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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

29.05.2015

Glückwunsch an Beate und Serge Klarsfeld

Sie haben unermüdlich an der Aufklärung von Naziverbrechen gearbeitet

Dietrich Schulze (Karlsruhe) und Ulrich Sander (Dortmund), beide Aktivisten der VVN-BdA und der Friedensbewegung, haben Beate und Serge Klarsfeld (Paris) gratuliert. Diesen wurde das Bundesverdienstkreuz zugesprochen. Damit wird eine alte Forderung verwirklicht, die beiden mutigen und unermüdlichen Ermittler gegen Naziverbrecher zu ehren. Über die Geschichte der Aktionen zur Strafverfolgung gegen NS-Verbrecher berichtet Jungle World, ebenso wie Dietrich Schulze. Beide Beiträge dokumentieren wir im Wortlaut.

Bundesverdienstkreuz für Ohrfeigen-Beate

Späte Ehrung für Nazi-Jäger Klarsfeld – das hat auch mit KIT Karlsruhe zu tun

Von Dietrich Schulze

Es geschehen noch Zeichen und Wunder 70 Jahre nach der Befreiung. Vor drei Jahren hatte die Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld aus Paris als Kandidatin der Linken bei der Präsidentenwahl gegen Joachim Gauck kandidiert. Sie wurde mit Verleumdungen bedacht wie „Ohrfeigen-Beate Stasi-gesteuert?“ (FAZ u.a.) und jetzt hat Gauck für Beate und Serge Klarsfeld die Urkunde für das Bundesverdienstkreuz unterzeichnet, s. Presseschau 15. Mai [1].

Nazi-Größen aller Art wie Globke, Kiesinger, Filbinger sind in der Bundesrepublik von Beginn an vorsätzlich hinein gehievt worden in wichtige Regierungsstellen wie das Bundeskanzleramt, in wichtige Verwaltungsposten aller Art, als Nazi-Generäle für den Bundeswehraufbau und für die Vorbereitung der NATO-Mitgliedschaft, in die staatliche Forschung und so weiter. Das war dem Kalten Krieg gegen den „Ostblock“ (Sowjetunion, DDR, usw.) geschuldet. Adenauer träumte vom Einmarsch der Bundeswehr in die DDR durch das Brandenburger Tor.

Alle Erkenntnisse der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit unmittelbar nach der Befreiung wurden nach wenigen Jahren über den Haufen gerannt. „Nie wieder Krieg von deutschem Boden“ bedeutete damals als Selbstverständlichkeit „Nie wieder deutsches Militär“.

Das wurde mit der angeblichen Bedrohung aus dem Osten mittels der Remilitarisierungskampagne niedergetrampelt. Die allgemeine Stimmung nach einer gerechten Wirtschaftsordnung gab es in allen Besatzungszonen.

Wer von den Jüngeren weiß heute, wer damals - durchaus populistisch - gesagt hatte „Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen". Es war derjenige, der etwas später zusammen mit Adenauer die deutsche Atombombe wollte, Franz Josef Strauß. Wer von den Jüngeren weiß heute, in welchem Parteiprogramm analysiert und gefordert wurde: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.“ Es war das Ahlener Programm der CDU von 1947.

Emil Carlebach, Jude, Kommunist und KZ Buchenwald-Häftling, danach aktiv als Journalist, Buchautor, dju-Gewerkschafter und hessischer Landtagsabgeordneter, hatte diese absichtsvoll verschüttete, spannendste Periode der deutschen Geschichte in der Artikelserie "Das bestgehütete Geheimnis der Bundesrepublik" in der früheren VVN-Wochenzeitung "Die Tat" aufgedeckt. Die Neuherausgabe dieser Serie, wie vom Autor zum 65. Jahrestag der Befreiung vorgeschlagen, harrt weiter der Realisierung [2a] [2b].

Beate Klarsfeld hatte beim Bundesparteitag der CDU am 7. November 1968 in Berlin Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger eine schallende Ohrfeige mit dem Ausruf „Nazi“ verpasst. Sie brachte den Nazi-Mörder und ehemaligen Pariser Gestapo-Chef Kurt Lischka vor Gericht.

Serge und Beate Klarsfeld jagten unter Lebensgefahr Klaus Barbie, den „Schlächter von Lyon“. In dem Film "Die Hetzjagd" ("La Traque") wird die dramatische Barbie-Spurensuche nachgezeichnet.

