05.04.2015
Aus Kurt Schliwski
„Mein Leben“
Bericht
von einem Todesmarsch und von der Aufdeckung eines Kriegsendverbrechens
der Nazis im Dorf Sülstorf
Aus Kurt Schliwski (1911
– 1996) „Mein Leben“,
aufgezeichneter Bericht, dokumentiert von Regina Scheer für
DEFA (weder in der DDR noch in der BRD von DEFA
veröffentlicht; erst im Januar 2015 von der VVN-BdA Meckl.
Vorp. publiziert) Im April 1945 überlebte der KZ Insasse von
Sachsenhausen den Todesmarsch bis Schwerin.
Seine Befreiung erfolgte in der Nacht vom 2. zum
3. Mai 1945. Von Mai 1945 bis 1947 Leiter der Dienststelle
der OdF (Opfer des Faschismus) beim Rat der Stadt Schwerin.
Leistet Hilfe für ehemalige Häftlinge, Ermittlung von
Kriegsverbrechen, antifaschistische Aufklärung in Mecklenburg
mit Filmen z.B. „Prof. Mamlock“, 1947 erster
Geschäftsführer und Sekretär der VVN
Mecklenburg, Mitglied im Zentralvorstand der VVN.
Für die Tagung zu 70. Jahren nach den
Kriegsendphasenverbrechen sandte die VVN-BdA Meckl.Vorp. dem Internat.
Rombergparkkomitee den folgenden Auszug aus „Mein
Leben“ von Kurt Schliwski zum Zweck einer Lesung:
Ja, dann kamen nur noch
Aufräumungsarbeiten im Klinkerwerk im KZ Sachsenhausen, obwohl
die Nazis noch die Illusion hatten, das Klinkerwerk wieder aufzubauen.
Die glaubten noch bis zum Ende an den Sieg.
Zum Schluss waren auch noch Frauen aus
Ravensbrück nach Sachsenhausen gekommen. Aber wir waren nicht
mit ihnen zusammen. Wir blieben in unserer Fünfhundertschaft,
nur Männer.
Dann waren wir im Wald von Below, da gab es schon
250 Tote. In Below haben wir noch ein paar Stück Fleisch
bekommen und Kartoffeln. Das hat die SS in dem Ort
aufgetrieben. Ein paar Häftlinge haben das geholt. Ich habe
mit anderen Tausende Stückchen Fleisch geschnitten, in winzige
Würfel. Das wollten wir verteilen, und jeder sollte noch eine
Kartoffel kriegen. Die letzte Nahrung. Und nachts sind dann die
Kameraden herangeschlichen... Hungrige. Wir sahen bloß die
Schatten im Dunkeln. Ich sagte: ‘Knüppel. Den
ersten, der hier kommt, hauen wir auf den Kopf. Es geht um das Leben
aller, nicht um einzelne. Wer das nicht versteht, muss dran glauben.'
Wir mussten sie wegjagen wie hungrige Wölfe.
Die Führung waren dort die
SS-Männer Kolb, Rehm, Flöhn. Wobei Rehm der
Schärfste war. Der sagte: ‘Wir haben Befehl, kein
Häftling darf in Feindeshand fallen’. Ich sage:
‘Erstens sind wir noch nicht in Feindeshand, falls ihr hier
liquidiert, werden wir um unser Leben kämpfen.’ Zu
der Zeit hatte die SS auch eine Reihe von Häftlingen in
Uniformen gesteckt, die mit zu den Bewachern gehören sollte,
die wären im Ernstfall auf unsere Seite getreten. Jedenfalls
sind sie davon abgegangen, uns zu liquidieren. Viele starben ja auch
so, an Krankheiten,
Erschöpfung und Hunger. So marschierten
wir weiter. Von den Fünfhundertschaften vor uns haben wir
immer die Toten am Straßenrand gesehen. Die meisten waren
erschossen worden. Und wir haben immer zu den geschwächten
Kameraden gesagt: ‘Leute, wir müssen nun laufen,
nützt ja nischt, tragen können wir keinen. Jeder ist
ja froh, wenn er selbst noch laufen kann, bleibt im nächsten
Ort auf dem Marktplatz oder irgendwo, wo man euch sieht, bleibt dort
liegen. Wenn sie euch da erschießen, dann wird das sichtbar,
und wenn sie euch wegschleppen, wird es auch sichtbar. Ihr
müsst euch weiter schleppen'.
