14.04.2015
Arno Klönne über das Todeslager in der Senne
Die deutsche Wehrmacht im Umgang mit Kriegsgefangenen aus der UdSSR
»Russische Untermenschen« im STALAG 326. Zu diesem Thema schrieb Prof. Dr. Arno Klönne aus Paderborn.
Die inzwischen staatsoffiziöse
Weizsäcker-Formel von der Befreiung Deutschlands im Mai 1945 kann
zu Falschdeutungen verleiten. Hat die »Volksgemeinschaft«
in ihrer großen Mehrheit sehnsüchtig die allierten Truppen
als »Befreier« erwartet? Hatten die
Militärkommandeure, die anderen Funktionsträger des
«Dritten Reiches« und die Wirtschaftsführer die
heiße Hoffnung, vom Naziregime erlöst zu werden?
Es gab sie – die Menschen, deren Lebensrettung von
der endgültigen Niederlage Hitlerdeutschlands abhing. Befreit
wurden und fühlten sich am Ende des Zweiten Weltkrieges die
Insassen von Konzentrationslagern, darunter viele Deutsche.
Befreit wurden auch Kriegsgefangene aus den überfallenen
Ländern. Die allerdings wurden zwecks unterschiedlicher Behandlung
von den Nazimachthabern sortiert.
»Der Russe« galt als
»Untermensch«, der »asiatische
Judäobolschewik« sollte ausgerottet werden.
Am 2. April 1945 befreiten vorrückende US-Einheiten
das STALAG 326 benannte Gefangenenstammlager in Stukenbrock-Senne am
Rande des Truppenübungsplatzes Senne zwischen Bielefeld und
Paderborn. Es war das größte für Gefangene aus der
Sowjetunion im Reichsgebiet. Ungefähr 300.000 Menschen haben das
Elend dort von 1941 bis 1945 »durchlaufen«; vom Lager in
der ostwestfälischen Provinz wurden sie in andere Stätten der
Quälerei und in »Arbeitskommandos« für Industrie
und Landwirtschaft »überstellt«. Diese Zwangsarbeit
von Gefangenen, für viele von ihnen nur eine Atempause vor dem
Tod, hatte das Naziregime widerwillig einrichten müssen. Es
mangelte an Arbeitskräften an der »Heimatfront«.
Lager und Umfeld
Die Verantwortung für STALAG 326 lag beim
Oberkommando der Wehrmacht (OKW), das die Vorbereitungen für diese
Nutzung schon vor dem Überfall auf die UdSSR getroffen hatte. Etwa
50.000 Insassen des Lagers in Stukenbrock-Senne wurden dort zu Tode
gebracht, für »Russen« waren die
völkerrechtlichen Regeln im Umgang mit Kriegsgefangenen
außer Geltung gesetzt. Das STALAG 326 war kein Ort der
maschinellen Vernichtung; es gab andere Methoden: Unterernährung,
menschenzerstörerische Formen der Unterbringung, dadurch
massenhaft die Ausbreitung lebensgefährdender Epidemien. Ein
Berichterstatter der US-Army schrieb nach der Befreiung, die Gefangenen
seien dort »wie Tiere in Dreck und Elend gehalten worden«.
Bei der katholischen Bevölkerung im Umfeld des
Lagers waren die Reaktionen auf die Zustände zwiespältig; die
Gestapo wusste zu melden, es rege sich »in konfessionellen
Kreisen« das Gefühl, solche Art Behandlung von Gefangenen
sei menschenunwürdig. Aber der Krieg gegen die Sowjetunion und die
»Treue zu Führer und Vaterland« hatten oberhirtlichen
Segen: Der Militärpfarrer Lorenz Jäger, seit 1941 Erzbischof
in Paderborn und Verfechter »soldatischer Tugenden«,
legitimierte den Krieg gegen die Sowjetunion als »Rettung der
Kirchen vor dem Bolschewismus« und erklärte, die
»Russen« seien »fast zu Tieren entartet«.
In den ersten Jahren nach 1945 dominierte organisiertes
Vergessen. Das hatte auch in weiten Teilen der Bevölkerung
Rückhalt. In der Region fürchteten viele, für die
Zustände im Lager könnten sie verantwortlich gemacht werden
und nicht die Wehrmachtführung. Deren Ruf wiederum, so die
westdeutsche Gedächtnisregel in Zeiten der Remilitarisierung,
sollte »rein« bleiben. Zudem war das Bild vom
»russischen Untermenschen« nicht verschwunden. Der Kalte
Krieg bahnte sich an, im Frontstaat Bundesrepublik galt die Sowjetunion
als Feind. Da lag es nahe, antisowjetische deutsche Staatsverbrechen
aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges verdeckt zu halten. Das bedeutete
auch, über die Massengräber in der Senne gar nicht erst
nachzudenken und nicht zu sprechen. Auf dem ehemaligen
Lagergelände war zunächst ein Internierungslager der
britischen Besatzungsadministration, dann ein Sozialwerk für
Vertriebene untergebracht; schließlich nutzte es die
nordrhein-westfälische Landespolizei.