Und hier ergibt sich die Brücke nach Karlsruhe. Am 18. Oktober 2013, am Vorabend der Symposiums „Der vergessene Whistleblower Léon Gruenbaum (1934 – 2004)“ zeigte der Arbeitskreis Kultur und Kommunikation des AStA der Universität Karlsruhe (KIT) in der Uni eben jenen Film "La Traque".

Das Symposium des „Forum - Ludwig Marum" am 19. Oktober [3] im ver.di-Haus Karlsruhe hatte den Charakter einer inspirierenden Geschichtswerkstatt mit fünf konzentrierten Lernstunden über die Zivilcourage eines französischen Wissenschaftlers aus einer von den Nazis verfolgten jüdischen Familie und dessen zweite Verfolgung durch den Atom-Manager Rudolf Greifeld am Kernforschungszentrum, einem der KIT-Vorläufer. Gruenbaum hatte mit Unterstützung der Klarsfelds nachgewiesen, dass Greifeld im besetzten Paris eine ranghohe Wehrmachtfunktion inne hatte und an der Verfolgung der Juden beteiligt war. Umfangreiche Dokumente für das Symposium sind in [3] nachlesbar. Greifeld war Sprecher der deutschen Besatzer im Großraum Paris (unter Einschluss des Durchgangslagers Drancy zur Hölle Auschwitz) gegenüber der französischen Vichy-Regierung. Sein Vichy-Gegenpart Edouard Bonnefoy war aber kein Kollaborateur, sondern arbeitete mit der Resistance zusammen. Dessen Mitschriften über die Greifeld-Anweisungen konnten gerettet und veröffentlicht werden. Daraus ergaben sich neue Beweise für Greifelds Antisemitismus, die in einer Dokumentensammlung zusammen gestellt wurden [4].

An Léon Gruenbaums wissenschaftlichem Nachlass wird energisch gearbeitet. Nur ein einziges typisches Zitat über dessen Breite und Tiefe an Erkenntnissen. Auf Robert Jungks Frage bei einem Besuch 1975 in Paris während Gruenbaums Ausarbeitung seiner Monographie „Genese der Plutoniumgesellschaft“, ob der Nazi-Einsatz in der deutschen Kernforschung für die Gegenwart von Bedeutung sei, antwortete er: „Gewiß. Ich meine, es ist doch wohl kein Zufall, dass diese Männer sich gerade so sehr für die Atomindustrie interessiert haben. Sie müssen sich schon zu einem frühen Zeitpunkt gesagt haben, dass hier eine Schlüsselindustrie entsteht, die einmal alle anderen an Machtfülle und Einfluss überflügeln würde. Doch dann kommt vielleicht noch ein anderes Motiv dazu: der Wunsch der Deutschen, auch einmal Atombomben zu haben – oder zumindest die Verfügung über industrielle Kapazitäten, die eine Herstellung der ihnen verbotenen Waffengattung bei Bedarf ermöglichen.“ Zitat aus Jungks „Atomstaat“.

Das genau war das Strauß-Motiv für den Einsatz des bewährten Nazis Greifeld (seit 1937 NSdAP-Mitglied) 1956 als administrativen Geschäftsführer der Kernreaktor Bau- und Betriebsgesellschaft, dem späteren Kernforschungszentrum und heutigen KIT Campus Nord. Mit Ritter und Brandl kamen zwei weitere hinzu und 1960 Walter Schnurr (Hitlers Sprengstoff-Pabst) als wissenschaftlicher Geschäftsführer. Greifelds Nazi-Vergangenheit war bis zur Aufdeckung durch Gruenbaum/Klarsfeld in der Pressekonferenz am 23.10.1975 in Strasbourg absichtsvoll verschwiegen worden.

Mitte 2012 hatte sich herausgestellt, dass Greifeld 1969 von der Universität Karlsruhe die Ehrensenatorenwürde verliehen worden war, offenbar in Unkenntnis von dessen Nazi-Vergangenheit. Die seither unablässig von vielen Organisationen und Personen erhobene Annullierungsforderung ist bis heute nicht Rechnung getragen worden. Das KIT-Präsidium und die Ethik-Kommission hatten den Historiker Prof. Bernd A. Rusinek vom Forschungszentrum Jülich beauftragt, ein Gutachten zu erstellen. Die Fertigstellung ist auch nach Vorlage der o.g. neuen Beweise gegen Greifeld immer wieder mit unterschiedlichen Begründungen verschoben worden. Der Autor hatte Rusinek der Abhängigkeit von der Atomlobby geziehen [5].