Jedoch Zivilbevölkerung hat man nicht
gesehen, die hat Abstand gehalten. Wir kamen wenig mit der
Bevölkerung in Berührung. Die Flugzeuge, die nachts
kamen, wussten genau, wo wir vom Lager Sachsenhausen lagen. Wir hatten
sogar Lagerfeuer. Bei uns ist nie ein Schuss gefallen. Aber 50 m, 100 m
weiter haben die Flugzeuge gefeuert, tatata ... ging das bloß
immer. Und auf der Landstraße waren Pferde und Wagen, Trecks.
Die haben sich meist in den Wald geflüchtet. Aber die Pferde
konnten nicht weg mit den Wagen. Sie waren alle zerschmettert. Ich muss
sagen, die Bevölkerung hat uns nicht beachtet. Oder
verächtliche Bemerkungen gemacht. In dem Sinne, dass viele von
ihren eigenen Leuten sterben mussten und diese Feinde, also wir, noch
am Leben sind.
Am 2. und 3. Mai lagen wir vor Schwerin,
vielleicht drei Kilometer davor. Und dort wurden wir freigegeben, unser
SS-Sturmführer, der uns angeführt hatte, war
plötzlich ganz klein, wollte sich noch rechtfertigen, er
hätte keinen getötet und was weiß ich. Er
saß da noch und unterhielt sich mit uns und sagte:
‘Ihr seid frei, es ist vorbei.’
Dann kamen wir nach Schwerin.
Da vorn stand ja schon der Ami.
Und so bin ich in Schwerin sesshaft geworden.
Jetzt war ich offiziell Landessekretär der OdF (Opfer des
Faschismus), gleichzeitig Leiter aller Komitees in ganz Mecklenburg.
Haben alles versucht, um Menschen zu retten, zu
helfen. Schon für eine tollkühne Fahrt ohne
Führerschein hätte man mich einbuchten
können oder für die gefälschten Dokumente.
In meinem Büro hing dann ein Bild von
einem Unbekannten, wollte seine Identität wissen. Alle, die
mich besuchten, alle ehemaligen Häftlinge, die da durchgingen,
fragte ich: ‘Wer kennt diesen Mann?’. Es dauerte
auch nicht lange, da bekam ich Schreiben von Kameraden,
hauptsächlich aus Westdeutschland, die alle ähnlich
lauteten: Das ist Adrian, schlagt ihn tot! So ungefähr 250
Briefe. Aus diesen ging hervor, es war Adrian, der Henker von
Sonnenburg.
Mit den 250 Briefen bin ich zum Staatsanwalt
Enskat gegangen. Daraufhin wurden Ermittlungen eingeleitet und es fand
ein Prozess statt, im größten Saal von Schwerin.
Zudem wurden alle diese Zeugen eingeladen, aus allen Gegenden von
Deutschland. Drei Tage lang dauerte der Prozess. Da habe ich erst
richtig erfahren, was für ein Scheusal in Menschengestalt
dieser Adrian war. Der hat in Sonnenburg Menschen an die
Hundehütte gekettet, hatte in den Napf gespuckt, und der
Häftling musste das alles auslecken. Adrian hat Menschen
schikaniert und drangsaliert bis zum Tod. Er hatte im Prozess zwei
Rechtsanwälte, beide haben in ihrer Verteidigung
gesagt, bei solchem Scheusal weiß man nicht, wie man ihn
verteidigen soll, denn er zeigte keine Reue.
