07.04.2015
Die Erinnerung wachhalten
– Krieg und Faschismus verhindern
Rede
von Alice Czyborra (VVN-BdA) auf dem Ostermarsch
Am Ostersamstag, 5. April
2015, hielt Alice Czyborra, Mitglied der NRW-Leitung der Vereinigung
der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten VVN-BdA, auf dem
Essener Willy-Brandt-Platz, die nachfolgende Rede vor den
Teilnehmer/innen des Ostermarsches Rhein-Ruhr. Sie vertritt auch die
Gruppe „Kinder des Widerstandes“, die in
Nordrhein-Westfalen das Andenken der Eltern und Großeltern
Widerstandskämpfer und NS-Opfer den Jüngeren
vermittelt.
Am 27. März 1936 wurde hier am
Handelshof, direkt gegenüber dem Essener Hauptbahnhof Hitler
mit einem riesigen über die ganze Fassade gespanntes
Transparent begrüßt: „Herzlich Willkommen
in der Waffenschmiede des Reiches“.
Essen gehörte wie schon im 1. Weltkrieg
zu den Rüstungsmetropolen des Reiches. Bei Krupp sowie in
anderen Rüstungskonzernen hier im Ruhrgebiet und in ganz
Deutschland liefen die Maschinen heiß für den
nächsten Krieg. Das faschistische Regime und die faschistische
Wehrmacht haben einen Raub- und Vernichtungskrieg entfesselt, den es in
seiner Dimension an Brutalität und Bestialität bis
dahin nie gegeben hat. Ganz Europa ein Inferno, die Jugend in die
Schlachtfelder getrieben, fast die gesamte jüdische
Bevölkerung Europas ausgelöscht, Verwüstung
und Vernichtung. Am Ende waren es mehr als 55 Millionen Tote.
Das in einem Trümmerfeld bombardierte
Essen wurde am 11. April durch amerikanische Truppen befreit, heute in
sechs Tagen vor 70 Jahren An diesem Tag wurde auch Alfried Krupp in der
Villa Hügel verhaftet und später im
Nürnberger Prozess als Kriegsverbrecher verurteilt.
Obwohl das Ende des faschistischen Regimes
absehbar war, wüteten noch in den letzten Tagen auch in Essen
die Gestapo und SS. Mörderisches Finale, so der Titel des
Buches von Ulrich Sander, mörderisches Finale gab es auch in
Essen:
35 Zwangsarbeiter aus Osteuropa in den letzten
Märztagen 1945 ermordet und in einem Bombentrichter auf dem
heutigen Gruga-Gelände verscharrt.
Ungarische jüdische Zwangsarbeiterinnen
in der kruppschen Rüstungsfabrik in den letzten Tagen vor der
Befreiung auf dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen geschickt.
Drei junge Deserteure am 4. April von einem
Standgericht zum Tode verurteilt und in der Nähe von Werden
erschossen.
Die Essener Jüdinnen Klara Adolph und
Julie Risse in den letzten Wochen vor der Befreiung denunziert und am
Karfreitag 1945 in der Dortmunder Bittermark zusammen mit politischen
Häftlingen und Zwangsarbeitern ermordet.
Am 8. Mai 1945 war der deutsche Faschismus durch
die alliierten Streitkräfte endgültig besiegt. Unter
ihnen hatte die Rote Armee die größte Last getragen.
Dazu beigetragen hat auch der europäische bewaffnete und
unbewaffnete Widerstand.
Es waren die Frauen und Männer der ersten
Stunde, Widerstandskämpfer, Überlebende der
Konzentrationslager und Zuchthäuser, Rückkehrer aus
der Emigration und Persönlichkeiten, die sich der Gefolgschaft
der NSDAP widersetzten. Sie wurden die von den Alliierten in
Verwaltungen der Kommunen und Länder eingesetzt. In Essen
ernannte die britische Militärregierung Heinz Renner,
Kommunist, Antifaschist, Widerstandskämpfer zum ersten
Oberbürgermeister dieser Stadt.
