23.01.2015
Noch einmal: Die Russen und
wir
Zweiter
Rudolf Herrnstadt-Artikel wiedergefunden
Die Russen und wir - Zur
Halbzeit einige Fragen zum »Russlandjahr in
Deutschland«, so war eine Artikel vom 5. Februar 2013 von
Harald Kretzschmar überschrieben, der in der Zeitung Neues
Deutschland (Berlin) stand. Er behandelt einen weiteren Artikel von
Rudolf Herrnstadt zum Verhältnis der Deutschen zu den Russen,
der am 2. Juli 1949 erschien. Auf den ersten Artikel vom 19. November
1948 weisen wir unter http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/1380_herrnstadt.htm
hin.
Beide Artikel galten als verschollen. Wir danken
der Redaktion Neues Deutschland, die uns bei der Suche half. Wer beide
Artikel lesen möchte, wende sich an redaktion@nd-online.de.
Die Russen und wir
Zur Halbzeit einige Fragen zum
»Russlandjahr in Deutschland«
Die älteren Semester haben gewiss noch
eine Erinnerung an einen Paukenschlag am Vorabend der Gründung
beider deutscher Staaten. Rudolf Herrnstadt publizierte am 2. Juli 1949
in dieser Zeitung einen Text, der schon mit dem Titel
überraschte: »Über ›die
Russen‹ und über uns«. Obwohl der
schlesisch-jüdische Publizist und SED-Funktionär zu
dem Zeitpunkt noch Chefredakteur der 1945 von ihm gegründeten
»Berliner Zeitung« war, füllte sein
Artikel an jenem Tag eine ganze Seite in dem von ihm dann 1949 bis 1953
geleiteten »Neuen Deutschland«. Herrnstadt griff
auf ein Referat zurück, das er - seit seinem Exil in Moskau
und Tätigkeit im Nationalkomitee Freies Deutschland mit der
»russischen Seele« bestens vertrauter Kommunist -
am 1948 auf der 2. Jahrestagung der Gesellschaft zum Studium der Kultur
der Sowjetunion gehalten hatte (der späteren Gesellschaft
für deutsch-sowjetische Freundschaft, DSF).
Bemerkenswert sind die erfrischenden Antworten,
die der geübte Rhetoriker auf vier damals brisante Fragen
gibt. Er packt das seinerzeit - im unter alliierter Besatzungskontrolle
stehenden Deutschland - heiße Eisen des »Rechtes
der freien Rede« an. Dann ironisiert er die Angst vor der
Besatzungsmacht aus dem Osten, vor von dort drohendem Krieg als
»Russenpsychose«. Unverblümt kommt er auf
den von ihm im beiderseitigen Interesse für möglich
gehaltenen Abzug aller Besatzungstruppen zu sprechen. Und am Ende nimmt
er schließlich explizit die aus der Sozialdemokratie
gekommenen SED-Genossen gegenüber der Herrschsucht seiner
kommunistischen Genossen in Schutz. Hierfür ruft er sogar die
sowjetische Generalität als Zeugen an. Vier wunde Punkte, die
reichlich Stoff zur Auseinandersetzung boten. Nach dem 17. Juni 1953
sollte Herrnstadt über solch undogmatisches Denken stolpern.
Sieben Jahrzehnte nach der Schlacht um Stalingrad,
der Anfang vom Ende deutsch-faschistischen Eroberungs- und
Vernichtungswahns, steht die Frage wieder: Wie stehen wir zu den
Russen? Legt man den Fragekatalog Herrnstadts zu Grunde, so ist erstens
zu bejahen: Freie Rede ist garantiert. Und zwar bis zum
Überdruss. Deutsche Politiker gefallen sich darin, Belehrungen
an die Adresse Moskaus abzugeben, ganz ungeniert Menschenrechte im
weiten Russland einzuklagen, statt sich zuvörderst um die
Einhaltung der UNO-Menschenrechtskonvention im eigenen Land zu
kümmern, um das Recht auf Arbeit, auf bezahlbaren Wohnraum,
Bildung für alle und eine Kindheit frei von Armut und Hartz-IV.
Zweitens: Kriegsangst? Die tangiert heutige
Deutsche nicht oder nur minimal. Kriege werden weitab geführt,
in fernen Ländern. Betroffen sind »nur«
die Angehörigen der in Auslandseinsätze geschickten
Bundeswehrsoldaten. Deutschland darf und will wieder Krieg spielen.
Einen kollektiven Aufschrei erzeugt dies nicht.
Drittens: Besatzungstruppen? Die alliierten
Streitkräfte sind von deutschem Boden Anfang der 90er Jahre
abgezogen, bis auf einige Einheiten der US-Army. Dass deren
Stützpunkte in der Bundesrepublik illegalen Machenschaften im
»Krieg gegen den Terrorismus« dienen - wen schert's?
Viertens: Die Sozialdemokraten gelten als Opfer
einer »Zwangsvereinigung« 1946 in der sowjetischen
Besatzungszone. Als Zeuge dafür wird auch mal ein russischer
General angerufen. In den meinungsführenden Medien kein Wort
darüber, dass Zehntausende von Sozialdemokraten als Lehre des
30. Januar 1933 Arbeitereinheit schworen, freiwillig und bewusst sich
mit den Kommunisten zur SED vereinten. So weit, so problematisch. Aber
wie stehen wir nun zu »den Russen« heute?