Es muss ebenfalls im Laufe des Jahres
‘46 gewesen sein, da kam mir ein Gerücht zu Ohren,
das mich aufhorchen ließ. Ich sagte: ‘Besorgt mir
diesen Menschen, der soll zu mir kommen.’ Er kam dann auch.
Er erzählte, was er im Lokal gehört hat: Dass kurz
vor dem Zusammenbruch des Faschismus, im April 1945, in
Sülstorf ein Zug mit Waggons gestanden hat, drei Tage und drei
Nächte und dass in diesem Zug Häftlinge gewesen sind.
Die Waggons waren vollgepfropft mit Häftlingen. Nachts hat es
dort Schreie gegeben, im Ort sollen sie gehört worden sein,
Schüsse sollen auch gefallen sein. Und dass eine Frau,
angeblich eine Frau Doktor, eine jüdische Ärztin im
Dorf gewesen sei, beim Bürgermeister, und gebeten habe um
Milch, da ein Säugling, also ein Mensch geboren worden sei in
den Waggons, und sie wolle diesem Säugling helfen. Und dass
sie um Essen gebeten hat, damit diese Menschen am Leben bleiben. Und
dann sei dieser Zug weitergefahren nach ca. drei Tagen, die Richtung
kennt keiner. Daraufhin bin ich zu diesem Ort gegangen,
Sülstorf, ungefähr 15 Kilometer bei Schwerin, habe
die ehemaligen Leute aus der Verwaltung aufgesucht. Die habe ich auch
noch gefunden, auch noch den ehemaligen Bürgermeister der
Nazis, und habe ihn gefragt: ‘Was war hier los? Warum haben
Sie das nicht gemeldet? Was haben sie zu verbergen?' Er sollte mir das
alles haargenau erzählen. Wenn er das nicht will, sagte ich
ihm, werde ich sofort zur sowjetischen Kommandantur gehen, dann wird er
vielleicht dort etwas erzählen. Aber vielleicht sei es
für ihn besser, er erzählte mir das. Dann
bestätigte er das, was ich eigentlich schon gehört
hatte. Viel mehr nicht. Er sollte mir sagen, ob er sonst etwas
Besonderes wisse - nichts. Da sagte ich ihm, es seien doch
Schüsse gehört worden, es müssten doch
Massengräber oder irgendwas hier sein. Es kann sein, sagte er,
aber er wisse nicht, wo, er sei nicht dabei gewesen.
Die Eisenbahn lag tatsächlich etwas
abseits vom Dorf. Ich habe dann diese Leute genommen und sagte:
‘So, kommt mit Schippe und Spaten, kommt alle mit. Und jetzt
grabt hier, und jetzt grabt da.’ Ich habe dann auch selbst
gegraben, versucht, eine Stelle mit Gräbern zu finden. Wenn
geschossen wurde, müssen da auch Tote sein. Ich habe alles
abgesucht, ob ich eine weiche Stelle finde, an der vor nicht langer
Zeit gegraben wurde. Nichts zu finden. Zu Hause habe ich nachts
gegrübelt: Was kann da wahr sein? Wo ist der Zug geblieben?
Aber das konnte ich ja nicht feststellen. Immer wieder bin ich dort
hingefahren, habe die Lage in Augenschein genommen. Etwa 50 Meter neben
den Schienen sah ich einen großen Haufen zusammengetragener
Flugzeugtrümmer, ein Riesenberg, ein Schrottberg. Eines Nachts
dachte ich plötzlich: Vielleicht hat man bewusst diesen
Schrott auf die Gräber geschmissen, damit man sie nicht
findet? Ich wieder raus, wieder die Leute zusammengetrieben und sagte:
‘Den ganzen Schrottberg schafft ihr weg.’ Dann
mussten die die ganzen Flugzeugteile wegtragen. Und unter diesen
Trümmern habe ich drei Massengräber
gefunden. Die mussten sie ausbuddeln. Und dann lagen da unten
- wie Heringe nebeneinander gelegt - 153 Menschen, Frauen.
