13.05.2015
Nach dem 8. Mai: Die
Nazinetzwerke funktionierten weiter
Zu den
Lehren gehört: „Die Flüchtlinge
müssen das Gefühl bekommen, dass sie bei uns
willkommen sind“
Anläßlich
des Tages der Befreiung von Krieg und Faschismus am 8. Mai wurde ein
Fest des Friedens und der Solidarität auf dem Platz vor der
Josephskirche in der Münsterstaße in Dortmund
gefeiert. Ernst Söder hielt folgende Ansprache. Er ist
Vorsitzender des Fördervereins Steinwache/Internationales
Rombergparkkomitee, Dortmund. Das Fest wurde veranstaltet vom
Bündnis Dortmund gegen rechts, von der DIDF, dem Dortmunder
Friedensforum und der VVN-Bund der Antifaschisten.
Ernst
Söder – Ansprache beim Friedensfest am 8.5.2015 an
der St. Josephskirche in Dortmund
Wir wollen heute feiern und haben eingeladen zum
Fest des Friedens und der Solidarität.
70 Jahre sind inzwischen vergangen, seit der
Zweite Weltkrieg endete und Deutschland und Europa vom Faschismus und
Terrorismus der Nazis befreit wurde.
Dieser Tag, der 8. Mai 1945, das war für
mich und unsere Familie der Tag des Kriegsendes, auch in Dortmund,
obwohl die Alliierten bereits Mitte April unsere Stadt eingenommen
hatte und Dortmund die Befreiung erlebte.
Ich war damals sechs Jahre jung, und ich erinnere
mich an diesen Dienstag vor siebzig Jahren. Es waren Stunden,
die auch ein damals sechsjähriger sein Leben lang wohl nicht
vergessen kann.
Die Bombennächte waren vorbei, endlich
wieder Schlaf ohne Sirenengeheul. Wir waren glücklich,
davongekommen zu sein. Es war ein schönes Gefühl,
überlebt zu haben und dass der mörderische Krieg zu
Ende ist. Der Diktator, die verbrecherische Führung und
weitere Größen des Unrechtsstaates sind
tot oder verschwunden und unauffindbar. Einige hat man gefasst und wird
sie verurteilen.
Wir waren wieder frei und konnten denken und
aussprechen, was in den Jahren davor nicht möglich war.
Doch die Menschen in Europa standen vor
großen Problemen: unvorstellbare Wohnungsnot, Schutt und
Trümmer überall, zerstörte Fabriken und
Arbeitsstätten mangelhafte Ernährung, keine Kleidung.
Am 8. Mai – als bekanntgeworden war,
dass der Krieg zu Ende ist, trafen sich die Nachbarn unserer
Wohngemeinschaft auf den Höfen. Sie riefen „Es ist
Frieden, Frieden. Der Krieg ist aus“. Viele umarmten sich und
weinten.
Für Millionen Menschen war es der Tag der
Befreiung vom Führerstaat, vom Faschismus und der
totalitären nationalsozialistischen Diktatur.
Und für andere war es der
„verlorene Krieg“, sie wollten nicht wahrhaben,
dass es ihren von vielen bejubelten Nazi-Führer nicht mehr
gibt und Deutschland kapituliert hat.
All zu viele weigerten sich, der Wirklichkeit der
Diktatur, dem Missbrauch, den das NS-Regime mit ihnen und
ihren Hoffnungen getrieben hatte, ins Auge zu sehen, sie blieben
unverbesserliche Nazis und waren verbittert vor zerrissenen Illusionen.
Wie grauenvoll wäre es gewesen, wenn
Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen und
dieser 8. Mai ein Tag des Sieges hätte sein
können – wohl unvorstellbar für uns alle.
Der Völkermord, der Rassenhass, die Verfolgung Andersdenkender
und die Angst vor der Gestapo wären allgegenwärtig.
Zwölf Jahre der terroristischen
nationalsozialistischen Diktatur, die zuerst das eigene Volk, dann die
Völker Europas unterdrückt, entrechtet und in den
grausamen Krieg seit Menschengedenken gestürzt hatte, fand am
8. Mai 1945 sein endgültiges Ende.
Die Nazis blieben, jedenfalls viele von ihnen, die
wieder in der Justiz, in der Polizei und den Ministerien attraktive
Posten bekleideten und sich wenig dafür interessierten, die
Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Seilschaften der Nazis hatten im
Nachkriegsdeutschland ansehnliche Konjunktur.