Da ist erst mal zu fragen, was das
Wörtchen »wir« meint? Wer in der DDR
sozialisiert wurde, hat mit und neben der russischen Sprache russische
Mentalität sowie Geschicke und Geschichte kennengelernt. Weder
geduckt, noch geknechtet, noch »russifiziert« waren
jene Bürger der DDR, die sich mit dem Land und den Leuten
verbunden fühlten, denen auch die Deutschen 1945 ihre
Befreiung verdankten. Und doch wird deren aufrichtiges Gefühl,
deren ernst gemeinte Freundschaft bei jeder unpassenden Gelegenheit
beschmutzt und denunziert. Manche meinen gar, Ostdeutsche
hätten dauerhaften Schaden in all den Jahren unter
»den Russen« davongetragen. Sie haben keine Ahnung
davon, wie persönliche Begegnungen und Bekanntschaften, die
vielfältigen literarischen und filmischen Erlebnissen dank
»der Russen« geistige Horizonte erweiterten und
bildeten. Sie halfen, fürchterlichen Krieg und karge
Nachkriegsjahre zu verarbeiten und primitive
»Russenphobie« zu überwinden. Ostdeutschen
waren und sind (zumindest den älteren) »die
Russen« nicht mehr fremd.
In Westdeutschland hingegen konservierten
Westintegration, Antikommunismus und Kalter Krieg Angstvisionen und
»Russenphobie«. Der Kalte Krieg ist vorbei,
heißt es. Alles gut?
»Menschen - Jahre - Leben«
betrachtete einst kritisch-rückblickend der sowjetische
Schriftsteller Ilja Ehrenburg. Wer tut das heute? Es
überwiegen in der Geschichtsvermittlung verbale Stanzen und
Feindbilder oder zumindest Misstrauen aus der Zeit des Kalten Krieges.
Vom gemeinhin grassierenden »Aufarbeitungseifer«
ist in diesem Bezug nichts zu spüren. Eine nennenswerte
Kulturszene, die Bücher, Filme, Theaterstücke oder
neue Kunstwerke aus Russland präsentiert und reflektiert, gibt
es in der Bundesrepublik nicht. Es gilt immer noch, was der
Osteuropa-Experte Karl Schlögel schon 1986 in seinem Buch
»Die Mitte liegt ostwärts« erkannte:
»Am Ostblock interessiert nur, was zum Drama oder zur
Sensation wird. Danach fällt der Raum, der für einen
Augenblick wie von einem Blitzlicht ausgeleuchtet wird, wieder ins
Dunkel zurück.«
Durch deutsche Medien geistern
»arme«, vom Autokraten Putin verfolgte
millionenschwere Oligarchen. Der Alltag des russischen Volkes
interessiert nicht. Munter wird die Zarenherrschaft idealisiert, deren
letzte Protagonisten ein »blutrünstiger«
Lenin 1918 ermorden ließ. Russland erscheint im deutschen
Blätterwald nur, wenn die dortige radikale Opposition
spektakuläre Aktionen unternimmt wie der dreiminütige
justiziable Auftritt dreier junger Damen namens »Pussy
Riot«.
Das für 2012/13 ausgerufene
»Russlandjahr in Deutschland«, zu dem es das
Pendant »Deutschlandjahr in Russland« gibt, hat
seine Halbzeit überschritten. Dresden zeigt
»Schätze des Kreml«. Das ist
schön. Politische Tretminen sind da nicht zu
befürchten. Erstaunlich war, wie solche in der
großen Ausstellung in Berlin »Russen und Deutsche.
1000 Jahre Kunst, Geschichte, Kultur«, die vor Kurzem ihre
Pforten schloss, umgangen wurden. Da erfuhr man beispielsweise, dass
der deutsche Kaiser Wilhelm am 31. Juli 1914, am Tag vor Beginn des
Ersten Weltkrieges, seinem russischen Vetter Zar Nikolai die
flehentliche Bitte sandte, nicht an der Seite der Entente gegen
Deutschland anzutreten. Der am 22. Juni 1941 begonnene deutsche
Ausrottungsfeldzug auf russischer Erde fand sich weder in Texten noch
Dokumenten oder gegenständlichen Exponaten wider. Vier
überdimensionierte, idyllische Landschaftsfotos, die nicht
ahnen ließen, dass es sich hier um einst blutige
Schlachtfelder handelt, ist alles, was den Kuratoren zum Thema
»Die Russen und wir« in den Jahren 1941 bis 1945
einfiel. Mehr als mager. Das ambivalente, zweigeteilte
Nachkriegsverhältnis der Russen und Deutschen wurde hier
gleichwohl nicht diskutiert. Man begnügte sich damit, in
Endlosschleife filmische Berichte über Kriegsheimkehrer und
Staatsbesuche abzuspulen. Eine Chance ist vertan worden.
Was wird die zweite Halbzeit bieten? Nur Konzerte
und Ballett? Dann bleibt sie weiterhin offen - die »Russische
Frage«. So hieß übrigens ein
Theaterstück von Konstantin Simonow. Doch wer kennt ihn heute
noch hierzulande?
Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/811939.die-russen-und-wir.html
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