11.05.2015
Deutsche Remilitarisierung von 1945 bis heute
Ulrich Sander in Ossietzky
Für seine Kritik an der
Bundeswehrwerbung in der Bamberger Graf-Stauffenberg-Wirtschaftsschule
erhielt ein 17jähriger Schüler vor einigen Wochen einen
„verschärften Verweis“ wegen seiner
„politischen, zweifelhaft linksorientierten Gesinnung“.
Nach heftiger bundesweiter Empörung nahm die Schule den
verschärften Verweis zurück. Dennoch: Die Maßregelung
wirkt abschreckend und war wohl auch so gemeint. Kommt wieder eine
Welle von Sanktionen auf Antimilitaristen zu wie in den
Gründerjahren der BRD? Darüber schreibt Ulrich Sander,
Bundessprecher der VVN-BdA, unter der Überschrift „Deutsche
Remilitarisierung“ in der zweiwöchentlich erscheinenden Zeitschrift
„Ossietzky“, Nachfolgerin der „Weltbühne“,
Nr. 10/2015:
Erste Bemühungen um Deutschlands Weiterverwendung
als kriegführende antikommunistische Macht gab es bereits vor Ende
des Zweiten Weltkriegs. Am 15. April 1945 tagte im
US-Außenministerium eine Gruppe von Experten, darunter der
spätere Außenminister John F. Dulles. Es wurde
protokolliert: „Die Gruppe beschloß, … Deutschland
wieder aufzubauen und dann zu remilitarisieren. Deutschland sollte zu
einem ‚Bollwerk’ gegen Rußland gemacht werden.“
Und Winston Churchill wies noch vor dem 8. Mai 1945 seinen
Oberkommandierenden in Deutschland an, die Deutschen unter Waffen und
in Bereitschaft für den gemeinsamen Kampf gegen die Russen zu
halten.
Aber die Fortsetzung des Krieges war weder der Mehrheit
der internationalen noch der deutschen Öffentlichkeit zu
vermitteln. Die Politik der Anti-Hitler-Koalition war nicht so einfach
umzuwerfen. So kam es zum Potsdamer Abkommen und zum Urteil des
Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg mit
völkerrechtlich verbindlichen Aussagen gegen ein Wiederauferstehen
des Militarismus und Nazismus in Deutschland.
Im Jahr 1948 formulierte dann der Stab des
neugegründeten Sicherheitsrates der USA als offizielle US-Politik:
„Die Niederlage der Kräfte des von den Sowjets
angeführten Weltkommunismus ist für die Sicherheit der
Vereinigten Staaten von vitaler Bedeutung.“ In jener Zeit wurde
der deutsche Terror- und Geheimdienst „Fremde Heere Ost“
als „Organisation Gehlen“ der U.S. Army dienstbar gemacht.
1956 wurde daraus der Bundesnachrichtendienst (BND). Die
Kriegsverbrecher, die beim BND unterkamen, wurden nie bestraft.
In der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik wird der
Koreakrieg als der auslösende Faktor für die Wiederbewaffnung
hingestellt. Der Konflikt ab Juni 1950 bot den willkommenen
Anlaß, die Gefahr einer sowjetischen Aggression mit der ganzen
Manipulationsmacht der Massenmedien in den schlimmsten Farben
auszumalen. Mit Hilfe von Massenhysterie, aber auch offenen
Repressionsmaßnahmen gegen die Friedensbewegung konnte auch die
sozialdemokratische Opposition in Deutschland abgewürgt werden.
Die große Mehrheit der Bürgerinnen und
Bürger, vor allem der Jugend, lehnte den Wehrbeitrag ab. Die
Ohne-uns-Bewegung (1950 bis 1956), die Paulskirchenbewegung von 1955
und die Beschlüsse der Gewerkschaften zeugten davon. Dennoch
verhielten sich die Bundestagsparteien so, als müsse man um diese
Menschen als Wähler nicht ringen, als müsse man allenfalls
Repressionen gegen allzu beharrliche Kriegsgegner anwenden. Die
große Niederlage der SPD, die Adenauer ihr 1957 bei der
Bundestagswahl zufügte, machte es ja scheinbar auch deutlich: Eine
Antikriegsmehrheit wurde keine Bundestagsmehrheit. So kümmerte man
sich um die Vertriebenen und die ehemaligen Soldaten, um sie als
Wähler zu gewinnen. Der wehrunwilligen Jugend wurde mit dem
restriktiv umgesetzten Kriegsdienstverweigerungsrecht jahrelang eine
hohe Hürde errichtet.
Die Änderung des Grundgesetzes und die
Einführung von Wehrpflicht, Bewaffnung und NATO-Mitgliedschaft war
das vordringliche Ziel der CDU/CSU und FDP in der ersten Hälfte
der 1950er Jahre. Sie brachte noch einmal einen Aufschwung der
Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Kommunisten, Christen und
Pazifisten in der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung. Dies war vor
allem eine Aufgabe der jungen Generation. Die Jugendverbände Freie
Deutsche Jugend, Die Falken, Naturfreundejugend, Jungsozialisten und
Gewerkschaftsjugend kämpften in vorderster Reihe und oftmals
gemeinsam. Um die Bewegung zu zerschlagen, setzte Konrad Adenauer das
Verbot von FDJ und KPD durch. Der Widerstand gegen die Wiederbewaffnung
wurde dadurch entscheidend geschwächt. Über zehntausend
politische Urteile gegen Kommunistinnen und Kommunisten und andere
Mitglieder der Friedensbewegung signalisierten Abschreckung, hinzu
kamen 250.000 bis 500.000 Ermittlungsverfahren, Berufsverbote,
Entlassungen aus den Betrieben.