Doch wie war das möglich? Wie konnte
jemand in der jungen Bundesrepublik den Geheimdienst aufbauen, der im
Feldzug gegen Russland am Völkermord beteiligt war, wie konnte
jemand Ministerpräsident werden, der als Marinerichter noch am
Ende des Krieges in Norwegen junge Matrosen zum Tode verurteilt hatte,
warum bekam Hans Globke, der Kommentator der Rassegesetze,
eine bedeutende Aufgabe im Bundeskanzleramt, wie konnte jemand
Bundeskanzler, Bundesminister oder Bundespräsident werden, der
sich den Nazis verpflichtet hatte und wieso waren es
ausgerechnet Nazioffiziere, die in der Bundeswehr wieder Befehlsgewalt
bekamen.
Die Antwort:
Die Nazi-Netzwerke haben in den fünfziger
Jahren funktioniert und so ist es auch zu erklären, warum es
so wenige Anklagen gegen Nazi-Verbrecher gegeben hat und erst
in den letzten Jahren – inzwischen 90 Jahre und
älter gewordene Mitschuldige - vor Gericht gestellt worden
sind.
Die Größen des untergegangenen
Regimes flüchteten sich in eitle Selbstrechtfertigung und
schoben jede Schuld auf diejenigen, die durch Selbstmord geendet waren.
Die Vollstrecker des Terrors, Mittäter
und Mitläufer, Offiziere, Richter, Beamte,
SS-Funktionäre, Soldaten, KZ Wächter und SA-Leute,
verschanzten sich hinter dem Befehl, schoben die Schuld immer auf den
Nächsthöheren, und sie hatten nur ihre Pflicht getan.
Und wir wissen, dass der damalige
Generalstaatsanwalt in Hessen, Dr. Fritz Bauer, sich nach seiner
Rückkehr aus der Emigration als einer der wenigen Juristen um
die Aufklärung von Nazi Verbrechen engagierte. Für
Bauer war klar, dass ebenfalls deutsche Juristen Wegbereiter und
Mittäter des bisher größten Massenmordes
der Menschheitsgeschichte waren und er bei der Aufarbeitung der
Naziverbrechen keine Unterstützung von ihnen erwarten konnte.
Aber er zwang die Deutschen zum
Hinsehen. Und das war schon ein erster Erfolg.
Inmitten einer Justiz, die in der jungen
Bundesrepublik noch immer von braunen Seilschaften geprägt
war, setzte er den Frankfurter Auschwitz Prozess durch -trotz
Anfeindungen von sogenannten „Amtskollegen“ aus der
Justiz und aus der Politik. Aber auch von Teilen der
Bevölkerung, die bis dahin immer noch nicht begriffen hatten
oder begreifen wollten, welche Verbrechen von den Nazis in den
zwölf Jahren ihrer Macht begangen worden sind.
Bauer kooperierte mit dem israelischen
Geheimdienst, um Adolf Eichmann vor Gericht zu bringen. Weil er der
deutschen Justiz und dem formalen Dienstweg misstraute, hatte er sich
damals direkt an Israel gewandt, als er vertrauliche
Informationen erhalten hatte, wo sich Eichmann in Argentinien
versteckt hielt.
Er befürchtete, dass Eichmann von
deutscher Justiz oder anderer staatlicher Stellen hätte
gewarnt werden können. Immer wieder hat er darüber
gesprochen und auch in seiner Biographie hinterlassen, dass er in
seinem Amt und in seiner Funktion als Generalstaatsanwalt bei
der Justiz und der Politik bei seinem Versuch, Nazis vor Gericht zu
stellen, wenig Anerkennung erfahren hat.
Nach dem 8. Mai wurde in der jungen
Bundesrepublik die Chance verspielt, durch eine ehrliche Aufarbeitung
der Ursachen der Machtergreifung des Nationalsozialismus und der 12
Jahre andauernden Gewaltherrschaft über Deutschland und
Europa, einen breiten demokratischen Konsens für einen
Neubeginn und für eine Versöhnung mit anderen
Völkern, besonders mit dem jüdischen Volk, zu finden.
Die Chance wurde auch verspielt, eine grundlegende demokratische
Neuordnung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat zu wagen. Ob die
Deutschen auch eine Chance gehabt hätten, die Teilung ihres
Landes und die Einbindung der beiden Teilstaaten in zwei sich feindlich
gegenüberstehende Militärblöcke zu
verhindern, ist fraglich. Wenn es sie gab, so wurde sie nicht
wahrgenommen.
Wir sind heute hier zusammengekommen, um zu
erinnern. Wir wollen erinnern an das Ende des mörderischen
Zweiten Weltkrieges, der von Deutschland am 1.9.1939 mit dem
Überfall auf Polen begann und am 8. Mai 1945, heute vor
siebzig Jahren, mit mehr als sechzig Millionen Toten, sein Ende fand.