„Alles, was wir dachten und taten war
auf die Zukunft gerichtet, die wir gestalten wollten, und zwar so, dass
hier in unserem Land nie wieder ein Rückfall in eine solche
schreckliche Vergangenheit möglich sein
würde“, schrieb mein Vater Peter Gingold
über diese Zeit.
Wir wissen, wie schnell sich alles
änderte im Zuge des Kalten Krieges. Mehr und mehr nahmen
ehemalige hohe Funktionäre der NSDAP führende
Positionen in allen Bereichen des öffentlichen und
wirtschaftlichen Lebens erneut ein. Alfried Krupp wurde 1951 vorzeitig
entlassen und konnte sein Industrieimperium wieder ausbauen. Heute
gehört Thyssen-Krupp als U-Boot-Bauer wieder zu den Gewinnern
an Rüstungsproduktion und Waffenexporten.
Am 11. Mai 1952 demonstrierten in Essen Tausende
Jugendliche gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands. Unter ihnen viele
Jugendliche, die von der Schule weg als blutjunge Soldaten noch an die
Front geschickt wurden. Die Polizei schoss auf die Demonstranten.
Philipp Müller wurde durch die Polizei an diesem Tag
getötet. Vier Jahre später, 1956, hatte die
Bundesrepublik Deutschland wieder eine Armee, die Bundeswehr.
Nicht einmal die schlimmsten Pessimisten unter den
Widerstandskämpfern konnten sich vorstellen, dass Deutschland,
nach all dem was geschehen war, eines Tages wieder Krieg
führen würde. Der Schwur von Buchenwald
„Nie wieder Krieg – nie wieder
Faschismus“ wurde ins Gegenteil verkehrt: Mit „nie
wieder Auschwitz“ wurde der Angriffskrieg gegen Jugoslawien
1999 legitimiert. Es war der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr nach
1945. Seitdem zählen militärische
Auslandseinsätze der Bundeswehr zur Normalität. Sie
werden als humanitäre oder Friedenseinsätze durch die
Mehrheit im Bundestag gerechtfertigt. In Wirklichkeit geht es um
ähnliche Ziele wie in den beiden Weltkriegen des letzten
Jahrhunderts: Im Interesse des Kapitals die Sicherung von Ressourcen,
Transportwege, die Erweiterung der Einflusssphären, der
Märkte, heute im Bündnis mit der NATO und EU. Dazu
braucht es die weitere Militarisierung der Gesellschaft bis in die
Schulen hinein. Gauck fordert, die Kultur der Zurückhaltung
aufzugeben, mehr militärische Präsenz zu zeigen.
Totale Rüstung braucht das totale
Feindbilder, das Feindbild des Islams. Gegenwärtig wird das
alte Feindbild Russland hervorgeholt, das latent bestehende
Ressentiment wieder belebt, wenn es zum wievielten Mal zum Kreuzzug
gegen Russland gehen soll, wenn NATO und EU mit Säbelrasseln,
Panzern und Drohnen an Russlands Grenzen rücken. Unvorstellbar
welche Gefahr eines Infernos damit droht.
„Vergesst unsere Erfahrung
nicht“ erklärte mein Vater in einer Rede.
„Kämpft besser als wir um den Frieden. Mit
Friedenssehnsucht allein haben wir den Krieg nicht
verhindert.“
Schon 1952 hatte Bert Brecht geschrieben:
Das Gedächtnis der Menschheit
für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz.
Ihre Vorstellungsgabe für kommende
Leiden ist fast noch geringer.
Um wie viel mehr sind wir im 70. Jahr der
Befreiung vom Faschismus gefordert, alles zu tun, damit die
schrecklichen Erfahrungen von Faschismus und Krieg des letzten
Jahrhunderts wach gehalten, immer wieder in Erinnerung gerufen werden.
Darin liegt die besondere Bedeutung des diesjährigen
Ostermarsches und des 8. Mai 2015.
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