Die Zeit der Remilitarisierung hat die politische Kultur
der Bundesrepublik bis heute beschädigt. Das Ringen um Frieden mit
dem Osten, um die Einheit Deutschlands unter blockfreien, neutralen
Vorzeichen, der Antikapitalismus und die Ablehnung der
Wiederherstellung alter Besitz- und Machtverhältnisse waren
Straftatbestände, soweit diese Forderungen von Kommunisten und des
Kommunismus Verdächtigen erhoben wurden. Zum Teil wurden lange
Haftstrafen ausgesprochen – so in den Fällen Jupp Angenfort,
Karl Schabrod, Robert Steigerwald und Herbert Wils. Es gab keine
Haftverschonung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haft,
wenn die Häftlinge nicht ihrer Gesinnung abschworen. Philipp
Müller, ein FDJ-Mitglied, wurde bei einer Massendemonstration der
Friedensbewegung in Essen im Mai 1952 von der Polizei rücklings
– aber es war ja „Notwehr“ – erschossen.
Häftlinge wurden in den Selbstmord getrieben oder starben wie der
Bergmann Karl Jungmann nach unterlassener Hilfeleistung im Februar 1956
im Bochumer Gefängnis. Kommunistischen antifaschistischen
Widerstandskämpfern wurde die Entschädigungsrente aberkannt,
ja, sie wurden zur Rückzahlung der bereits erlangten Zahlungen
gezwungen. Martha Hadinsky aus Mülheim, Häftling unter Hitler
und unter Adenauer, nahm sich das Leben, als sie 1963 die
Rückzahlungsforderung in Händen hielt.
Mit dem Umschwenken der SPD und dem Verbot der KPD wurde
die Friedensbewegung zwangsläufig partei-unabhängiger. Sie
hatte keine Vertretung mehr im Bundestag. Ein historisches Dokument ist
der Aufruf der Atomwaffengegner zum ersten deutschen Ostermarsch von
1960, der von Hamburg und Bremen zum Raketenübungsplatz
Bergen-Hohne führte: „Schon einmal hat man dem deutschen
Volk den Vorwurf gemacht, geschwiegen zu haben, wo mutige Worte und
Taten notwendig waren. In den Konzentrationslagern … kamen
Millionen Menschen ums Leben. Bei Fortsetzung der Versuchsexplosionen
und der atomaren Aufrüstung aber drohen der gesamten Menschheit
Vernichtung.“ Später gelang ein Durchbruch an
oppositioneller Medienarbeit. Daß sich die veröffentlichte
Meinung der Friedensbewegung zuwendet, ist mitentscheidend für
ihren Erfolg. Anfang der 80er Jahre in der Mittelstreckenraketendebatte
gelang es, die Mehrheit in der öffentlichen Meinung zur Mehrheit
auch in der veröffentlichten Meinung zu machen. Heute haben wir
zum Beispiel in Sachen Auslandseinsätze wieder eine
Mehrheitsmeinung, aber sie setzt sich nicht durch, die
veröffentlichte Meinung ist entscheidend.
Hat sich der Kampf gelohnt? Kanzlerin Angela Merkel
führte zum Lobe des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts aus,
sie sei zutiefst davon überzeugt, daß es richtig ist,
„daß wir eine repräsentative Demokratie und keine
plebiszitäre Demokratie haben“, denn: „Wir können
im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik sagen,
daß all die großen Entscheidungen keine demoskopische
Mehrheit hatten, als sie gefällt wurden. Die Einführung der
sozialen Marktwirtschaft, die Wiederbewaffnung, die Ostverträge,
der NATO-Doppelbeschluß, das Festhalten an der Einheit, die
Einführung des Euro und auch die zunehmende Übernahme von
Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt – fast alle diese
Entscheidungen sind gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt.“
Merkels Äußerung macht ihr zynisches
Verhältnis zur Meinung der Bevölkerung deutlich. Demokratie?
Keine Spur. Solchen PolitikerInnen geht es letztlich nur darum, die
Macht zu erringen und ihre Politik durchzusetzen.
Opposition ist daher unerläßlich. Keine
wirkliche Veränderung im Lande ergab sich ohne Kampf – und
zwar nicht nur im Parlament. Neben den bestehenden Bewegungen muß
auch die Friedensbewegung wieder einen Aufschwung erleben. Diesen gilt
es gegen alle Widerstände durchzusetzen. Widerstände gegen
die Friedensbewegung und Kampagnen für deutsche Kriegsbeteiligung
äußern sich derzeit in einer fast gleichgerichteten
Mediendarstellung zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik.
Bedeutende Schritte zur Hochrüstung, wie die Schaffung des
Luftkampfzentrums der NATO in Kalkar/Uedem, von wo der Krieg im Osten
gesteuert werden soll, kommen in der Berichterstattung nicht vor (s.
Ossietzky 7/12). Ebenfalls ohne Darstellung in den Konzernmedien
bleiben die Vorbereitungen für den Einsatz der Bundeswehr im
Innern, die Bedrohung des Streikrechts durch sie, die Vorbereitung
hunderttausender Reservisten auf den Kampf an der
„Heimatfront“, und das Bereithalten der Notstandgesetze (s
Ossietzky 1/11).
Derzeit werden Propagandaoffensiven zur Militarisierung
besonders der Jugend gestartet. Begründet werden sie wie zu Zeiten
des Korea-Krieges, nun aber mit dem Blick auf die „russische
Aggressionspolitik“. Die Wehrpflicht ist zwar momentan
ausgesetzt, aber ein Druck bleibt: Die Bundeswehr bietet
Ausbildungsplätze an; wer nicht zugreift, bleibt auf der Strecke
– oft mit dauerhafter „Hartz 4“-Perspektive.
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