Dazu zwei widersprüchliche Schlussbemerkungen.

Die Karlsruher Atomlobby hatte 2010 garniert mit Prominenten das Buch „Karlsruhe meets India“ herausgebracht [6]. Darin wird Greifelds Verdienst der Gründung der Karlsruher Zweigstelle der „Deutsch-Indischen Gesellschaft“ (DIG) 1960 mit großem Lob geschildert. Die DIG war 1942 gegründet worden. Wörtlich im Buch: „Rabindranath Tagore wurde als erstem Asiaten in Anerkennung seines literarischen Werks, vor allem der Gedichtsammlung Gitanjali, 1913 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. Mit seiner Weltsicht des Friedens und der Toleranz stieß er nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs insbesondere in Deutschland auf positive Resonanz. Bei einer deutsch-indischen Veranstaltung im Jahre 1942 in Hamburg wurde die von Rabindranath Tagore 1915 gedichtete und kornponierte spätere Nationalhymne Indiens erstmals in der Öffentlichkeit gespielt.“ Wann im Jahre 1942 war das denn? Zitat in [7]: "Nur wenige wissen, dass die spätere indische Nationalhymne „Jana Gana Mana“ im September 1942 im Hamburger Hotel Atlantic uraufgeführt wurde. Und zwar anlässlich der Gründung der Deutsch-Indischen Gesellschaft (DIG) zu einer Zeit, als Indien noch britische Kronkolonie war." Das ist kaum zu fassen. Im selben Monat beginnt die deutsche Vernichtungsschlacht gegen Stalingrad. Ausgerechnet ein Friedensmann wird zum Gründungspaten einer indogermanisch-faschistoiden DIG gemacht. Weniger erstaunlich, dass der AltNazi Greifeld begierig diese DIG und die Wirtschafts- und Atombeziehungen zu Indien zu seinem Herzensanliegen machte. Die Atomlobby wird angesichts solcher Huldigungen unbedingt verhindern wollen, dass ihr Ehrensenator durch die Aberkennung der KIT-Würde beschmutzt wird.

Den Autor bewegt nach dem Gauck-Schwenk bezüglich der Ehrung der Klarsfelds ein selbstkritischer Gedanke. Er war mit deftigen Worten von der Abhängigkeit Rusineks von eben jener real existierenden Atomlobby ausgegangen. Der Bundespräsident hat von seiner Unabhängigkeit Gebrauch gemacht und der Geschichtsaufarbeitung wie der deutsch-französischen Freundschaft einen Dienst erwiesen. Könnte es nicht sein, dass Prof. Rusinek in einem ähnlichen Sinne von seiner Unabhängigkeit als Historiker Gebrauch macht und der KIT-Ethik-Kommission die Aberkennung des Greifeld-Titels empfiehlt, damit die dargestellten Fakten würdigt und Beate und Serge Klarsfeld auf seine Weise ehrt für die Mithilfe bei der Aufdeckung der Fakten? (PK)     

Nachtrag des Autors vom 19.05.15 zur DIG 

aufgrund der F E S T S C H R I F T zum 50-jährigen Bestehen der Deutsch-Indischen Gesellschaft 1953–2003

http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/savifadok/40/1/DIG_Festschrift.pdf

Die LeserInnen werden gebeten, sich die folgenden Passagen daraus zu Gemüte zu führen:

Seite 29

„Nehru verurteilte das nationalsozialistische Regime in Deutschland. Hingegen suchte Subhas Chandra Bose, der frühere Oberbürgermeister von Kolkata und ehemalige Präsident des Indischen Nationalkongresses, aber eher der militante Freiheitskämpfer für die indische Unabhängigkeit, den Kontakt mit dem NS-Regime. Dieses stand einer militärischen Kooperation, wie sie Bose andachte, ablehnend gegenüber. Doch wurde in Berlin mit diplomatischem Status eine Zentrale Freies Indien errichtet, und in Hamburg kam es in Anwesenheit von Subhas Chandra Bose am 11. September 1942 zur Gründung der ersten Deutsch-Indischen Gesellschaft in Deutschland.“