Gefallen an der Front, ermordet in Konzentrationslagern, verbrannt in
Bombennächten, gestorben an Hunger, an Kälte und
Gewalt.
Und wir mahnen, wir mahnen die Menschen, die viel
zu leichtfertig damit umgehen, wenn Nazis wieder ihre Fühler
ausstrecken, Terror und Angst verbreiten, Flüchtlingsheime
anstecken und sich bewegen können, wie es ihnen gerade
Spaß macht. Und das leider viel zu oft mit juristischer Hilfe
unter dem Deckmantel der Versammlungsfreiheit.
Wir müssen uns die Frage stellen: Wie
kann siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gesichert
werden, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgeht? Und wir
müssen die Antworten dafür finden:
Es ist notwendig, weiterhin mit allen
demokratischen Mitteln den Rechtsradikalismus in Deutschland zu
bekämpfen, denn wir erleben es ja fast tagtäglich in
unserer Stadt und anderswo, wie zuletzt am 1. Mai in Weimar, was rechte
Gewalt bewirken kann.
Woche für Woche zündet der
braune Mob eine neue Eskalationsstufe seiner Naziprovokationen. Einer
kleinen Clique von Nazis gelingt es immer wieder, Dortmund und andere
Städte in den braunen Dreck zu ziehen und der Staat sieht
hilflos zu. Das muss sich ändern und zwar bald, verehrte
Zuhörer.
Die Forderungen auf diese Erscheinungen sind
relativ klar: Verbot der NPD, Verbot der Partei „Die
Rechte“ und ein staatliches Vorgehen gegen den rechten Terror
und nicht sein Decken durch Verfassungsschutzorgane, wie das so
häufig geschehen ist.
Und ein letztes - siebzig Jahre nach der
Kapitulation und der Befreiung vom Faschismus:
Wir müssen Solidarität zeigen
mit den Flüchtlingen, die jetzt zu uns kommen. Das,
was sie in ihrem Heimatland erlebten und auf sich genommen haben, um in
Freiheit in einem demokratischen Staat ohne Angst leben zu
können, mögen wir uns hier in Deutschland kaum
vorstellen. Diese Menschen müssen das Gefühl
bekommen, dass sie bei uns willkommen sind.
Viele vom Faschismus verfolgte Deutsche waren von
1933 bis 1945 ebenfalls auf der Flucht und suchten Schutz in
einem anderen Land, wo man ihnen Asyl gewährte und
ihnen Achtung und Schutz entgegenbrachte. Das dürfen wir nicht
vergessen.
Nie wieder wollen wir Faschismus in Deutschland
und in Europa. Und da gibt es auch kein Pardon. Faschismus ist eine als
Ideologie heruntergebrochene Form des Verbrechens. Und wer immer so
tut, als ob man das verniedlichen könnte, dem sage ich:
Hört auf damit!
Schon einmal hat man dem deutschen Volk
vorgeworfen, geschwiegen zu haben, wo mutige Taten und Worte notwendig
gewesen wären. Es folgte Auschwitz und Buchenwald, Dachau und
Bergen-Belsen, Sachsenhausen und Theresienstadt.
Wir erinnern an die deutsche Verantwortung
für den Frieden und an das Vermächtnis der
Nachkriegsgeneration: Nie wieder Faschismus und Krieg. Das muss unser
aller Wille sein.
Die Zeitzeugen, die Verfolgung,
Demütigung und Konzentrationslager überlebt
und uns erzählt haben, was geschehen ist und was sie
persönlich erlebt haben, gibt es bald nicht mehr.
Diese Aufgabe müssen wir, die nachfolgenden Generationen
übernehmen und weitertragen – immer wieder.
Der Zweite Weltkrieg hat seine Spuren in der
deutschen Geschichte hinterlassen und wirkt noch bis in die Gegenwart
hinein. Egal, ob Orte, Gefühle, oder Politik – das
Kriegsende vor 70 Jahren begleitet uns auch heute noch.
Der frühere Bundespräsident,
Richard von Weizäcker äußert sich in seiner
Rede am 8. Mai 1985:
„Bei uns ist eine neue Generation
herangewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich, was damals
geschah. Aber sie sind verantwortlich für das was in
der Geschichte daraus wird“.
Und die Dortmunder Antifaschistin Lore Junge hat
uns hinterlassen: „Aller Fortschritt ist das Ergebnis langer
Kämpfe. Wenn die junge Generation ohne Faschismus und Krieg
leben will, muss sie sich engagieren“.
Vor uns liegt ein weiter Weg, meine Damen
und Herren. Ich hoffe und wünsche mir, ein Weg ohne Krieg, ein
Weg des Friedens, der Toleranz und der freundschaftlichen
Verständigung unter den Menschen.
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