brief in Bielefeld zur Abstimmung gelangt. Zwei inhaltliche Grundlinien stehen sich letztlich gegenüber: Zum einen die sehr deutliche Benennung der Hauptverantwortung der von den USA dominierten NATO für die stets gefährlicher werdende Weltsituation, insbesondere im Kontext mit dem Ukrainekonflikt, und zum anderen das Bestreben, sich zur Verantwortung verschiedener Mächte für die wachsende Kriegsgefahr mit Äquidistanz zu verhalten. Das Prinzip der mehr oder weniger gleichen Schuld aller, welches wir schon in Christopher Clarks Bestseller »The Sleepwalkers« (dt.: »Die Schlafwandler« [15]) im Zusammenhang mit dem I. Weltkrieg finden, soll auch für die heutige Situation gelten.    ★

Aus MITTEILUNGEN, Mai 2015

[1] George Friedman, Stratfor: »Europe: Destined for Conflict?«, The Chicago Global Council on Global Affairs, Chicago, 04.02.2015, https://www.youtube.com/watch?v=QeLu_yyz3tc.

[2] Robert Harris: »Vaterland«, Heyne, 1994 (2. Auflage), 378 Seiten, ISBN 978-3453072053.

[3] Götz Aly: »Auschwitz, guter Gauck & böser Putin. Kolumne zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.«, Berliner Zeitung, 19.01.2015.

[4] Jan Myrdal: »Der Konflikt in der Ukraine muss in seinem Zusammenhang gesehen werden.«, 18.03.2014. Aus dem Schwedischen von Einar Schlereth, http://einarschlereth.blogspot.se.

[5] George Friedman, Stratfor: »Europe: Destined for Conflict?«, The Chicago Global Council on Global Affairs, Chicago, 04.02.2015, https://www.youtube.com/watch?v=QeLu_yyz3tc.

[6] Wladimir W. Putin: »Neue Spielregeln oder Spiel ohne Regeln«, Rede auf dem 11. Waldai-Forum am 24.10.2014, http://www.kremlin.ru/news/46860.

[7] »Das war kein Sieg des Westens«, Interview von Dorothea Hahn mit Jack Matlock, Taz, 08.09.2014.

[8] »Merkel will den Prozess, Schäuble die Entscheidung«, neues deutschland, 21.04.2015.

[9] Anmerkung des Referenten: Mit den in letzter Zeit häufig (z.T. sinngemäß) zitierten Sätzen »Fest steht: Nicht alle Muslime sind Terroristen. Fest steht aber auch: Fast alle Terroristen sind Muslime.« beginnt ein Stern-Kommentar des Kolumnisten Abdel Rahman al-Rashid, seinerzeit Direktor des Fernsehsenders AI Arabiya, vom 15. September 2004. Wenn sie die Quelle überhaupt kennen, werden sich wohl die wenigsten die Mühe gemacht haben, auch den letzten Absatz des Kommentars von Abdel Rahman al-Rashid zu lesen: »Wir werden es nicht schaffen, unsere Kinder, die diese abscheulichen Verbrechen begehen, von ihrem unheilvollen Weg abzubringen, ohne zu kritisieren, wie unsere Scheichs den Verstand der Leute manipulieren. Diese Scheichs, die sich auf ihren Kanzeln als Revolutionäre aufspielen und die Kinder anderer Leute in Kriege schicken - ihre eigenen aber auf Schulen in Europa und Amerika.«

[10] Patrick Schreiner: »Unterwerfung als Freiheit: Leben im Neoliberalismus.«, Papyrossa Verlag, Köln 2015, 127 Seiten, ISBN 978-3894385736. Zitiert nach junge Welt, 12.03.2015.

[11] »Amadeu Antonio Stiftung und PRO ASYL warnen vor Klima der Angst.«, Presseerklärung, 26.01.2015, http://www.proasyl.de/de/presse.

[12] »Hotmacher des Tages«, junge Welt, 21.01.2015.

[13] Brigitte Fehrle: »Der lange Marsch der PDS«, Berliner Zeitung, 11.01.2000.

[14] Axel Vornbäumen: »Neue alte Fragen an den Gräbern von Karl und Rosa«, Frankfurter Rundschau, 17.01.2000.

[15] Christopher Clark: »Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog«, Deutsche Verlags-Anstalt, 1993 (20. Auflage), 896 Seiten, ISBN 978-3421043597.