Seite 62

„An der Gründungsfeier im Hamburger Atlantic-Hotel nahm als herausragende Persönlichkeit der Führer des auf den militärischen Freiheitskampf ausgerichteten Flügels der indischen Unabhängigkeitsbewegung, Subhas Chandra Bose, teil. In seiner Festansprache verlieh er der Überzeugung Ausdruck, dass Indien aus dem Zweiten Weltkrieg als unabhängiger Staat hervorgehen werde. Subhas Chandra Bose war während des Krieges nach Deutschland gekommen, um die Möglichkeiten einer politischen und militärischen Zusammenarbeit mit Deutschland bei den Unabhängigkeitsbestrebungen Indiens auszuloten. Ergebnislos reiste er später in einem deutschen U-Boot nach Asien zurück.“

Seite 63

„Mit dem Ausgang des Krieges erlosch die personelle Zusammensetzung der Organe der

Deutsch-Indischen Gesellschaft. Sie konstituierte sich neu nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 und der Bildung eines Deutsch-Indischen Dachverbandes in Stuttgart im Juni 1953 in Stuttgart unter dem Vorsitz von Dr. Seifriz. Bei der Neubildung in Hamburg im November 1953 wurde der Indologe Professor Dr. Alsdorf, der zu den Beratern von Subhas Chandra Bose in Deutschland gehört hatte, zum Vorsitzenden der Hamburgischen Zweiggesellschaft gewählt. Die im Laufe des Krieges geschmiedeten Verbindungen zwischen Deutschen und Indern haben 1953 an der Wiege der Gründung der Deutsch-Indischen Gesellschaft in Stuttgart und der Zweiggesellschaft in Hamburg gestanden.“

Bitte studieren Sie dazu den Wiki-Eintrag zu Ludwig Alsdorf http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Alsdorf

Interessant im Kontext die Passage: „1941 wurde er nach der Flucht Subhas Chandra Bose

nach Deutschland ins Auswärtige Amt berufen und dem Sonderreferat Indien zugeteilt.“

Mit dem Wiki-Eintrag von Bose http://de.wikipedia.org/wiki/Subhash_Chandra_Bose

schließt sich der Kreis mit folgender Passage: „Bose wollte mit militärischen Mitteln die Unabhängigkeit Indiens erreichen und floh 1941 schlussendlich aus Indien, um im Ausland militärische Hilfe zu erbitten. Nach mehreren erfolglosen Verhandlungen wurde er 1944 (zur Zeit des Zweiten Weltkriegs) Mitbegründer und Anführer der sogenannten Indischen Legion, einem der deutschen Waffen-SS unterstellten, aus indischen Freiwilligen gebildeten Kampfverband, sowie später der Indian National Army, einer Hilfstruppe der japanischen Armee.“

Quellen:

[1] http://www.stattweb.de/files/civil/Doku20150515.pdf

[2a] http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/0608_befreiung.htm

[2b] http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14876

[3] http://www.forum-ludwig-marum.de/veranstaltungen/symposium-gruenbaum/

[4] http://www.stattweb.de/files/civil/Doku20140627.pdf

[5] http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=20753

[6] „Karlsruhe meets India“ Info Verlag GmbH Karlsruhe 2010 ISBN 978-3-88190-574-9

[7] http://www.hamburg.de/indien/

Dr.-Ing. Dietrich Schulze (Jg. 1940) war nach 18-jähriger Forschungstätigkeit im Bereich der Hochenergie-Physik von 1984 bis 2005 Betriebsratsvorsitzender im Forschungszentrum Karlsruhe (jetzt KIT Campus Nord). 2008 gründete er mit anderen in Karlsruhe die Initiative gegen Militärforschung an Universitäten (WebDoku http://www.stattweb.de/files/DokuKITcivil.pdf). Er ist Beiratsmitglied der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative für Frieden und Zukunftsfähigkeit sowie in der Initiative „Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel“ und publizistisch tätig. Er ist Mitglied der DFG-VK und Kreisvorstandsmitglied der VVN-BdA Karlsruhe.