Die kamen aus einem Lager, das im letzten Moment
von der anderen Seite der Elbe in Magdeburg noch über die
Brücke geschleust wurde. Dann haben sie die Brücke
gesprengt. Die wollten wahrscheinlich auch zur Ostsee. Das war so die
übliche Methode, die Menschen loszuwerden, ins Meer zu
versenken. Und so sind sie in Schwerin gelandet, da hat der Zug
gehalten. Das Grab war furchtbar. Es waren noch nicht Skelette, es war
noch nicht alles weg, es waren Skelette mit verwestem Fleisch. Und
vielen war der Rock über den Kopf zusammengebunden,
zusammengeknotet über den Kopf. So wurden sie rein
geschmissen. Alles Frauen. …
Die Leute in Sülstorf haben alle nichts
gewusst. Angeblich nichts gewusst. Die haben sich alle mitschuldig
gefühlt und geschwiegen. Der sowjetische Kommandant, als ich
ihm das alles berichtete und zeigte, hatte die Absicht, das ganze Dorf
zu liquidieren. Er hatte selbst seine Familie verloren und war
besinnungslos vor Wut. ‘Ich werde die alle zusammentreiben,
das ganze Dorf in Schutt und Asche legen, diese Menschen werde ich alle
liquidieren, die sind nicht wert, weiterzuleben’ Er wollte
sie alle umlegen. Irgendwie ist es mir gelungen, ihn davon abzuhalten.
Das würde gar nicht für uns sprechen, wenn wir das
machen würden. Ich weiß nicht, was die sowjetische
Kommandantur dann mit den Verantwortlichen aus dem Dorf gemacht hat, ob
sie sie eingesperrt hat. Ich habe auch nie erfahren, wo der Zug weiter
verblieben ist, wo die letzte Station aller ist, die in dem Zug noch
lebend weitergefahren sind, wo überall Massengräber
sind, wo sie überall gehalten haben. Das Ende des Zuges ist
mir bis heute unbekannt geblieben.
Ich kann nur sagen: Die Menschen sind vom
Faschismus doch im Großen und Ganzen in ihre Machenschaften
einbezogen worden, in irgendeiner Weise. Bis auf die ganz handfesten
Gegner. Das war ja auch im Sinn des Faschismus, alle irgendwie
mitschuldig zu machen. Und wenn sie schweigen, ist das schon Mitschuld.
Mitmachen und Hurra rufen, ist ja schon Mitschuld. Auch wenn man selbst
nicht an irgendwelchen Verbrechen beteiligt war.
Man kann sagen, in Mecklenburg gibt es viele
solcher Gräber. Ich erinnere mich an einen Vorfall, da
pflügte der Bauer seinen Acker und brachte eine Leiche zum
Vorschein. Das war auch ‘46. Weil das so steinig war, ist der
Bauer gar nicht weit gekommen, der Tote lag nur 50 cm unter der Erde.
In dem Ort habe ich dann eine Feier gemacht, alle Schulen haben daran
teilgenommen.
Man konnte es nicht mehr feststellen, auf jeden
Fall war es ein erschossener Häftling aus dem KZ
Sachsenhausen, der - wie ich vermute - um Wasser gebettelt hat oder
sich selbständig gemacht hatte aus dem Todesmarsch heraus. Und
der Bauer wird dem Häftling kein Wasser gegeben, sondern ihn
erschossen und auf den Acker gefahren und da eingebuddelt haben. Das
war nicht mehr zu ermitteln, viele Bauern sind getürmt.
Ich war ja noch jung, aber hatte zehn Jahre
Zuchthaus und KZ hinter mir, doch da war keine Zeit zum Ausruhen. Ich
habe auch die Beerdigung unserer Toten organisiert, die aus Hagenow,
aus Wöbbelin und von den Straßenrändern und
von überallher nach Schwerin gebracht wurden. Auf den
Ehrenfriedhof habe ich die große Rede gehalten, am Ehrenmal,
wo wir alle beerdigt haben. Später ist da ein Denkmal
hingekommen in Schwerin.
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