Blumen für Stukenbrock
Anfang der 1960er Jahre wurde das Schweigen um STALAG
326 durchbrochen. Im Zusammenhang mit den frühen
Ostermärschen bildete sich regional der »Arbeitskreis Blumen
für Stukenbrock«, couragierte evangelische Pfarrer und linke
Kriegsgegner waren die Initiatoren.
Diese Aktivitäten riefen Empörung hervor
– nicht nur bei CDU-Matadoren in Ostwestfalen-Lippe, auch der
Verfassungsschutz geriet in Eifer. Der Arbeitskreis wurde als
»linksradikal« an den Pranger gestellt, erstens weil in ihm
Kommunisten mitwirkten, zweitens wegen seiner Neigung, Lehren aus der
Geschichte des Lagers anzumahnen. Erinnerungsdiskurse? Wenn schon nicht
ganz zu vermeiden, dann aber unter Beschweigen der
Wehrmachtsvergangenheit und ohne jeden Bezug zur gegenwärtigen
Militärpolitik – so wünschten es sich die kleinen und
großen Vertreter der politischen Klasse in der Bundesrepublik
(dieser Konflikt wird von Carsten Seichte in dem Buch »Nach der
Befreiung«, PapyRossa-Verlag 2006, beschrieben).
In den Zeiten der Entspannungspolitik unter Willy
Brandt, des »Wandels durch Annäherung«, galt es
zumindest bei sozialdemokratischen Repräsentanten des Bundeslandes
Nordrhein-Westfalen und bei Abgesandten der Bonner Regierung als
gesellschaftsfähig, den bis dahin geschmähten Arbeitskreis
wohlwollend zu behandeln. Man besuchte die von ihm jährlich um den
1. September auf dem Friedhof als Antikriegstag organisierten Gedenk-
und Mahnveranstaltungen. Auch Abgesandte der sowjetischen Botschaft in
Bonn waren dort zu treffen.
Das änderte sich durch den schrittweisen
Übergang zu einer anderen Ostpolitik nach der Auflösung des
sowjetischen Staatsverbandes. »Der Russe« wurde wieder
Feind, so wie deutsches Militär inzwischen »weltpolitische
Verantwortung« auch gegenüber dem »Ostraum« zu
übernehmen hat. Da passt es nicht, die Erinnerung an das STALAG
326 allzusehr öffentlich zu machen. Der staatsmännische
Besuch bei »Blumen für Stukenbrock« hat sich stark
reduziert, ein behördliches Interesse am Ausbau der
Gedenkstätte scheint nicht mehr vorhanden. Die Teilnehmerzahlen
zum Antikriegstag sind viel geringer geworden – dort sich zu
engagieren, widerspricht dem nun vorherrschenden deutschen
»Zeitgeist«.
Ein symptomatischer Vorgang: Gleich nach der Befreiung
des Lagers im April 1945 hatten Überlebende den in Gräbern
Verscharrten ein Denkmal gesetzt. Der Obelisk zeigte eine rote Fahne
mit Hammer und Sichel. Aber die sowjetische Fahne galt als Skandal im
Kalten Krieg. Deutsche Amtswalter tauschten das Symbol gegen ein
orthodoxes Kreuz aus, Muslime und Atheisten unter den Toten
vereinnahmend, obwohl von den Gräbern nur ein Teil als orthodox
gekennzeichnet war.
Der Arbeitskreis »Blumen für
Stukenbrock« setzte sich später dafür ein, das Denkmal
wieder in den Stand zu bringen, den die Überlebenden des Lagers
gewollt hatten; zeitweise schien es so, als wolle die Landesregierung
diesem Wunsch folgen. Inzwischen hat nach langwierigem
bürokratischen Hin und Her das christliche Symbol wieder die
Oberhand. Eine »Entweihung« des Kreuzes fände sonst
statt, erklärte der Generalsekretär der orthodoxen
Bischofskonferenz in der Bundesrepublik. Deutsche Politiker finden das
einleuchtend. (Etwas peinlich: Es handelt sich um die Kirche des
Moskauer Patriarchats, die bei anderer Gelegenheit als
»putinhörig« beschimpft wird.) Das Kreuz, meint der
regionale Landtagsabgeordnete der CDU, sei »ein Zeichen der
Versöhnung und Nächstenliebe«, ganz anders als die
aggressive rote Fahne. Vergessen hat er, dass der deutsche Krieg gegen
die »tierischen Russen« sich auch auf »Gott mit
uns« berief, auf »Christentugenden«.
Als Vermächtnis derjenigen, die das STALAG 326
nicht überlebt haben, ist auf einer Friedhofstafel in der Senne
formuliert: »Sorgt Ihr, die Ihr noch im Leben steht, dass Frieden
bleibt, Frieden zwischen den Menschen, Frieden zwischen den
Völkern.«
So erhofften es nach der Befreiung 1945 Antifaschisten
aus der Sowjetunion und aus anderen Ländern, auch aus Deutschland.
Die Geschichte in ihrer herrschenden Richtung ist, wie die
gegenwärtigen Verhältnisse zeigen, über diese Hoffnung
hinweggegangen. Ein Grund zur Resignation? Nein, zum konsequenten
Widerstand.
Eine Gelegenheit, nur eine von vielen: der Ostermarsch.
Aus: Ausgabe JUNGE WELT vom 02.04.2015, Seite 3 / Schwerpunkt
|