Erstveröffentlichung in Neue Rheinische Zeitung am 20.05.2015 http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=21625

»Wir sind sehr besorgt«

Beate und Serge Klarsfeld haben gerade das Bundesverdienstkreuz erhalten. Ende März erschienen im Pariser Verlag Fayard ihre »Mémoires«. Serge erlebte im Alter von acht Jahren in Nizza, wie sein Vater Arno Klarsfeld von einem Sonderkommando der SS unter Führung von Alois Brunner verhaftet wurde und aus Auschwitz nicht zurückkam. Brunner war 1943 bis 1944 Leiter des Sonderkommandos der Gestapo in Frankreich und Befehlshaber des Sammel­lagers von Drancy, in das die französischen Juden, Roma und andere Häftlinge gebracht wurden, bevor sie in die Vernichtungslager transportiert wurden. Beate Klarsfeld, geboren 1939 in Berlin, musste 1971 fünf Wochen ins Gefängnis, weil sie versucht hatte, den Nazi Kurt Lischka nach Frankreich zu entführen. Der SS-Obersturmbannführer war im besetzten Frankreich Polizeichef und Gestapo-Kommandeur der Region Paris gewesen. Nach 1945 klagte ihn die französische Justiz an, einer der Hauptverantwortlichen für die Deportation von 76 000 Juden aus Frankreich in die Vernichtungslager gewesen zu sein. In Abwesenheit wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch Lischka lebte seit 1950 unbehelligt in Köln, wo er zehn Jahre zuvor seine Gestapo-Karriere begonnen hatte. 1971 wurde er von Beate Klarsfeld ausfindig gemacht, 1980 schließlich doch noch zu zehn Jahren Haft verurteilt und nach fünf Jahren wieder freigelassen. Mit Beate Klarsfeld sprach die Jungle World über das jahrelange Bemühen der Klarsfelds, NS-Täter doch noch vor Gericht zu bringen, und über den heutigen Antisemitismus.

Interview: Eva Zum Winkel

Sie und Ihr Mann werden oft als »Nazijäger« bezeichnet, was nicht immer freundlich gemeint ist, an dieser Stelle aber allemal. Können wir die Liste der Nazis durchgehen, die Sie gejagt haben?

Gejagt haben wir sie, sofern sie im Ausland waren. Für uns war am wichtigsten, dass wir den Kölner Prozess gegen Hagen, Lischka und Heinrichsohn, die Hauptverantwortlichen für die Deportation der Juden aus Frankreich, initiieren und eine Verurteilung erreichen konnten. Dann der Prozess gegen Klaus Barbie, den Gestapochef von Lyon, den wir in Bolivien aufspüren konnten. Schließlich der Prozess gegen Alois Brunner, der sich nach Syrien abgesetzt hatte. Seine Ausweisung haben wir nicht erreicht, aber in Frankreich fand 2001 ein Verfahren gegen ihn statt, in dem er in Abwesenheit zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Seine Schuld war offensichtlich, er war ja der Chef von Drancy. Außerdem haben wir uns auch im Fall Mengele engagiert.

Hier leider erfolglos.

Wenigstens haben wir erreicht, dass die Kölner Staatsanwälte nach Günzburg fuhren und die Firma Mengele Agrartechnik durchsuchten, wo sie auch Dokumente fanden. Wir hatten herausbekommen, dass der Sohn in Verbindung mit dem Vater stand, der sich zunächst in Paraguay und dann in Brasilien aufgehalten hatte. Dann gab die Staatsanwaltschaft bekannt, er sei in Brasilien irgendwo an der Küste ertrunken.

Auch gegen Ernst Ehlers, den Leiter der »Judenabteilung« der Gestapo im besetzten Brüssel, und gegen seinen »Judenreferenten« Kurt Asche, beide verantwortlich für die Deportationen aus Belgien, konnten wir ein Verfahren einleiten. Ehlers war zu dem Zeitpunkt Richter in Schleswig-Holstein. Vor Beginn der Hauptverhandlung beging er Selbstmord. Asche wurde in Kiel zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.

Anders als heute im Lüneburger Gröning-Prozess mussten in diesen Prozessen individuelle Tatbeteiligungen dokumentiert werden. Seit dem Münchner Demjanjuk-Prozess braucht man keine Augenzeugen, keine Dokumente mehr: Es genügt, an dem Ort beschäftigt gewesen zu sein, an dem Juden ermordet wurden. Demjanjuk wurde als KZ-Wärter von Sobibor zu sechs Jahren verurteilt; er starb, bevor sein Revisionsantrag vor dem Bundesgerichtshof verhandelt wurde. Wir waren als Nebenkläger in Frankreich, aber nicht in München zugelassen.

Oskar Gröning wurde 1985 schon einmal angeklagt. Das damals eingestellte Verfahren ist jetzt wieder aufgenommen worden. Nach seinen eigenen Angaben hatte er in Auschwitz die Aufgabe, die Devisen, die die Juden bei sich hatten, einzusammeln und an eine Bank in Berlin zu transferieren. Gröning ist sehr aktiv, hat Tagebuch geschrieben und berichtet, wie es war: wie die Juden in die Gaskammern geschickt und ermordet wurden. Er selbst sei angeblich nur mit den Devisen beschäftigt gewesen. Natürlich ist es gut, dass ein Verfahren gegen ihn eröffnet wurde. Es wird noch einmal dokumentiert, dass es den Holocaust gegeben hat und was in Auschwitz passiert ist. Aber ob es wirklich zu einer Bestrafung kommen wird?

Gibt es derzeit noch weitere Verfahren, an denen Sie beteiligt sind?

In einem sehr wichtigen Fall bin ich gerade stark engagiert. Dabei geht es um Werner Christukat, der zu jener Einheit der Waffen-SS gehörte, die am 10. Juni 1944 das südfranzösische Dorf Oradour-sur-Glane niederbrannte und 642 Einwohner ermordete, das heißt fast alle. Christukat gibt zu, bei dem Massaker dabei gewesen zu sein; er habe aber »keinen Schuss« abgegeben. Wir vertraten als Nebenkläger den Bruder von Denise Bardet, die damals 24 Jahre alt war und Lehrerin in Oradour. Sie wurde mit den Kindern in der Kirche eingesperrt und verbrannt. Christukat stand vor den Scheunen, in denen die Männer erschossen wurden, und er war Maschinengewehrschütze. Aber wie soll man beweisen, dass er abgedrückt hat? Mit der Begründung ist das Verfahren vom Kölner Landgericht Ende 2014 eingestellt worden. Die Justiz lässt die Sache an sich herankommen, es wird Anklage erhoben, manchmal ein Prozess eröffnet, und dann ist Schluss. Immerhin wird über die Täter und ihre Taten berichtet. Doch die Strafen, die schon vor 60 Jahren hätten verhängt werden können, bleiben aus.

»Meine Probleme in Bolivien begannen, als diese Frau kam,« sagte Klaus Barbie bei seiner ersten Vernehmung durch die französische Justiz. Am Ende landete er im selben Gefängnis von Lyon, in dem er früher gefoltert hatte. Die Welt hingegen schrieb 2012, dabei werde die Rolle der Klarsfelds überbewertet.

Unsere eigenen Aktivitäten gegen Barbie begannen 1971. Die VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Anm. d. Red.) hatte schon 1960 Klage gegen ihn erhoben. 1971 stellte der Münchner Staatsanwalt Rabl das Verfahren wegen der Verschickung der Kinder von Izieu ein. Barbie habe zwar am 6. April 1944 die Anweisung gegeben, die 44 jüdischen Kinder aus Izieu nach Drancy zu schicken. Man könne aber nicht beweisen, dass ihm das Schicksal der Kinder, das heißt der Weitertransport nach Auschwitz, klar gewesen sei.

Das war für Serge und mich der Auslöser. Aus Lima erreichte uns die Information, es gebe da einen Klaus Altmann, der Barbie ähnele. Den suchte der französische Journalist Ladislas de Hoyos 1972 in einem bolivianischen Gefängnis auf, wo er gerade wegen Steuerhinterziehung einsaß, und filmte ihn, wie er sagt: »Ich bin nicht Klaus Barbie.« Wir hatten die Unterstützung von zwei Müttern, Fortunée Benguigui und Ita-Rose Halaunbrenner, deren Kinder in Izieu verhaftet worden waren. Mit Frau Benguigui reiste ich nach Bolivien, und wir ketteten uns vor Barbies Büro an. Zusammen mit Régis Debray und Exil-Bolivianern bereiteten wir eine Entführung vor. Der Plan scheiterte, bevor er umgesetzt werden konnte, an einem Autounfall. Schließlich hatten wir das Glück, dass Gustavo Sánchez, der an dem Entführungsprojekt beteiligt war, nach dem Sturz der bolivianischen Militärdiktatur 1983 Innenstaatssekretär in der neuen sozialistischen Regierung wurde. Barbie verbüßte wieder einmal eine Haftstrafe aus Steuergründen. Sánchez holte ihn aus dem Gefängnis und brachte ihn zum Flughafen. Die Deutschen waren froh, dass die Franzosen ihn übernahmen.

Die Verteidigung Barbies übernahm einer, der als Linker gegolten hatte, nämlich Jacques Vergès. Im Prozess redete er über Algerien und Palästina, weil man über Barbie nicht urteilen könne, ohne über den französischen Kolonialismus zu urteilen. Sie selbst haben ähnliche Erfahrungen mit einem Anwalt gemacht, Horst Mahler.

Mit Mahler hatten wir schon Probleme, als Serge und ich ihn zum ersten Mal in seinem Büro aufsuchten, damit er mich gegen die Anklage wegen der Kiesinger-Ohrfeige 1968 verteidigt. Als das Gespräch auf Israel kam, spürten wir die Differenzen. Die gab es auch mit dem Berliner SDS. Für sie war Israel der Alliierte der Vereinigten Staaten. Das war nicht meine Linie. Unsere Wege haben sich bald getrennt, obwohl sie beim Thema Kiesinger Unterstützung leisteten.

Vor 50 Jahren gehörte Mahler zur extremen Linken, er wurde dann Nazi; ich war eine »gute« Deutsche und bin immer aktiv geblieben in meiner Solidarität mit den Juden und dem Staat Israel.

Die deutsche Dominanz in der EU verleitet zu historischen Vergleichen. Inwiefern treffen sie zu?

Was Griechenland betrifft, kommen immer mehr Tatsachen über die Nazi-Massaker dort ans Licht. Deutschland sollte sich großzügiger zeigen und sich an den Marshall-Plan erinnern. Man müsste dankbarer sein, auch den Amerikanern gegenüber.

Und Frankreich? Wie kann das Erstarken des Front National (FN) aufgehalten werden?

Als wir kürzlich eine Auszeichnung von Präsident Hollande erhielten, ergriff Serge, mit einem kleinen Verstoß gegen das Protokoll, das Wort, um die beiden großen Parteien Frankreichs dazu aufzurufen, ein Bündnis gegen den FN zu schließen. Wir haben zwar immer wieder Strafanträge gegen Jean-Marie Le Pen gestellt und auch gewonnen. Er behält seine Kundschaft, während die Tochter versucht, eine andere Klientel an sich zu ziehen. Marine hat die rechtsextremen Inhalte etwas verwässert, aber sie tut das nur, um ihr Ziel zu erreichen, Präsidentin zu werden.

Die jüdische Gemeinde Frankreichs debattiert über Auswanderung, viele sehen sich akut bedroht, mehr von der extremen Linken und von den Islamisten als vom FN. Die Attentate im Januar auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt Hyper Casher wurden ja von islamistischen Terroristen verübt. Was bedeutet das für antifaschistische Politik?

Es brauchte im Januar etwas Zeit, ehe von einem antisemitischen Anschlag im Laden Hyper Casher gesprochen wurde. Nach den Mordtaten Mohammed Merahs vor drei Jahren in Toulouse gingen weitaus weniger Menschen auf die Straße. Das kleine Mädchen, das Merah an den Haaren zog, um sie aus nächster Nähe umzubringen, hatte das nicht ausgelöst. Die Staatschefs kamen im Januar wegen des Angriffs auf die Pressefreiheit. Gut, Charlie Hebdo hätte anders bewacht werden müssen, das ist ein Skandal. Doch der antisemitische Mordanschlag trat in den Hintergrund. Letztes Jahr wurde beim Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel Dominique Sabrier ermordet. Sie war Mitglied unseres Verbands »Fils et filles des déportés juifs de France« (von den Klarsfelds 1979 gegründete »Vereinigung der Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten Frankreichs«, Anm. d. Red.). Ihre Familie wurde von den Nazis umgebracht, sie selbst von einem anderen Feind des jüdischen Volkes. Daher ist auch unter Juden die Illusion verbreitet, der FN könne ein Bollwerk gegen die Islamisten sein. Tatsächlich muss die Überwachung gegen die Islamisten verbessert werden.

Wir sind sehr besorgt. Wie kann man die Franzosen und ihre Parteien davon überzeugen, dass man mehr tun muss? Jeder will seine eigene Macht behaupten, es gibt keine Solidarität gegen den gemeinsamen Hauptfeind: den Front National.

Quelle:http://jungle-world.com/artikel/2015/21/52007.html